Montag, 21. Juni 2021

Rechtspopulismus und Wissenschaft in Ungarn

In diesem Beitrag stellt Raphael Conrad folgenden Aufsatz vor:

Müller, Márk Várszegi (2021): Rechtspopulismus und freier Geist – zur Lage der Wissenschaften in Viktor Orbáns Ungarn; in: Bos, Ellen / Lorenz, Astrid (Hrsg.): Das politische System Ungarns. Nationale Demokratieentwicklung, Orbán und die EU, Springer VS, S. 229-268, online unter: https://doi.org/10.1007/978-3-658-31900-7_12.

In seinem Beitrag beschreibt Márk Várszegi, ehemaliger wissenschaftlicher Mitarbeiter der Helmut-Schmidt-Universität / Universität der Bundeswehr in Hamburg, die Auswirkungen der rechtspopulistischen Politik Viktor Orbáns bzw. der Fidesz-Partei auf die Wissenschaft in Ungarn. Übergeordnetes Ziel des Beitrags ist es, exemplarisch das Verhältnis zwischen Rechtspopulismus und Wissenschaft herauszuarbeiten.

Der Autor ordnet zu Beginn seines Beitrags die Rolle der Wissenschaft in das Regierungsprogramm der Fidesz-Partei aus dem Jahr 2010 ein, in dem sie – wie Kunst und schöpferische Tätigkeit auch – nur selten auftritt. Eine große Rolle erhält in dem Programm hingegen das Unternehmertum und dessen Werte. Dies spiegelt sich auch mit Blick auf die Hochschulen wider, gilt dort „die hervorgehobene Aufmerksamkeit den MINT-Fächern, da diese förderlich für die Entwicklung der lukrativen Wirtschaftszweige [...] sind.“ (S. 229f). Insgesamt kommt den Hochschulen jedoch eine eher untergeordnete Rolle zu.

Trotzdem ist sie Gegenstand politischer Entscheidungen. Die ungarische Hochschulgesetzgebung veränderte sich nach dem Systemwechsel 1989/90 mehrfach. Unter Orbán fanden 2011 und 2014 Gesetzesänderungen statt, wobei die Änderung 2014 grundlegend war. So implementierte man an den Hochschulen das Amt des Kanzlers, der neben wirtschaftlichen- und finanziellen Befugnissen auch „über ein Zustimmungsrecht (faktisch: Vetorecht) bezüglich sämtlicher Entscheidungen des Universitätssenates oder des Rektors, sofern diese Folgen für die Haushaltsführung, die Organisation oder den Betrieb der Hochschule haben [...]“ (ebd., S. 231) verfügt.

Der Kanzler wird dabei von dem Bildungsminister vorgeschlagen und vom Ministerpräsidenten ernannt. Die Anforderungen an die Bewerber*innen sind dabei sehr gering, sodass eine Auswahl unter vielen möglichen Bewerber*innen erfolgen kann. Várszegi äußert den Verdacht, dass das neue Amt geschaffen wurde, um mehr Einfluss auf die Hochschulen nehmen zu können. Die Regierung begründete die Implementierung des Amts hingegen mit ökonomischen Gründen. Auf organisatorischer Ebene führt das neue Amt und dessen Befugnisse (zu denen auch Vertretungsbefugnisse des Rektors gehören) zu einer Zweiteilung der Hochschulleitung. Besorgt blickt Várszegi daher auf die dadurch entstandene Einflussnahme der Regierung.

Um die Weltanschauung der Fidesz-Politiker*innen im Zusammenhang mit hochschulpolitischen Entscheidungen wie dem Verbot der Gender Studies zu verdeutlichen, zitiert Várszegi die Äußerungen mehrerer Politiker. Zu ihnen gehört auch der Präsident der ungarischen Landesversammlung, der „2018 die Gender Studies mit der während der NS-Zeit betriebenen Eugenik verglich [...].“ (S. 234). So wurde im selben Jahr den Gender Studies-Studiengängen die Akkreditierung entzogen – sie passen nicht zum traditionellen Familienbild der Partei.

Ebenso resolut ging die Regierung auch gegen die Central European University (CEU) in Budapest vor. Sie „bekennt sich wie ihr Gründer [György Soros] zum Popperschen Ideal der offenen Gesellschaft und macht sich für liberale Werte stark.“ (S. 235). Die als private Hochschule von der Kanzler-Regelung ausgenommene CEU wurde durch ein 2017 verabschiedetes Gesetz handlungsunfähig gemacht. Am Ende längerer Verhandlungen beschloss die Universität schließlich, ihren Sitz nach Österreich zu verlegen.

