Donnerstag, 24. Juni 2021

Anti-Genderismus als Strategie des Rechtspopulismus und -extremismus

In diesem Beitrag stellt Clara Becker folgenden Aufsatz vor:

Strube, Sonja A. (2021): Anti-Genderismus als rechtsintellektuelle Strategie und als Symptom-Konglomerat Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit; in: Hemet, Raphaela / Metze, Miriam / Perintfalvi, Rita / Sahbaz, Cicek / Strube, Sonja A. (Hrsg.): Anti-Genderismus in Europa, transcript Verlag, S. 51-63, online unter https://www.degruyter.com/document/doi/10.14361/9783839453155-004/html.

In diesem Beitrag aus dem im Jahr 2021 erschienenen Sammelband "Anti-Genderismus in Europa" analysiert Sonja A. Strube das Phänomen des Anti-Genderismus einerseits als bewusst gewählte Strategie unterschiedlicher rechter Gruppierungen und andererseits als Symptom-Konglomerat des Syndroms Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Laut Strube sind diese beiden Aspekte einander gegenläufig und ergänzen sich zugleich.

Vorab sollte angemerkt werden, dass viele der im Anti-Genderismus propagierten Normen, Rollenideale und Lebensentwürfe in Deutschland von der Mehrheit der Bevölkerung inhaltlich nicht geteilt und nicht für das eigene Leben akzeptiert werden (vgl. S. 52). Dennoch führen antigenderistische Thesen auch in Deutschland zu Diskussionen in den Leitmedien und beeinflussen Stimmungen in der Mitte der Gesellschaft. Der Anti-Genderismus verzeichnet also trotz allem auch Erfolge.

Diese sind nicht nur auf den Gedanken der Uneindeutigkeit von Geschlecht zurückzuführen, der viele Menschen überfordert und beängstigt (vgl. S. 58). Vielmehr geht es in Anlehnung an den Autoritarismus um den Wunsch nach klaren Regeln, Normen und gesellschaftlicher Konformität, die der Anti-Genderismus u.a durch eindeutige Geschlechterzuordnungen, klare binäre und polare Zweigeschlechtlichkeit, Heterosexismus und klare Rollenzuordnungen bietet (vgl. S. 59). Stärker als um die Orientierung im eigenen Leben geht es den AnhängerInnen um Kontrolle und Macht über das Leben und Denken anderer.

Als Erstes sollte der Aspekt angesprochen werden, der das Phänomen des Anti-Genderismus als bewusst gewählte Strategie unterschiedlicher rechter Gruppierungen versteht. In der Bundesrepublik Deutschland werden vor allem zwei Wellen „kampagnenartiger Angriffe“ der extremen Rechten gegen „Gender“ verzeichnet. Die erste Welle fand durch Impulse ab 2006 von antifeministischen Ressentiments in bürgerlichen Medien und Milieus statt, die Zuspruch und Unterstützung von zwei bis dahin streng voneinander getrennten Milieus erhielten: den reaktionär-christlichen Milieus und den verfassungsfeindlich-rechtsextremen Szenen (vgl. S. 52f.).

Die Intellektuelle Neue Rechte mit ihren Medien und ProtagonistInnen fungierte hierbei als Bindeglied zwischen den beiden Milieus und versuchte mit einem bürgerlich-intellektuellen Erscheinungsbild und Auftreten gezielt bürgerliche Milieus zu erreichen (vgl. S. 53).

Die zweite Welle wurde von einem deutlich bürgerlicheren äußeren Erscheinungsbild von selbst als verfassungsfeindlich-rechtsextrem eingestuften Gruppierungen und milieuübergreifenden Vernetzungen geprägt. Somit fungierte und funktionierte der Anti-Genderismus als strategischer Türöffner in bürgerliche und teils auch christliche Milieus hinein, die der Extremen Rechten in Deutschland bislang verschlossen waren (vg. S. 53).

