Sonntag, 21. Juni 2020

Chronologie: Marine Le Pen löst ihren Vater als FN-Vorsitzende ab (2011)

Dies ist ein Hintergrundtext von Reinhard Ullmann zu folgendem Eintrag in der Chronologie:

2011: Marine Le Pen wird Vorsitzende des FN

Laut einer Umfrage über die öffentliche Wahrnehmung des Front National (FN) der französischen Tageszeitung Le Figaro aus dem Jahr 2015 halten mittlerweile mehr als die Hälfte der Franzosen den FN für eine Partei ,,wie jede andere auch’’. Darüber hinaus konnten sich 45 % der Befragten vorstellen, bei der nächsten Wahl für den FN zu stimmen.

Diese Zahlen zeigen, dass sich seit der Abgabe des Parteivorsitzes von Jean-Marie Le Pen viel getan hat. Seit 2011 führt seine Tochter Marine Le Pen die Partei an und befindet sich mit dem FN im Aufwind. 2017 stellte sie sich Macron in der Stichwahl zur Präsidentschaftswahl und erhielt fast ein Drittel der Stimmen. In der Europawahl 2019 steigt der europafeindliche FN mit knapp 25 % der Stimmen zum größten Vertreter Frankreichs auf europäischer Ebene auf.

Wie kommt es, dass der FN trotz seiner rechtspopulistischen Position auf eine derartig starke Akzeptanz und Unterstützung in der französischen Gesellschaft trifft? Was hat Marine Le Pen seit ihrem Aufstieg an die Parteispitze verändert und welche Wirkung hat ihre Persönlichkeit auf die öffentliche Wahrnehmung ihrer Partei?

Der Gründer des FN, Jean-Marie Le Pen, erzielte mit seiner Partei ab Anfang der 90er-Jahre zwar beachtliche Wahlerfolge, seine Partei galt aber wegen ihrer Außendarstellung, sowie ihrer mangelnden inhaltlichen Flexibilität lange Zeit als ,,politisch isoliert’’ und ,,programmatisch erstarrt’’ (Syrovatka (2015), S. 394). Zwar gelang es dem FN, die extremen Rechten unter sich zu vereinen, aufgrund seiner offensichtlich antisemitischer sowie rassistischer Position galt der FN jedoch lange Zeit für die politische Mitte als unwählbar.

Auf dem Parteitag 2011 in Tours gibt Jean-Marie Le Pen den Parteivorsitz ab, seine Tochter Marine Le Pen kann sich gegen einen antisemitischen Konkurrenten durchsetzen. Die studierte Juristin ist selbst seit 2003 stellvertretende Vorsitzende der Partei und wird von ihrem Vater gezielt auf dessen Nachfolge vorbereitet. Der Führungswechsel des FN markiert neben einem ,,generationellen Wandel’’ (Backes (2019), S. 297) auch einen grundlegenden Strategiewechsel der Partei.

Marine Le Pen gelingt es, die Basis zusammenzuhalten, gleichzeitig bereitet sie ihre Partei auf eine ,,Öffnung zur Mitte’’ (Backes (2019), S. 297) vor. Dafür ändert sie systematisch das öffentliche Auftreten und die Außendarstellung des FN. Während sich die Partei unter Jean-Marie Le Pen in der Rolle der Opposition wohlfühlte, will Marine Le Pen mit der FN zur Regierungspartei aufsteigen und politische Verantwortung übernehmen. Dafür muss sie neue Wählermilieus von sich überzeugen und verändert konsequent die Außendarstellung, weniger aber die inhaltliche Ausrichtung ihrer Partei.

Unter ihrem Vater stellte vor allem der offene Antisemitismus innerhalb des FN lange Zeit eine ,,ideologische Sperre’’ (Backes (2019), S. 302) für dessen Wählbarkeit dar. Um ihre Glaubwürdigkeit zu festigen, veranlasst Marine Le Pen 2015 sogar den Ausschluss ihres Vaters aus der Partei, welcher aufgrund von zahlreichen Aussagen als antisemitisch gilt, und treibt damit eine Art Entdämonisierung ihrer Partei voran.

In ihrem 2012 erschienenen Buch "Pour que la France vive" relativiert und legitimiert sie rechtsextreme Einstellungen. Sie spricht sich für einen Wohlstandschauvinismus aus, der ausschließlich auf Fremdenfeindlichkeit beruht. Dabei bezieht sie sich auf das ,,droit du sol’’ (Backe (2019), S. 299), das Geburtsortsrecht, wonach der Geburtsort bestimmte Vorrechte gegenüber anderen Gruppen legitimiert.

Der FN vertritt unter ihrer Führung dieselben politischen Inhalte wie zuvor (die drei großen Themen des FN sind: Immigration, Unsicherheit und Arbeitslosigkeit), allerdings wird versucht, diese neu zu ,,verpacken’’ und damit neuen Wählergruppen schmackhaft zu machen. Sie bedient sich zahlreicher rechtspopulistischer Strategien und es gelingt ihr, immer mehr Zustimmung in ,,breite[n] Bevölkerungskreise[n]’’ (Backes (2019), S. 301) zu erhalten. Durch das Engagement in Gewerkschaften dringt der FN außerdem immer mehr in das Arbeitermilieu vor und stellt mittlerweile eine ernstzunehmende Alternative zur politischen Linken dar, die dort bisher hauptsächlich aktiv war.

