Montag, 14. Juni 2021

Rechte in prekären ländlichen Räumen

In diesem Beitrag stellt Markus Oßwald folgenden Aufsatz vor:

Simon, Titus (2021): Rechtsextreme und rechtspopulistische Vormachtstellungen in prekären ländlichen Räumen; in: Berg, Lynn / Üblacker, Jan (Hrsg.): Rechtes Denken, rechte Räume?, transcript Verlag, S. 155-176, https://doi.org/10.14361/9783839451083-008.

Das Statistische Landesamt prognostiziert dem Bundesland Bayern bis zum Jahr 2030 eine Abnahme der bis zu 20-Jährigen um 6,7 %. Jedoch soll im Ballungsgebiet München in dieser Altersgruppe ein Zuwachs erfolgen. Das Statistische Bundesamt hält fest, dass in Extremfällen auf vier Unter-20-Jährige junge Menschen drei Über-80-Jährige fallen. Auch in Baden-Württemberg wird ein Bevölkerungsrückgang von bis zu 10 % vorhergesagt. Die Gründe der Abwanderung im prekären ländlichen Raum sind auf eine limitierte Anzahl an Ausbildungs- und Beschäftigungsstellen, wenig Freizeit- und Kulturangebote sowie mangelnde Anzahl an Treffpunkten, schlechte Infrastruktur und ein Vorherrschen von rechtspopulistischer Gesinnung in den Sozialräumen zurückzuführen.

Um den Begriff „prekärer ländlicher Raum“ zu definieren, greift Titus Simon auf die Systematisierung von Sozialräumen der Jugendhilfsplanung für kleinstädtisch, ländlich geprägte Landkreise zurück. Neben einer Abwanderung und Überalterung sind diese durch eine schrumpfende soziale Infrastruktur gekennzeichnet. Geringere Wohnstandards sowie die fehlende Finanzkraft sind nicht zuletzt auf die geringen Beschäftigungsmöglichkeiten zurückzuführen. Zuzüge in die prekären ländlichen Räume sind deutlich reduziert und Bessergebildete wandern von diesen Regionen ab.

Zwar ist der Rechtspopulismus und -extremismus vermehrt in den östlichen Teilen Deutschlands zu finden, doch auch im Westen gibt es Regionen, bei denen ein überdurchschnittlicher Wahlerfolg erzielt werden konnte. Auffällig bleibt, dass Orte, die im Jahr 2017 überdurchschnittliche Ergebnisse für die AfD erreichten, dies bereits 1933 für die NSDAP taten. Beispielhaft ist Jörg Meuthens Kandidatur im Wahlkreis Backnang zu nennen.

Am 05.03.1933 erreichte die NSDAP in der Stadt Gaildorf 68,2 %. Diese Gemeinden werden von der Mittelschicht dominiert. Zuzüge finden im Gegensatz zu Ballungszentren verlangsamt statt und Bessergebildete ziehen aufgrund der fehlenden weiterbildenden Schulen weg. Die Infrastruktur und der Nahverkehr sind mangelhaft ausgebaut und der Zugang zu ökonomischen und kulturellen Zentren fehlt. Stattdessen ist die Kultur vor Ort durch Vereine geprägt.

Im Osten ist beispielhaft der Ort Anklam zu nennen, der hohe Werte für die NSDAP im Jahr 1933 mit 52,5 %, für die NDP mit 13 % im Jahr 2011 und für die AfD im Jahr 2016 mit 26,2 % vorweist. Vorletztere musste aufgrund der aufstrebenden AfD Stimmenverluste hinnehmen. Die von der NPD publizierte Losung von „Einheit von Partei und Bewegung“ ist beispielsweise durch die Abhängigkeit von Betrieben, welche durch Rechte geführt werden, gekennzeichnet. Doch auch Image- und Vertrauensverluste führen bei etablierten Parteien zu sinkenden Wahlergebnissen und zum Aufstieg der AfD. Diese dominiert vor allem in den Wahlbezirken in Brandenburg und Sachsen.