Es lässt sich demnach festhalten, dass die Kooperation verschiedener gesellschaftlicher Milieus im Anti-Genderismus für Gruppierungen der Extremen Rechten die strategische Bedeutung hat, auf diese Weise nicht nur tragfähige Vernetzungen aufzubauen, sondern sich selbst als „bürgerlich“ oder „christlich“ darzustellen, indem sie sich für den Schutz traditioneller Werte, der traditionellen Familie, für Kinder und für den Lebensschutz Ungeborener einsetzen (vgl. S. 54).

Dadurch wird erstens versucht, ein bedrohliches Feindbild zu schaffen, das Angst erzeugt und das eigene Verhalten gegenüber bestimmten Menschengruppen rechtfertigt. Es handelt sich somit um eine populistische Emotionalisierung sowie eine politische Instrumentalisierung dieser, wobei die eigene verschwörungstheoretisch-antisemitisch untermalte Agitation als Akt freier Meinungsäußerung und als mutiger "demokratischer Widerstand" gegen Totalitarismus umgedeutet wird (vgl. S. 55).

Zweitens gelingt es rechten Gruppen durch die Themenwahl und Kooperation mit sich christlich verstehenden Gruppen, eine maximale „Selbstverharmlosung“ zu bewirken, mit dem Ziel, die in Deutschland bestehenden „emotionalen Barrieren“ der bürgerlichen Mitte zu überwinden und eine gesamtgesellschaftliche Normalitätsverschiebung zu bezwecken (vgl. S. 54). So bleibt ihre antidemokratische Zielsetzung für unkritische BeobachterInnen undurchschaubar. Strubes erste These lautet deshalb:

„Anti-Genderismus ist im Wesentlichen als eine rechtsintellektuelle Strategie zu verstehen, mit der andere Ziele verfolgt werden als die tatsächliche Durchsetzung bestimmter rückwärtsgewandter familienpolitischer Ideale.“ (S. 52).

Nachdem nun der erste Aspekt des Anti-Genderismus erläutert wurde, wird im Folgenden der Anti-Genderismus als Symptom-Konglomerat des Syndroms Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit betrachtet. Vorurteile gegen unterschiedliche Menschengruppen gründen laut Strube auf Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit und führen zu einer Abwertung der „Anderen“, wodurch Hierarchien zwischen Menschengruppen legitimiert werden sollen (vgl. S. 56). Kern dieses Syndroms stellt demnach die „Ideologie der Ungleichwertigkeit“ dar.

Mit dem Anti-Genderismus wird der Komplex der Vorurteile gegenüber geschlechtlich und sexuell markierten Gruppen assoziiert (vgl. S. 56). Die Menschengruppen, auf die die Vorurteile bezogen werden, haben gemein, dass sie durch Lebensstil und körperliche Merkmale das Konstrukt hegemonialer Männlichkeit und männlicher Vorherrschaft unterminieren (vgl. S. 57). Die Dekonstruktion von Geschlecht stellt folglich den zentralen Angriffspunkt anti-genderistischer Agitationen dar.

Mit der Verwendung der Kategorie „Gender“ als Containerbegriff für eine Vielzahl an Themen (z.B. Geschlechtergerechtigkeit zwischen Frauen und Männern, sexuelle Identität, Abtreibung) soll im Anti-Genderismus erzielt werden, unterschiedliche Ressentiments zu triggern und Menschen mit unterschiedlichen gruppenbezogenen Vorurteilen zusammenzuführen. Strube formuliert deshalb als zweite These, dass dieses Themenkonglomerat auf affektiver Ebene innere Vorurteilsstrukturen triggert, wodurch der Anti-Genderismus über jede rational ergründbare Vernetzung und Rhetorik hinaus enorme Dynamik entwickelt (vgl. S. 55). Es lässt sich abschließend festhalten:

„Wie der Durchgang durch die Dimensionen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit zeigt, funktioniert Anti-Genderismus auf affektiver Ebene auch als Trigger explizit rechtsextremer Einstellungen […], nämlich des Rassismus, Antisemitismus und Sozialdarwinismus, und ermöglicht darüber hinaus durch den verbreiteten Vergleich von Abtreibungen mit der Shoah eine Relativierung des Nationalsozialismus.“ (S. 58)

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