Sonntag, 3. Juli 2022

Religiosität und Rechtspopulismus

In diesem Beitrag stellt Mirjam Lehmann folgenden Aufsatz vor:

Steinmann, Jan-Philip (2022): (K)eine immunisierende Wirkung? Eine binnendifferenzierte Analyse zum Zusammenhang zwischen christlicher Religiosität und der Wahl rechtspopulistischer Parteien; in: Köln Z Soziol 74 (1), S. 33–64. DOI: 10.1007/s11577-022-00820-z.

Der Beitrag von Jan-Philip Steinmann hinterfragt die Immunisierungshypothese, die lautet, dass Religiosität eine immunisierende Funktion für die Wahl rechtspopulistischer Parteien hat. Steinmann geht von der binnendifferenzierten Perspektive aus, die besagt, dass die Konfliktline zwischen Menschen verläuft, die entweder jeder Religionslehre (inklusiver Religionsanspruch) oder nur der eigenen (exklusiver Religionsanspruch) einen Wahrheitsanspruch zuschreiben. Die Wahrscheinlichkeit, eine rechtspopulistische Partei zu wählen, ist bei christlichen Wähler*innen mit exklusivem Religionsanspruch doppelt so hoch als bei solchen mit inklusivem Religionsanspruch (vgl. Steinmann 2022, S. 35–36).

Die christliche Religiosität spielt in der Forschung seit langem eine Rolle. Ihr kommt allerdings eine paradoxe Rolle zu, denn sie enthält integrative Elemente für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und desintegrative Elemente (vgl. S. 37). Oftmals schreibt man Religiosität eine immunisierende Wirkung in Bezug auf das Wählen rechtspopulistischer Parteien in Deutschland zu. Steinmann erklärt das damit, dass man sich bei der Forschung auf verbreitete Dimensionen von Religiosität, wie zum Beispiel Partizipation und Glaube, fokussiert.

Dennoch gibt es Hinweise darauf, dass Religiosität auch eine katalysierende Wirkung haben kann. So zeigen Forschungsarbeiten, dass Christ*innen, die nicht den zwei Hauptströmungen des Christentums angehören, mit höherer Wahrscheinlichkeit AfD wählen. Steinmann fordert deshalb, den Religionsanspruch von Christ*innen als eigenständige Dimension von Religiosität anzuerkennen, die Wahlentscheidungen in Bezug auf rechtspopulistische Parteien beeinflussen kann (vgl. S. 38).

Um die Beziehung zwischen einem exklusiven oder inklusiven Religionsanspruch und Rechtspopulismus zu begründen, greift Steinmann eine Studie zu weißen Evangelikalen in den USA auf. In dieser wird die weit überproportional häufige Wahl Donald Trumps im Jahr 2016 erklärt. Steinmann vermutet, dass Christ*innen mit exklusivem Religionsanspruch eher ausgeprägte rechtspopulistische Positionen einnehmen, da sie eine Bedrohung der gesellschaftlichen Ordnung wahrnehmen (vgl. S. 39).

Um die verstärke Wahl rechtspopulistischer Parteien durch Christ*innen mit exklusivem Religionsanspruch begründen zu können, geht Steinmann auf die Mobilisierungsargumente rechtspopulistischer Parteien ein. Dabei handelt es sich um Kritik von rechtspopulistischen Parteien an der Veränderung von Einwanderungs-, Geschlechter- und Familienverhältnissen (vgl. S. 40). Es lässt sich feststellen, dass die Mobilisierungsargumente bei einem exklusiven Religionsanspruch als Antwort auf die wahrgenommene Bedrohung durch den sozialen und kulturellen Wandel dienen (vgl. S. 41).

Anschließend geht Steinmann auf einen Theorieansatz ein, der sich mit den Wechselwirkungen zwischen religiösen und politischen Weltanschauungen auseinandersetzt. Demnach sind der exklusive Religionsanspruch und rechtspopulistische Positionen über die Nomisierungsfunktion verbunden (vgl. S. 54). Denn eine bedeutende Funktion von Religion in Gesellschaften ist das Bereitstellen einer stabilen und übergeordneten Sinnordnung (Nomos). Der Bedarf nach einfachen Interpretationen des gesellschaftlichen Wandels steigt mit dem subjektiven Bedrohungsgefühl von Christ*innen mit exklusivem Religionsanspruch. Die religiösen und politischen Weltanschauungen zu verbinden, kann letztlich der Kontingenzbewältigung dienen. Das Einnehmen rechtspopulistischer Positionen ist somit eine Bewältigungsstrategie (vgl. S. 42).

Schließlich wurde die Theorie sozialer Identität miteinbezogen. Diese besagt, dass das Wählen rechtspopulistischer Parteien der Aufwertung der Eigengruppe und ihrer religiösen Sinnordnung hilft. Zudem wird die Fremdgruppe, die dieser Weltanschauung widerspricht, dadurch abgewertet. Diese Abwertung verläuft über die Wahlentscheidung und dient der Bewahrung der eigenen sozialen Identität und der Stärkung des Selbstwertgefühls (vgl. S. 43).

Steinmann formuliert zwei Hypothesen, die er im weiteren Verlauf empirisch untersucht. Die erste Hypothese lautet: „Christliche Wähler mit einem exklusiven Religionsanspruch wählen häufiger rechtspopulistische Parteien als diejenigen mit einem inklusiven Religionsanspruch“ (S. 43). Die zweite Hypothese lautet: „Der Zusammenhang von Religionsanspruch und der Wahl rechtspopulistischer Parteien lässt sich durch die stärkere Affinität zu rechtspopulistischen Positionen von Christ*innen mit einem exklusiven Religionsanspruch im Unterschied zur Vergleichsgruppe mit inklusivem Religionsanspruch erklären“ (S. 43). Daten, Operationalisierung und Methoden werden genau beschrieben. Allerdings muss angemerkt werden, dass ein Einbezug des Religionsanspruchs nur bedingt möglich ist und deshalb auf die Konfessionszugehörigkeit der Befragten zurückgegriffen wird (vgl. S. 43–45).

Die empirischen Befunde zeigen, dass Christ*innen mit inklusivem Religionsanspruch deutlich seltener rechtspopulistische Parteien wählen als die Vergleichsgruppe mit exklusivem Religionsanspruch. Die religiöse Partizipation ist bei einem exklusiven Religionsanspruchs erheblich höher als bei der Vergleichsgruppe. Auch der religiöse Glaube ist für Christ*innen mit einem exklusiven Religionsanspruch ausgeprägter (vgl. S. 46–48). Zudem sind die rechtspopulistischen Positionen der Befragten mit exklusivem Religionsanspruch viel stärker als die der Vergleichsgruppe.

Auffallend sind die Differenzen im Hinblick auf Einstellungen zu traditionellen Geschlechterrollen und Homosexualität. Weiterhin geht Steinmann auf multivariante Ergebnisse ein, die die erste von ihm aufgestellte Hypothese zum Zusammenhang von Religionsanspruch und der Wahl rechtspopulistischer Parteien bestätigen (vgl. S. 48). Es zeigt sich, dass nativistische und heterophobe Wähler*innen eher dazu neigen, rechtspopulistische Parteien zu wählen. Ein exklusiver Religionsanspruch bringt diese Positionen eher mit sich (vgl. S. 52).

Mit den empirischen Befunden lässt sich auch die zweite Hypothese Steinmanns zur vermittelnden Funktion rechtspopulistischer Positionen zwischen dem Religionsanspruch und der Wahl rechtspopulistischer Parteien bestätigen. Außerdem können die theoretischen Annahmen mit einer Ausnahme empirisch belegt werden. Der Zusammenhang von Religionsanspruch und der Wahl rechtspopulistischer Parteien kann mit den homonegativen Einstellungen und traditionellen Geschlechterrolleneinstellungen erklärt werden. Die einwanderungskritische Einstellung spielt keine große Rolle, was sich möglicherweise damit erklären lässt, dass muslimkritische Einstellungen ausschlaggebend sind.

Insgesamt lässt sich feststellen, dass sich Christ*innen mit exklusivem und inklusivem Religionsanspruch in ihren rechtspopulistischen Positionen unterscheiden. Die Differenzen erklären die unterschiedliche Wahlhäufigkeit rechtspopulistischer Parteien von Christ*innen mit inklusivem und exklusivem Religionsanspruch (vgl. S. 53–54). Die Ergebnisse zeigen, dass christliche Wähler*innen mit exklusivem Religionsanspruch rechtspopulistischen Parteien deutlich häufiger ihre Stimme geben. Allerdings muss berücksichtigt werden, dass nur eine kleine Gruppe an Christ*innen einen exklusiven Religionsanspruch vertritt (vgl. S. 54).

Steinmann kommt zu dem Ergebnis, dass in Zukunft stärker auf den Konflikt zwischen Menschen mit inklusivem und exklusivem Religionsanspruch eingegangen werden sollte und es mehr Forschung in diesem Bereich bedarf. Die Konfessionszugehörigkeit der Befragten ist zum Beispiel nur begrenzt dazu geeignet, ihren Religionsanspruch darzustellen. Dennoch zeigen die Ergebnisse, dass Konfessionszugehörigkeit mit der Wahl rechtspopulistischer Parteien verknüpft ist.

Es bleibt zudem offen, welche Parteien von den befragten Christ*innen gewählt werden, die keiner rechtspopulistischen Partei ihre Stimme geben. Zudem müssen die angenommenen erklärenden Mechanismen gründlicher empirisch überprüft werden (vgl. S. 55). Für den deutschen Kontext lässt sich annehmen, dass Religiosität verstanden als Religionsanspruch, wenn sie inklusiv ist, eine immunisierende, und wenn sie exklusiv ist, eine katalysierende Wirkung in Bezug auf die Wahl rechtspopulistischer Parteien haben kann (vgl. S. 56).

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