In diesem Beitrag stellt Fiona Hamann folgenden Aufsatz vor:
Bauer, Christian (2019): Heimat im Offenen? - Rechtspopulismus als theologische Herausforderung; in: International Journal of Practical Theology, 23 (1), S. 78-97, online unter: https://doi.org/10.1515/ijpt-2018-0031.
Der vorliegende Habilitationsvortrag von Christian Bauer thematisiert zu Beginn den Begriff und das Gefühl von „Heimat“. Es ist ein „schwer zu definierender“ (S. 79) Ort der Sehnsucht, der Erinnerung, der vor allem im Blick zurück zu finden ist und nicht im Unmittelbaren erlebbar zu sein scheint. Einige Menschen verlieren heute das Gefühl von Heimat. Sie sind „auf der Suche nach identitätsstiftenden Narrativen des Eigenen im Gegenüber zum herandrängenden Fremden“ (S. 80). Rechtspopulisten können mit ihren Ideologien einfach an dieses Gefühl anknüpfen. Da Heimat die Sehnsucht aller Menschen sei, kommt „die Frage nach entsprechenden Ressourcen einer nichtexkludierenden, aber dennoch heimatgebenden Identität im offenen Raum unserer Gesellschaft auf“ (S. 80).
Nach diesem Einstieg hat Bauer seinen Vortrag in vier Teile gegliedert. Er beginnt mit dem Blick in das „gesellschaftliche Praxisfeld“, berichtet anschließend über „Recherchen im kulturwissenschaftlichen Diskursarchiv“ und dem „praxistheologischen Diskursarchiv“ bevor er sein „Resümee“ zieht. Unter der Überschrift „Spurensuche im gesellschaftlichen Praxisfeld“ fasst Bauer sowohl Beobachtungen der heutigen Zeit als auch der Vergangenheit zusammen und gibt erste Hinweise, wie sich eine Gesellschaft verhalten sollte.
Es werden unterschiedliche Möglichkeiten aufgezeigt, auf Rechtspopulismus, der „heimatliches Brauchtum“ (S. 83) vereinnahmt, zu reagieren. Man könnte dem Verhalten etwas entgegensetzen indem man auf den „kompromittierten Heimatbegriff“ (S. 83) verzichtet. Bauer beobachtet allerdings, dass die meisten Menschen einen anderen Weg wählen. Sie wollen nach Vorfällen möglichst schnell zum „business as usual“ (S. 83) zurückkehren, indem sie die Umstände akzeptieren und sich in ihr „heimatliches Nest“ (S. 83) zurückziehen. Von SoziologInnen wird dieses Verhalten als „Cocooning“ bezeichnet. Menschen machen sich ihr Leben möglichst behaglich, ohne die Schwierigkeiten der Zeit zu betrachten.
In der Zeit zwischen den Kriegen konnte in Frankreich Ähnliches beobachtet werden. Das „Collége de Sociologie“ versuchte, eine ‚Sakralsoziologie‘ entstehen zu lassen, um dem Faschismus „mit Hilfe von gemeinschaftsbildenden Mythen“ (S. 84) entgegenzutreten. Diese Art des Umgangs wurde damals wie heute auch kritisiert. Man sollte „nicht das politische Framing eines totalitären oder faschistoiden Denkens übernehmen, sondern […] den ‚Diskursrahmen wechseln“ (S. 84). Das bedeutet im theologischen Zusammenhang, „für die unteilbare Würde aller Menschen in einer offenen Welt“ (S. 84) einzutreten.
Der Auftrag geht weiter mit den „Recherchen im kulturwissenschaftlichen Diskursarchiv“. Bauer untersucht, inwiefern die Untersuchungen der Gesundheit von Holocaustüberlebenden des Medizinsoziologen Aaron Antonovsky auf den heutigen Zuwachs des Rechtspopulismus zu übertragen sind. Dieser hielt fest, dass es ein ‚Kohärenzgefühl‘ (S. 85) gibt. Er beschreibt es als ‚eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein […] Gefühl des Vertrauens hat‘ (S. 85), dass Dinge verständlich, bedeutsam und handhabbar sind. Wenn in der heutigen Zeit der Alltag undurchsichtig wird, kann dieses Lebensgefühl verloren gehen.
Es gibt unterschiedliche Reaktionen auf eine komplexe Welt. Entweder „im Aufbruch in den heterogenen Freiraum einer offenen Gesellschaft oder aber in der Flucht in den homogenen Schutzraum einer geschlossenen Gemeinschaft“ (S. 86). Bauer beobachtet, dass sich die Gesellschaft momentan immer weiter in Richtung der zweiten Möglichkeit entwickelt. Gleichzeitig wird die Wichtigkeit betont, sich dem beispielsweise durch ein „alternatives ‚Framing‘ der politischen Debatte“ (S. 86) entgegenzustellen.
Thematisiert wird daraufhin der Begriff ‚Narrativ‘ (S. 86). Bauer widerspricht teilweise dem französischem Philosophen Jean-François Lyotard, der behauptet, dass es heutzutage zu einer ‚Dekomposition der großen Erzählungen‘ (S. 87) kommt. Aufkommender „religiöser Fundamentalismus und politischer Populismus“ (S. 88) sprechen zwar gegen diese These, jedoch gibt es tatsächlich viele ‚kleine Erzählungen‘, die sich stets erneuern und dem Wunsch nach der einen Erzählung entgegenstehen (vgl. S. 87 f.).
Problematisch ist, dass diese „großen Erzählungen“ (S. 88) für einige Menschen immer noch wichtig sind. „Es gibt ein Grundbedürfnis nach narrativen Deutungsrahmen“ (S. 88). Solange diese eine „freiheitliche Form“ (S. 88) aufweisen, sind sie weniger gefährlich, als wenn sie eine „geschlossene, potentiell totalitäre“ (S. 88) Form aufweisen. Nach dem Soziologen Bruno Latour „gibt es eine narrative Konstruktion von Heimat, deren nie voll auserzählte Geschichten diachron Geschichte und synchron Gesellschaft formieren“ (S. 88). Armin Nassehi spricht von einer „‚Unmöglichkeit einer gemeinsamen Welt‘ für alle Menschen“ (S. 89). Erzählungen, die Gemeinsamkeiten erzeugen, sind daher ausschließlich „mit einem lokal begrenzten Geltungsanspruch möglich“ (S. 89).
Rechtspopulisten versuchen, die aufgekommene Komplexität auf ein möglichst verständliches und haltgebendes Narrativ zu beschränken. Um die offene Gesellschaft zu erhalten, muss es deshalb in einschließender Weise gelingen, „wieder Geschichten zu erzählen, die Identität stiften und Heimat geben“ (S. 89). Das erreichen könnten Frames, die die Möglichkeit einer ‚Weltoffenheit ohne Selbstverneinung‘ (S. 89) darstellen. Es muss also eine ‚Erfahrungswelt‘ geschaffen werden, deren Bewohnbarkeit in offener Weise gesichert werden kann (vgl. S. 90).
Bauer zitiert verschiedene Politiker und Historiker, die alle der Meinung sind, dass das aufgezeigt werden muss, was alle Menschen verbindet. Eine „‚mitreißende Gegenerzählung‘ weltoffener Heimatlichkeit“ (S. 90 f.) kann aber nur dann erfolgreich erzählt werden, wenn Menschen respektvoll aufeinander zugehen, sich austauschen und ein positiver Begriff von Heimat nicht tabuisiert wird (vgl. S. 90 f.).
Im nächsten Abschnitt beschreibt Bauer „Erkundungen im praxistheologischen Diskursarchiv“. Die Theologie und Kirche muss rechtspopulistischen Frames mit „eigene(n) Narrative(n) einer gelingenden Existenz im Offenen“ (S. 91) entgegenwirken. Warum das gerade dem Christentum gut gelingen kann, beschreibt Lieven Boeve. "Durch die eigene Struktur ist [das christliche Narrativ] dazu bestimmt, sich selbst als einen offenen Diskurs zu rekontextualisieren" (S. 91).
Das Zweite Vatikanische Konzil bietet für die Rekonstruktion eine gute Grundlage, weil die Texte „aus den heilsgeschichtlichen Erzählungen der Bibel gespeist sind und daher über weite Strecken auch selbst "den Charakter von Gottesgeschichten" tragen“ (S. 92). Gewollt wurde „die ‚Corporate identity‘ der Kirche in dieser Weise narrativ als eine heiluniversal entgrenzte, pastoral weltoffene Identität zu bestimmen“ (S. 92). Nach der transzendentalen Anthropologie von Karl Rahner „ist ein Mensch durch seine ‚Transzendenz ins Offene gesetzt‘ und führt folglich eine ‚Existenz in das Unvorhergesehene hinein‘, sich selbst in die unendliche Offenheit der Zukunft entwerfend“ (S. 92), was natürlich auch den ‚Mut zum Wagnis ins Offene‘ (S. 92) erfordert.
Dieser Mut ist vor allem heutzutage wichtig, weil das „Weltganze“ (S. 93) laut Jean-Luc Nancy nur noch als ‚in sich selbst offen‘ (S. 93) denkbar ist. Das Christentum beschreibt er ‚als Öffnung – Selbst-Öffnung und Selbst als Öffnung‘ (S. 93). Die Kirche hat daher die Aufgabe, das, was in der Welt passiert, bewusst wahrzunehmen. Damit dies gelingen kann, muss sie eigene Schutzvorrichtungen abbauen und dann in ihrer Verletzlichkeit allen den Dialog anbieten (vgl. S. 93 f.).
Pastorale Orte können aber auch „Orte eines ‚hearing of speech‘“ (S. 94) werden. Hier könnte ein offener, gesellschaftlicher Austausch stattfinden, der die „milieuspezifische Selbstbeschränkung“ (S. 94) auflöst und stattdessen verständnisvolle Gespräche auf Augenhöhe ermöglicht. Es geht darum, die eigene Geschichte zu erzählen, anderen zuzuhören und Gefühle mit in das Gespräch miteinzubeziehen, anstatt nur mit „Kopfargumenten“ (S. 94) zu entgegnen (vgl. S. 94).
Es können Orte entstehen, an denen Menschen die „Abenteuer des existenziell Offenen angstfrei erprob(en)“ (S. 95) können, ohne Angst haben zu müssen, für Fehler verurteilt zu werden. Ohne die Homogenisierung vieler kleiner Geschichten kann ein „offenes Narrativ von Solidarität und Freiheit (entstehen, was) so etwas wie Heimat ermöglichen“ (S. 95) kann. Bauer ermutigt „mehr Demokratie (zu) wagen“ (S. 94), „denn man kann eine offene Gesellschaft nicht mit einem geschlossenen Geist verteidigen“ (S. 94).
Zum Abschluss des Vortrages zieht Bauer noch ein Resümee. Er definiert Heimat als „ein ‚Horizont intersubjektiver Erzählungen‘ im Kontext einer ‚offenen Gesellschaft‘, in der heterogene Elemente ‚ineinander greifen und sich vermischen‘“ (S. 95 f.). Da sich das Leben und die Lebensumstände ständig verändern, müssen alle lernen, in diesem Wandel Heimat zu finden (vgl. S. 96). Christen sollten damit keine Schwierigkeiten haben und sich für die Offenheit einsetzen, da sie ihrem Glauben nach selbst „Heimatlose“ (S. 96) und Gäste auf Erden sind.
Heimat wird von Rolf Zerfaß als „Ausdruck für das Paradies“ (S. 96) beschrieben, das es momentan nur verloren gibt. Da Heimat also etwas „prinzipiell Entzogenes“ (S. 97) ist, ist sie sowohl „Sehnsucht“ als auch „Vorgeschmack“ auf „die Vollendung der Schöpfung“ (S. 97). „Pastoraler Auftrag von Kirche“ ist es, daran zu erinnern, dass auch schon „hier und heute situativ erfahrbare Heimat im Offenen einer noch nicht vollendeten guten Zukunft“ (S. 97) erfahrbar werden kann (vgl. S. 97).
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