Donnerstag, 18. Juni 2020

Chronologie: Ausschluss von Jean-Marie Le Pen (2015)

Dies ist ein Hintergrundtext von Ann-Kathrin Hummel zu folgendem Eintrag in der Chronologie:

2015: Jean-Marie Le Pen wird aus dem FN ausgeschlossen

Im August 2015 wurde Jean-Marie Le Pen auf Veranlassung seiner eigenen Tochter, Marine Le Pen, wegen „schwerer Verfehlungen“ aus der Partei Front National ausgeschlossen, nachdem er sich wiederholt antisemitisch geäußert hatte. Bereits im Frühjahr 2015 hatte die Parteispitze mit ihm gebrochen, nachdem er erneut die Gaskammern der Nazis als Detail der Geschichte verharmloste (Zeit Online 20.08.2015).

Jean-Marie Le Pen, der seit Gründung des Front National 1972 bis zur Übernahme durch seine Tochter im Jahr 2011 den Parteivorsitz innehatte, war bekannt für seine rassistischen und judenfeindlichen Äußerungen (Zeit Online 05.05.2015). So bezeichnete er die deutsche Besatzung Frankreichs im Zweiten Weltkrieg als nicht besonders unmenschlich (Spiegel 20.11.2014) und das Ebola-Virus in Afrika als Lösung für das Problem der dortigen Überbevölkerung (Willsher 2014). Bereits 1987 hatte er die Gaskammern der Nazis in einem Interview als Detail des Zweiten Weltkriegs bezeichnet. Diese Aussage wiederholte er über Jahrzehnte hinweg und wurde mehrfach zu Geldstrafen verurteilt (Spiegel 03.04.2015).

In den ersten Jahren konnte der Front National keine wirklichen Erfolge erzielen. Bei den Präsidentschaftswahlen 1974 bekam er nicht einmal ein Prozent der Stimmen. Doch bereits 1984 zog die Partei mit elf Prozent der Stimmen in das EU-Parlament ein. Im Jahr 2002 feierte Jean-Marie Le Pen seinen größten Triumph: Er profitierte von den zerstrittenen linken Parteien, die sich gegenseitig Konkurrenz machten und ihre Wähler nicht mobilisieren konnten, und landete mit dem Konservativen Jacques Chirac in der Stichwahl um das Präsidentenamt. Auch wenn Chirac klar siegte, sorgte die Tatsache, dass die rechtsextreme Partei so erfolgreich war, für einen Schock bei den Franzosen. In den Folgejahren konnte Jean-Marie Le Pen an diesen Erfolg nicht mehr anknüpfen.
(Volkert 2017)

Seine Tochter, Marine Le Pen, die seit 2003 stellvertretende Vorsitzende des Front National war, etablierte neue Themen innerhalb der Partei. Dazu zählten die Abschaffung des Euro, neue Grenzkontrollen, wirtschaftlichen Protektionismus sowie das Feindbild Islam. 2011 übernahm sie den Parteivorsitz von ihrem Vater (Volkert 2017). Damals wurde überlegt, ob es sich um ein Doppelspiel handelte: Jean-Marie Le Pen würde weiterhin die Rechtsextremen ansprechen, während Marine Le Pen vor allem für junge und gemäßigte Wähler interessant sei. Die Partei wäre damit für eine breite Bevölkerung wählbar (Ulrich 2015).


Seit der Übernahme des Parteivorsitzes treibt Marine Le Pen einen innerparteilichen Wandlungsprozess voran. Mit dem Ziel der „Entdiabolisierung“ möchte sie die Partei für eine breite Wählerschaft wählbar machen. Sie ließ das Internet nach antisemitischen und rassistischen Aussagen von Parteimitgliedern durchforsten und schloss diese daraufhin konsequent aus der Partei aus. Auf ursprünglich rechtsextreme Mitglieder folgten zum Großteil gut ausgebildete, junge Personen aus dem Parteinachwuchs (Kempin 2017).

Auch wirtschaftspolitisch änderte Marine Le Pen den Kurs: Sie war für eine starke Einmischung des Staates in die Wirtschaft und sprach sich für sozialistische Ansätze aus, während ihr Vater neoliberale Ansätze vertrat. Für die schlechte ökonomische Lage und die innere Verunsicherung machte sie die Europäische Union und den Euro verantwortlich (Ulrich 2015). Bewusst inszenierte sie sich und die Partei als gemäßigt und modern, den Werten und Normen der französischen Bevölkerung verpflichtet.

Jean-Marie Le Pen verherrlichte die Vergangenheit. Seine Tochter hingegen richtete den Fokus der Partei zukunftsorientiert aus. Während ihr Vater die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung aus der Systemopposition heraus durch gezielte Provokation zu destabilisieren versuchte, wollte sie das System von Grund auf und von innen heraus verändern. Durch den eingeschlagenen Kurswechsel von einer rechtsextremen zu einer rechtspopulistischen Partei wollte Marine Le Pen den Front National salonfähig machen. Offen rassistische und antisemitische Aussagen werden von ihr nicht geduldet (Kempin 2017).

Die Maßnahmen haben sich bewährt: Seit der Übernahme des Parteivorsitzes 2011 bewegt sich der Front National auf Erfolgskurs. Mit Marine Le Pens Anspruch, weder links noch rechts, sondern die Alternative für enttäuschte Wähler aller Parteien zu sein (die "Vergessenen"), gilt es auch unter gemäßigten Franzosen nicht mehr als Tabu, dem Front National die Stimme zu geben. Bereits bei der Präsidentschaftswahl 2012 wurde sie Dritte (Volkert 2017). Dabei erhielt sie 35 Prozent der Stimmen aus dem Lager derjenigen, die sich eigentlich gar nicht für Politik interessierten (Kempin 2017). Und aus der Europawahl 2014 ging der Front National sogar als stärkste Kraft hervor (Volkert 2017).

Marine Le Pen hat es sich zum Ziel gesetzt, gemeinsam mit weiteren Rechtspopulisten, wie dem niederländischen Rechtspopulist Geert Wilders und dem damaligen FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, eine gemeinsame Fraktion im Europäischen Parlament zu bilden. Die wiederholten antisemitischen Ausfälle ihres Vaters kamen bei ihren „Verbündeten“ jedoch nicht gut an. Als Jean-Marie Le Pen auf Front-National-Kritiker angesprochen wurde, die im Falle seines Wahlsieges angekündigt hatten, Frankreich zu verlassen, antwortete er bezogen auf den jüdischen Starmusiker Patrick Bruel: „Ja, das erstaunt mich nicht. Wissen Sie, da machen wir das nächste Mal eine Ofenladung.“ Von Strache wurde diese Aussage mit „So etwas hat in der politischen Auseinandersetzung nichts verloren“ und Wilders mit „widerlich“ kritisiert (Hebel / Schmitz 2014).

Marine Le Pen, die sich und die Partei seit ihrer Wahl als Parteivorsitzende öffentlich zunehmend von klar rechtsextremistischem Gedankengut zu distanzieren versuchte und Rassismus in der Partei als Tabu erklärt hat, schadeten die wiederholten judenfeindliche Provokationen und die Verharmlosung des Holocaust durch ihren Vater (ORF 20.08.2015). Sie beschädigten das Image der Partei zunehmend. Sie sprach offen über tiefe Meinungsverschiedenheiten zwischen ihr und ihrem Vater (Spiegel 03.04.2015). Jean-Marie Le Pens Ausfälle waren eine politische Belastung für die Partei und seine Tochter. Marine Le Pens Versuch, dem Front National ein bürgerliches Image zu verschaffen, ohne inhaltlich von Ausländer-, Europa- oder Islamfeindlichkeit abzurücken, wurden durch seine ideologischen Aussagen immer wieder gefährdet (Spiegel 12.05.2015).

Im April 2015 hatte Marine Le Pen sich auf die Frage, was sie gegen derartige Aussagen ihres Vaters tun könne, noch folgendermaßen geäußert: „Nichts. Diese Äußerungen schaden nicht der Glaubwürdigkeit des Front National, sondern seiner Glaubwürdigkeit“ (Spiegel 03.04.2015). Auch der damalige Generalsekretär Nicolas Bay wertete die Äußerungen Jean-Marie Le Pens zwar als „überhaupt nicht der Linie“ der Partei entsprechend, hielt einen Parteiausschluss aber für undenkbar (Spiegel 03.04.2015). Doch nur einen Monat später wurde die Parteimitgliedschaft Jean-Marie Le Pens ausgesetzt. „Wir sind nicht nur Vater und Tochter, sondern in erster Linie politische Führer mit großer Verantwortung“, kommentierte Marine Le Pen die Entscheidung (Simon 2015). Ihr Vater habe gegen die Parteilinie verstoßen. Es sei nicht mehr vertretbar, dass er damit der Partei schade (Zeit Online 03.05.2015).

Das Bestreben Marine Le Pens, der Partei ein neues Image zu verleihen, verbunden mit dem Ausschluss offen rassistischer Parteimitglieder gipfelten in der Suspendierung der Parteimitgliedschaft ihres eigenen Vaters. Damit verlor der „Menhir“ dieser Partei nach über vierzig Jahren seine Mitgliedschaft und durfte sich nun nicht mehr im Namen der Partei äußern (Simons 2015). Die „Entdiabolisierung“ hat den Front National zwar nach außen hin verändert, im Kern ist er jedoch fast genauso rechtsradikal wie unter Jean Le Pen. Es geht lediglich darum, ihn für eine breite Bevölkerung wählbar zu machen (Al-Serori 2017). Marine Le Pen war mit ihrer Strategie bisher erfolgreich (Meister 2015).

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