Doch wieso sind die ländlichen Räume besonders anfällig für Rechtspopulismus? Anknüpfungspunkte zum rechten Spektrum finden sich in der Haltung der Zivilbevölkerung. So kommt es, basierend auf rassistischen Motiven, zu Abschottungen. Auch die zuvor erläuterten schlechten Rahmenbedingungen der prekären Orte lassen den Rechtspopulismus und -radikalismus aufblühen. Die Erlebniswelten und Jugendkulturen innerhalb der Rechten sowie die von den rechten Parteien propagierten Rolle vom „netten Nachbarn“ und des „Kümmerers“ kommen im ländlichen Raum besonders gut an. Zugezogene gelten, unabhängig von ihrer Aufenthaltsdauer, als Fremde.

Im Osten sind die Dörfer geradezu von den Großstädten isoliert. Eine Homogenisierung der Gesellschaft und deren Lebensstile erfolgt durch innerörtliche Sozialkontrollen. Das Leben im ländlichen Raum ist geprägt von Familien- und Nachbarschaftsstrukturen. Menschen positionieren sich deutlich zu Themen und nehmen mehr Einfluss auf die ansässige Bevölkerung, als dies die politischen Repräsentanten der Gemeinde tun können. Auch werden Konflikte nicht öffentlich, sondern unter den Beteiligten ausgetragen.

Korrigierende Dienstleister:innen, wie Lehrer:innen, welche meist außerhalb der Gemeinde aufgrund der fehlenden Institutionen ihren Beruf wahrnehmen, Ärzt:innen, Pfarrer:innen, die mehrere Gemeinden betreuen und die Vorgänge in der Gemeinde kaum noch kennen, und andere Akademiker:innen haben fast keinen Einfluss auf die Ansässigen. Es bildet sich dadurch ein eigener Kosmos. Das Misstrauen gegenüber fremden Menschen, von außen kommenden Expert:innen und staatlichen Organen ist groß.

Verschärft wird dieser Effekt von rechten Cliquen, die sich als Ordnungshüter sehen und ihre Wertvorstellungen als allgemeingültig ansehen. Demokratischen Parteien fällt es zunehmend schwer, auf diese Regionen einwirken zu können.

Die Verfassungsschutzämter von Thüringen, Brandenburg und Baden-Württemberg und der Verfassungsschutzbericht des Bundes führen aus, dass es deutliche quantitative Rückgänge an rechtsextremen Konzerten gebe. Jedoch haben rechte Netzwerke eine hohe Attraktivität durch Orientierungsangebote, das Etablieren von Gruppengeschehen und die Freizeitgestaltung.

Dies kann im Fall von Thüringen deutlich gezeigt werden: Statt den vom Ministerium für Inneres und Kommunales im Jahr 2014 angegebenen 10 Konzerte, von denen zwei aufgelöst wurden, konnte die Mobile Beratung für Thüringen 28 Konzerte, von denen eines aufgelöst und ein anderes im Vorfeld verhindert wurde, dokumentiert werden. Diese Aktivitäten steigen mit jedem Jahr an. 2018 wurden sogar 71 Konzerte durch die MOBIT erfasst.

Dieses Beispiel lässt sich flächendeckend auf die Bundesländer anwenden. Dabei bliebt fraglich, ob die Zahlen der Verfassungsschutzämter den tatsächlichen Begebenheiten entsprechen. Die Veranstalter nutzen abgelegene Gegenden in Ostdeutschland und bedienen sich ihrer internationalen Vernetzungen, um die Musikveranstaltungen auch in Osteuropa, Dänemark, Schweden und Frankreich auszutragen. Problematisch bleibt, dass die Bands trotz einzelner Verbote und der Indizierung ihrer Musikwerke in Deutschland nahezu ungehindert auftreten können. Das Festival „Rock gegen Überfremdung 2017“ besuchten 6.000 Personen.

Die Vermischung von nicht-politischen und rechtsextremen Strömungen nimmt weiter zu. Beispielhaft ist die Neofolkszene zu benennen, bei der immer mehr rechtsextreme Bands auftreten. Liederabende in Siedlungen, Wohnprojekten und Tagungshäusern mit Auftritten rechtsextremer Liedermacher:innen und Baladensänger:innen nehmen zu. Die Großveranstaltungen werden zunehmend als unpolitisch öffentlich beworben. Ein Merchendising-Mitarbeiter spricht über seine Erfahrungen auf dem G.O.N.D – Festival:

"Früher hielten sich deutlich Rechtsextreme und andere Besucher die Waage. In den letzten Jahren ist das gekippt. Es dominieren eindeutig die Rechten. Das geht so weit, dass du als Mitarbeiter ständig angemacht wirst, wenn du durch dein Out-fit als Nichtrechter eingeschätzt wirst." (S. 168)

Bestimmte Strategien der Veranstalter stellen das Zustandekommen der Festivals sicher und fördern die Akzeptanz von rechten Strömungen bei nicht-nazistischen Jugendkulturen, wie z.B. in der Black-Metal-Szene. Ein engmaschiges Netzwerk innerhalb der EU ermöglicht ein erweitertes Spektrum, ausgehend von dem Rechtsrock und der ebenfalls rechtsextremen Skinmusik. Die Mischung mit Okkultem, z.B. Satanismus mit nationalsozialistischem Gedankengut, führt zu menschenverachtenden Haltungen.

Weiterhin profitiert der Rechtsextremismus und -populismus vom Ausprobieren der von ihnen befürworteten Lebensform. Durch günstige Immobilienpreise und geringe kommunale Widerstandsbewegungen werden diese Versuche in prekären ländlichen Bereichen vor allem im Osten Deutschlands durchgeführt. Dies soll eine „national befreiten Zone“ schaffen, welche eine abgesonderte zweite Welt mit eigener Ökonomie und Kultur beinhaltet. Aber auch Kleinstädte können dabei betroffen sein. Beispielhaft ist die mit der NDP stark assoziierte Stadt Anklam zu nennen. Das (rechtsextreme) Institut für Staatspolitik äußert sich folgendermaßen:

„In den strukturschwachen Regionen stehen nicht nur ausreichend Häuser zur Verfügung, sondern es bieten sich auch beste Möglichkeiten, in Schulen, Kindergärten und Vereinen Ehrenämter zu besetzen und in die Gesellschaft vor Ort hineinzuwirken.“ (S. 171)

Der Rechtspopulismus erstarkt vor allem in den ländlichen Regionen. Bislang scheiterte er aber daran, ein ansprechendes Angebot für Jugendliche und junge Erwachsene zusammenzustellen. Unzufriedenheit und Zweifel an der Leistungsfähigkeit der deutschen Gesellschaft bzw. der Demokratie basieren auf Unruhen im Land, Verunsicherung und durch die hohe, jedoch bereits im Vergleich zu den Vorjahren zurückgegangene Zahl an Migranten nach Deutschland.

Desinteresse und Politikmüdigkeit führen nach Perger (2009) zu democracy fatigue und fordern eine Veränderung mit straffer Führung. Weiterhin wird durch den Rechtsextremismus Politik emotionalisiert. Durch die Zuspitzungen und die aufgeheizte Situation zeigt die Studie "Deutsche Zustände" deutlich, dass vermehrt Wähler: innen, die die NPD ablehnen, trotzdem eine autoritäre Führung befürworten.

Personen in ländlichen Regionen, die sich von den etablierten Parteien im Stich gelassen fühlen, tendieren dazu, rechte Parteien zu wählen. Deswegen ist es nötig und sinnvoll, bei der Diskussion über die Bekämpfung von Rechtsextremismus eine Strategie im Umgang mit den prekären ländlichen Regionen zu entwerfen. Dies bedarf weiterer Forschung von Sozialwissenschaftler: innen und Raumplaner: innen, damit die Politik richtige Entscheidungen treffen kann.

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