Mittwoch, 16. Juni 2021

Rechtspopulismus und Opferrolle

In diesem Beitrag stellt Matea Bender folgenden Aufsatz vor:

Knobloch, Clemens (2019): Was sucht (und was findet) der Rechtspopulismus an der Universität?; in: Navigationen - Zeitschrift für Medien- und Kulturwissenschaften. Neue Rechte und Universität, Jg. 19, Nr. 2, S. 25-32, online unter: https://mediarep.org/handle/doc/14757.

Der Text „Was sucht (und was findet) der Rechtspopulismus an der Universität?“ basiert auf einem Diskussionsbeitrag von Clemens Knobloch im Rahmen einer Podiumsdiskussion an der Universität Siegen im Januar 2019 unter dem Titel „Denken Lassen – Meinungen Lassen?“.

Die Frage stelle sich, wozu die Ideologien des Rechtspopulismus die „symbolische Anerkennung durch den akademischen Betrieb“ denn überhaupt benötigen, denn diese seien doch nur ein „Hort der links-grünen und politisch korrekten Altachtundsechziger-Netzwerke und ihrer Meinungsführerschaft“ (S. 1). Die Antwort des Autors lautet: Genau aus diesem Grund.

Marc Jongen, ein deutscher Politiker und Dozent, der als „Parteiphilosoph“, „Chefideologe“ bzw. „Vordenker“ der AfD gilt, oder wie Knobloch ihn beschreibt: „[...]ein akademisch gescheiterter Nachwuchsphilosoph, der bei der AfD untergekommen ist[...]“, fordert die „Entsiffung des Kulturbetriebs“ und ruft somit gewissermaßen zu Säuberungen auf (S. 1).

Knobloch weist darauf hin, dass jener Marc Jongen in diesem Kulturbetrieb „nichts geworden ist“ (S. 2). Außerdem erwähnt er, dass Jongen sich am Arbeitsgericht in diesen Kulturbetrieb einklagen musste, weil seine akademischen Leistungen nicht für eine Dauerstellung ausreichten. Was diese Informationen über Jongen aussagen? Dass er stets den ausgeprägten Willen zeigte, zu diesem besagten Betrieb dazuzugehören. Knobloch fährt fort:

„Aber offenbar findet er ihn persönlich doch ganz attraktiv. Und just dieser Betrieb (in Gestalt der Siegener Philosophie) lädt ihn ein und verhilft ihm zu akademischen Ehren. Ist das weise, selbstlos oder vielleicht einfach nur dumm?“ (S. 2).

Für solche Zwecke genüge es, ein Schild vor sich her zu tragen, auf dem „Meinungsfreiheit“ geschrieben steht, so der Autor. Denn dann zählt es nicht, wenn man in der Öffentlichkeit dazu aufruft, genau diese Meinungsfreiheit zu zerstören, merkt er zynisch an und fährt fort: „Lemminge sind eben unbelehrbar". (S. 2).

Thilo Sarrazin, ehemaliger Finanzsenator im Berliner Senat, anschließend Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank und Autor, sitzt gemeinsam mit Jongen in zahlreichen Talkshows. Die beiden blicken auf Millionenauflagen und füllen die Medien mit ihren Thesen und Behauptungen. Was ihnen trotzdem ohne Mühe gelingt, ist in der Öffentlichkeit ein Bild zu erzeugen, wonach der „links-versiffte 68er Betrieb“ ihnen das Reden verbiete.

Besonders interessant auf sprach- und kommunikationswissenschaftlicher Ebene ist, dass die „Wahrheit“ im politischen Raum offensichtlich nicht an empirischen Tatsachen überprüft wird. Hinsichtlich dieser Erkenntnis muss man sich offenbar vor allem als schuldloses Opfer übler Machenschaften präsentieren, um die erforderliche Aufmerksamkeit zu erlangen. Und Knobloch wird noch deutlicher: Denn im „edlen Wettbewerb um die öffentlich zuerkannte Opferrolle“ befindet sich die AfD mittlerweile fast durchgehend auf dem ersten Platz (S. 3).

Das funktioniert vor allem deswegen, da niemand gerne als Opfer gelten möchte, nichts jedoch so begehrt ist, wie der anerkannte Status einer diskriminierten Minderheit. Denn dieser Status bildet oftmals eine Ressource, die für einzelne Akteure positiv verwendet werden kann, nämlich wenn es darum geht, seine Aufmerksamkeits- und Machtchancen umzusetzen.