Mit großem rhetorischen Geschick führt Marine Le Pen strukturelle wirtschaftliche Probleme (vgl. Syrovatka (2015), S. 378) auf die Inkompetenz sowie den Egoismus der politischen Elite zurück, ordnet ihre Partei weder der Linken noch der Rechten zu und erweckt damit den Anschein, die einzig wahre Vertretung des Volkes gegen das politische Establishment zu sein (vgl. Le Pen (2012), S. 128-130).

Die französischen ,,Vielfachkrisen’’ (Syrovatka (2015), S. 387) nutzt sie geschickt zu ihrem eigenen Vorteil. Für die hohe Arbeitslosenquote, die stagnierende Wirtschaft, den Zuwachs bei der sozialen Ungleichheit und die islamistischen Terroranschläge in Paris macht sie die Europäische Union verantwortlich. Diese stellt Marine Le Pen als Feindbild dar, da sie die ,,nationale Souveränität zerstöre’’ und ,,als Einfallstor islamischer Immigration’’ fungiere (Backes (2019), S. 305).

Darüber hinaus spielt ihr die Unzufriedenheit eines Großteils der französischen Gesellschaft in die Karten. Mit der Wahl des sozialistischen Präsidenten François Hollande hofften viele in der Gesellschaft auf eine Besserung ihrer wirtschaftlichen Situation. Allerdings führte Hollande während seiner Amtszeit die Reformpolitik von Sarkozy fort und enttäuschte damit viele Wähler.

Der nachfolgende Präsident Macron vertritt zu Beginn seiner Amtszeit eine sehr liberale Politik und bringt mit seinen Reformplänen weite Teile der Bevölkerung gegen sich auf. Die Bewegung der Gelbwesten sowie wochenlange Streiks gegen die von Macron geplante Rentenreform Ende 2019 spiegeln die allgemeine Unzufriedenheit in der französischen Bevölkerung wider. Somit kommt es, dass der FN immer mehr zum Auffanglager für die enttäuschte linke Wählerschaft wird.

Um die Partei tiefer in der Mitte der Gesellschaft zu positionieren, entschließt sich Marine Le Pen 2018 zur Umbenennung der Partei von Front National (FN) zu Rassemblement National (RN). Dabei ersetzt sie den radikalen und extremen Begriff ,,Front’’ durch ,,Vereinigung’’. Der neue Parteiname steht symbolisch für die von Marine Le Pen vorangetriebene Entdiabolisierung.

Auch ihre Persönlichkeit spielt für die Mobilisierung neuer Wählergruppen eine entscheidende Rolle. Marine Le Pen ist in zweiter Ehe geschieden, war alleinerziehende Mutter und hat eine Führungsposition inne. Sie verkörpert ,,den Typus der modernen, emanzipierten Frau’’ (vgl. Backes (2019), S. 303) und wird dadurch besonders bei jungen Wählergruppen zur Identifikationsfigur.

Manche wagen sogar den Vergleich mit Jeanne d’Arc, der Jungfrau von Orléans, die Frankreich im 100-jährigen Krieg von den Engländern befreit hat (vgl. Guérot (2015), S. 179). Die Partei glorifiziert ihre Vorsitzende als Heldin, als die ,,einzig wahre Alternative’’ (Backes (2019), S. 307) und baut auf ihre starke Rhetorik sowie ihre zur Schau gestellte Empathie.

Bei den Präsidentschaftswahlen 2022 will Marine Le Pen einen neuen Anlauf auf das höchste politische Amt Frankreichs nehmen. Aktuell hat sie sich stark aus dem politischen Diskurs zurückgezogen, ihrer Beliebtheit schadet dies laut aktuellen Umfragen aber nicht.

Mittlerweile engagiert sich bereits Marion Maréchal Le Pen, die Nichte von Marine Le Pen, in der Partei. Es scheint so, als ob der neue RN auch in Zukunft auf die Familientradition setzt.

Quellenangaben
  • Backes, Uwe (2019): Rechtspopulismus in Frankreich, in: Rechtspopulismus in Einwanderungsgesellschaften, Hrsg. Panreck, Isabelle-Christine, Wiesbaden: Springer VS, S. 293-310
  • Guérot, Ulrike (2015): Marine Le Pen und die Metamorphose der französischen Republik, in: Leviathan, Vol. 43, Nr. 2, S. 177-121
  • Le Figaro (2015): FN: Un parti comme les autres selon un sondage; https://www.lefigaro.fr/flash-actu/2015/01/30/97001-20150130FILWWW00371-fn-un-parti-comme-les-autres-selon-un-sondage.php, Zugriff: 18.06.2020
  • Le Pen, Marine (2012): Pour que la France vive, Paris: Éditions Grancher
  • Le Pen, Marine (2016): France’s Next Revolution? A Conversation With Marine Le Pen, Council on Foreign Relations, in: Foreign Affairs,Vol. 95, Nr. 6, S. 2-8
  • Marian, Michel (2011): La résistible ascension de Marine Le Pen, in: Esprit, Nr. 374, Mai 2011, S. 95-103
  • Syrovatka, Felix (2015): Der Aufstieg der Madame Le Pen. Die Strategie der Front National im Europawahlkampf 2014, Universität Tübingen

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen