Dienstag, 2. April 2024

Populismus: eine „dünne Ideologie“

An unterschiedlichen Stellen hier im Blog wurde bereits auf eine Definition von Populismus zurückgegriffen, die ihn als eine „dünne“ (oder alternativ auch „thin-centered“) Ideologie bezeichnet. Beispiele für diese Stellen sind diese, diese, diese und diese. Bereits 2017 wurde im Rahmen einer Buchvorstellung auf den Populismus als „dünne Ideologie" verwiesen. Dieser Beitrag will sich zum einen der Genese des Begriffes „dünne Ideologie“ und zum anderen der Populismus-Definition von Cas Mudde, auf die im Blog zuweilen rekurriert wird, widmen.

Der Begriff der „dünnen Ideologie“ geht auf Michael Freeden zurück, der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Untersuchung, ob Nationalismus eine eigenständige Ideologie ist, am Mansfield College an der Universität Oxford forschte und lehrte. Freeden beschrieb den Nationalismus 1998 in einem Beitrag des Journals „Political Studies“ als eine dünne („thin-centered“) Ideologie. Er definierte „dünne Ideologie“ als eine Ideologie, die sich willkürlich von breiteren ideellen Zusammenhängen abkoppelt, indem sie bewusst Konzepte entfernt und ersetzt. Die Folge sei eine strukturelle Unfähigkeit zu komplexen Argumentationsketten (vgl. Freeden 1998, S. 750).

Im Gegensatz zu dünnen Ideologien hätten eigenständige („distinct“) Ideologien einen einzigartigen Kern und auch die übernommenen Muster seien einzigartig. Vollständige („full“) Ideologien gäben eine recht breite, wenn nicht gar umfassende Palette von Antworten auf die politischen Fragen, die Gesellschaften aufwerfen (vgl. ebd.). Umfassende („comprehensive“) Ideologien böten Lösungen für Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der Ressourcenverteilung und der Konfliktbewältigung (vgl. ebd., S.751).

Der Nationalismus erfülle die Kriterien einer umfassenden Ideologie nicht und oszilliere zwischen einer eigenständigen dünnen Ideologie und einem Bestandteil einer bereits bestehenden Ideologie (vgl. ebd.). Er erscheine als plastisches Gebilde, in dem sich die noch größere Komplexität seines Wirts („host containers“) widerspiegele. Wenn er gelegentlich versuche, für sich alleine zu stehen, komme seine ideelle Schwäche zum Vorschein (vgl. ebd., S.765).

Taggart (2000) schreibt dem Populismus ein „leeres Herz“ zu: er habe – im Gegensatz zu manch anderen Ideologien – keine Bindung an Leitwerte. Damit erklärt er, weshalb Populismus häufig als Adjektiv an andere Ideologien angehängt ist: die anderen Ideologien füllen den Raum im leeren Herzen des Populismus (S. 4).

Fieschi (2004) führte diese beiden Überlegungen Taggarts und Freedens zusammen (S. 238). Die Unfähigkeit des Populismus, alleine (also außerhalb eines ideologischen Wirtskörpers) zu stehen, führe zu dessen selbstbegrenzender Natur. Dies sei mit der Dünn-Zentriertheit des Nationalismus vergleichbar, die Freeden (1998) als Wesensmerkmal des Nationalismus erkannte. Deshalb betrachtet Fieschi (2004) den Populismus als „politischen Parasiten“ (S.236). Die selbstbegrenzende Natur des Populismus (Taggart 2000, S. 118) könne sogar das markanteste Merkmal des Populismus sein (Fieschi 2004, S. 238), und er ist dabei diffus und offen zugleich: diffus, weil er keinen programmatischen Kern hat, und offen, weil er mit anderen umfangreicheren Ideologien zusammenleben kann (vgl. Stanley 2008, S. 99f).

Die „chamäleonhafte Erscheinungsform“ (Priester 2012, S. 36) des Populismus, die Tatsache, „dass er Verbindungen mit verschiedenen, teilweise gegenläufigen politischen Inhalten eingehen könne“ (Decker 2000, S. 38) führt zu grundlegenden Überlegungen darüber, ob der Populismus überhaupt eine Ideologie ist oder ob er dafür zu schwach ist. So wird der Populismus unter anderem als „etwas einer Ideologie Vorgelagertes“ (Priester 2012, S. 40) und als Denkstil bzw. Mentalität verstanden (vgl. ebd., S. 41).

Mudde (2004) gesteht dem Populismus nicht „das gleiche Maß an intellektueller Raffinesse und Konsistenz wie beispielsweise de[m] Sozialismus oder de[m] Liberalismus“ (S. 178) zu. Er sei „nur eine dünne Ideologie, die einen begrenzten Kern aufweist, der mit einem engeren Spektrum politischer Konzepte verbunden ist“ (ebd.). Der dünne Populismus könne „leicht mit sehr unterschiedlichen (dünnen und komplexeren) anderen Ideologien […] [wie] Kommunismus, Ökologismus, Nationalismus oder Sozialismus [kombiniert werden]“ (ebd.).

Später definiert er Populismus als „dünne Ideologie, nach der die Gesellschaft letztlich in zwei homogene antagonistische Lager gespalten ist, „das anständige Volk“ und die „korrupte Elite“, und Politik ein Ausdruck der volonté générale (Gemeinwillen) des Volkes sein sollte“ (Mudde/Kaltwasser 2019, S. 25). Dieser „ideenorientierte[…] Ansatz“ ist dabei „nur eine[r] von zahlreichen Zugängen zum Populismus“ (ebd., S. 21).

Die Verwendung des ideenorientierten Ansatzes bringe dabei folgende Vorteile: seine Durchlässigkeit werde erklärbar (ebd., S. 43); er könne erklären, weshalb unterschiedliche politische Akteure mit dem Populismus in Verbindung gebracht werden (ebd., S. 44); er könne sein wechselhaftes und komplexes Verhältnis (je nach Stadium der Demokratisierung) zur Demokratie erklären (ebd.) und er berücksichtige sowohl die Angebots- als auch die Nachfrageseite der populistischen Politik (ebd.).

Abgeschlossen werden soll dieser Beitrag mit einem Hinweis auf die Relevanz der Trennung von Populismus und seinen Wirtsideologien. Eine Verwechslung von Wirt und Gast, dem Populismus, kann dafür sorgen, dass die Auswirkungen des Populismus an den Stimmenanteilen populistischer Parteien überschätzt werden. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor populistischer Parteien liegt in ihrer Programmatik und diese kann nicht der Populismus, sondern nur die entsprechenden Wirtsideologie liefern (vgl. Dai 2023).

Literatur 

  • Dai, Yaoyao (2023): Don’t exaggerate the importance of populism. (TheLoop vom 02.08.2023) <https://theloop.ecpr.eu/dont-exaggerate-the-importance-of-populism/> (18.03.2024).
  • Decker, Frank (2000): Parteien unter Druck. Der neue Rechtspopulismus in den westlichen Demokratien, Springer Fachmedien: Wiesbaden.
  • Freeden, Michael (1998): Is Nationalism a Distinct Ideology?. In: Political Studies 46(4), S.748-765.
  • Mudde, Cas (2004): Der populistische Zeitgeist. In: Müller, Kolja (Hrsg.): Populismus. Ein Reader, Suhrkamp: Berlin, 175-201.
  • Mudde, Cas/Kaltwasser, Cristóbal Rovira (2019): Populismus. Eine sehr kurze Einführung, J.H.W. Dietz Nachf.: Bonn.
  • Priester, Karin (2012): Rechter und linker Populismus. Annäherung an ein Chamäleon, Campus: Frankfurt.
  • Stanley, Ben (2008): The thin ideology of populism. In: Journal of Political Ideologies 13(1), S.95-110.
  • Taggart, Paul (2000): Populism, Open University Press: Buckingham.

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