Dieses Erfolgsmodell wird als „progressiver Neoliberalismus“ bezeichnet und dient auch der Neuen Rechten, die mithilfe dieses Modells schon den ein oder anderen Erfolg zu verbuchen hatte. Die politische Richtung beruft sich traditionell zu ihrer Legitimation eher auf das „heroische Opfer“ und den Tod für das Vaterland. Eine „postheroische Figur“ stellt allerdings das unschuldige Opfer dar, das für die Rechten bislang obsolet war.

„Die Wortführer der Neuen Rechten posieren zwar gerne als entschlossene Aufmischer, lieber aber noch als Opfer von linkem Schuldkult und Moralterror. So bedient man den Mix aus empörtem Aktivismus und gefühlter Hilflosigkeit, der die Neue Rechte nährt“ (S. 4).

Dieser neue Terminus von Opferrolle hat eine universelle begriffsgeschichtliche Quelle in dem Diskurs, der als „postkolonial“ bezeichnet wird. Hier spricht Knobloch von sogenannten „Indigenen“, die um die Anerkennung ihrer Opferrolle bei den Nachkommen der Kolonialmächte kämpfen.

Schwierig darzustellen ist die Komplexität der Interpretation dieser Motivlage in Deutschland, denn Deutschland war nur eine sekundäre Kolonialmacht, die ebenso indigene Ethnien verdrängt, bekriegt, ausgebeutet und vernichtet hat, was im eigenen Herrschaftsbereich und in den Gebieten, die nach 1939 erobert wurden, zu einem „präzedenzlosen Menschheitsverbrechen“ geführt hat. Die Rede ist hier vom Völkermord an den europäischen Juden.

Eine Folge dieser Tragödie ist, dass heute alle politischen Akteure in Deutschland glauben, dass es ihnen zustehe, sich als „unschuldige Opfer“ zu inszenieren. Der Opferstatus erlaubt es den Individuen und Gruppen, ihr Gesicht zu wahren und zwar auch, wenn die Erwartungen an Leistung und Verantwortung im öffentlichen Raum nicht erfüllt werden können.

Die vorherrschende Strategie in den Medien der Neuen Rechten baut darauf auf, dass der liberalen Öffentlichkeit lediglich „Fetzen vor die Füße geworfen werden“, die zuverlässig Empörung hervorrufen. Anschließend beruft man sich auf Missverständnisse in der Kommunikation, man habe dies nicht so gemeint, ist erstaunt und rudert zurück. Ziel dieser Strategie ist es, die „liberale Medienszene“ zunächst zu nutzen, um Aufmerksamkeit zu erregen und sie anschließend vorzuführen, da man „Opfer des linken […] Moralterrors“ geworden sei (S. 5).

Eine weitere Variable, die in der rechtsradikalen Medienstrategie zum Einsatz kommt, ist die Rede der „linken Meinungsführerschaft“ in den Medien und an Universitäten. Auch hier sei man ganz klar in der Opferrolle. Eine Methode der Rechtspopulisten stützt sich darauf, alles, was auf einer moralischen und wertenden Ebene stattfinden, als „links“ oder „linksradikal“ umzukodieren.

Am Ende seines Artikels geht Knobloch nochmals auf die Frage ein, was Meinungsfreiheit mit Universitäten zu tun hat und kommt hier auf eine klare und simple Antwort: „Nichts“ (S. 6). Zitiert wird hier Artikel 5 (3) des Grundgesetzes der besagt, dass an einer Universität die Wissenschaftsfreiheit, nicht aber die Meinungsfreiheit gilt. Zitiert wird der Soziologe Pierre Bourdieu, der einst sagte: „Ein guter Historiker ist jemand, den gute Historiker für einen guten Historiker halten“ (S. 6).

Das bedeutet jedoch nicht, dass jede Meinung wissenschaftlich zugelassen werden muss. Denn bei Meinungsfreiheit befinden wir uns in der Politik und in der Öffentlichkeit, bei der Wissenschaftsfreiheit hingegen auf einem auf „Erkenntnis spezialisierten gesellschaftlichen Funktionssystem“ (S. 7).

Ganz zum Schluss appelliert Knobloch an seine LeserInnen, sich zu erinnern, worauf sich in den Ländern, in denen rechtsradikale Aktivisten den politischen Machtapparat kontrollieren, diejenigen berufen, die in den Medien und in der Öffentlichkeit zu Gewalt und Morden an Linken aufrufen. Die Antwort gibt er prompt. Bezogen wird sich hier ganz klar auf die Meinungsfreiheit.

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