Einen weiteren Konflikt hat die Orbán-Regierung mit der Akademie der Wissenschaften (Magyar Tudományos Akadémia), einer traditionsreichen Institution im wissenschaftlichen Leben des Landes. Die 1827 gegründete Akademie befasste sich ursprünglich mit der Weiterentwicklung der ungarischen Sprache, wurde jedoch schnell zum wichtigen Dreh- und Angelpunkt des gesamten wissenschaftlichen Lebens, indem sie Publikationen veröffentlichte, Stipendien vergab und in der Lage war, Gehälter zu bezahlen. Die Akademie erhielt für ihre Tätigkeit ab 1867 staatliche Unterstützung, blieb jedoch qua Satzung autonom. Nachdem Várszegi auf die lange und bewegte Historie des Instituts näher eingegangen ist, beschreibt er (S. 238) die Rolle der Akademie ab den 1990er-Jahren:

„Sie ist einerseits eine Gesellschaft von überragenden Wissenschaftlern, andererseits – und dies ist vielleicht noch bedeutender – Trägerin eines umfassenden Netzwerks von wissenschaftlichen Forschungszentren und Instituten.“

Die Fidesz-Regierung vermehrt in Várszegis Augen ihren Einfluss auf die Akademie, indem die Verteilung der für sie vorgesehenen Gelder ab 2019 nicht mehr vom zentralen Staatshaushalt, sondern aus dem Budget des Ministeriums für Innovation und Technologie erfolgte. Dies hat zur Folge, dass das Ministerium über die finanziellen Mittel – die großteilig der Grundlagenforschung zukommen – entscheiden kann und auch die Verteilung der Gelder an die zugehörigen Institutionen der Akademie festlegt. Várszegi beschreibt auch, wie durch weitere Maßnahmen Einfluss auf die Forschungseinrichtungen der Akademie genommen wird.

„So betragen z.B. die für Geisteswissenschaften vorgesehenen Mittel nur etwa 60 % des Betrages, der in den vergangenen Jahren für die entsprechenden Organisationseinheiten der Akademie vorgesehen war [...].“ (S. 240).

Mit dem seit 12.07.2019 gültigen Gesetz gehen damit sowohl Vernetzung als auch Autonomie der Akademie und ihrer Einrichtungen verloren. „17 [...] Entitäten der Akademie verlieren ihren Status als autonom arbeitende und wirtschaftende Organisationseinheiten und stellen in Zukunft nur noch einen Posten im zentralen, vom Minister verwalteten Haushalt dar [...].“ (S. 240).

Realisiert wird dies durch ein eigens gegründetes Forschungsnetzwerk, dessen dreizehnköpfiges Führungsgremium jeweils zur Hälfte vom Präsident der Akademie und vom Minister für Innovation und Technologie vorgeschlagen wird. Der Präsident des Netzwerks wird von beiden gemeinsam vorgeschlagen. Die Ernennung aller Personen erfolgt jedoch durch den Ministerpräsidenten. Begründet wird die Maßnahme von Seiten der Regierung mit einer gesteigerten Effizienz, was jedoch von Várszegi besonders in Bezug auf die Kürzungen bei der Grundlagenforschung kritisiert wird.

Abschließend kommt Várszegi zu dem Schluss, dass die Maßnahmen der Orbán-Regierung darauf abzielen, dass die Wissenschaften „nicht außerhalb des politischen Systems gedeihen, keinen Gegenpol zu diesem bilden und ihm auf keinen Fall die eigenen Unzulänglichkeiten aufzeigen.“ (S. 243). Die Einflussnahme erfolgt dabei durch Beschneidung der finanziellen Mittel.

Hervorgehoben wird auch, dass die angewandten Wissenschaften bevorzugt behandelt werden, was mit der parteilichen Priorisierung des Unternehmertums in Zusammenhang gebracht wird. Die Kürzungen bei den Geisteswissenschaften beschreibt Várszegi mit Blick auf die ungarische Kultur als nicht nachvollziehbar. Der Autor, selbst Wissenschaftler, schließt seinen Beitrag mit einem persönlichen Statement:

„Die Geschichte Ungarns hat mehrere Male gezeigt, dass Versuche, den freien Geist staatlichen Erwägungen der Effizienz und Wirtschaftlichkeit zu beugen, immer katastrophale Konsequenzen nach sich zogen.“ (Várszegi 2021, S. 244).

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