Donnerstag, 25. Juni 2020

Chronologie: „Identitäre Bewegung“ gegründet (2003)

Dies ist ein Hintergrundtext von Katrin Hübl zu folgendem Eintrag in der Chronologie:

2003: „Identitäre Bewegung“ in Frankreich gegründet

Die Identitäre Bewegung ist eine europaweite aktionistische Bewegung, die 2003 in Frankreich ins Leben gerufen wurde und als rechtsextrem eingestuft wird. Sie gilt als Fortsetzungsbewegung der radikalen Bewegungen „Nouvelle Résistance“ und „Unité Radicale“, die seit den 90er Jahren in Frankreich aktiv waren (Camus 2017, S. 238). Nach dem Verbot der radikalen Gruppierung „Unité Radicale“ im Jahr 2002 aufgrund eines Anschlags auf den damaligen französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac, gründeten die AnhängerInnen gemeinsam mit der Jugendorganisation „Jeunesses Identitaires“ am 6. April 2003 die neurechte Organisation „Bloc Identitaire“ (Eckes 2016, S. 101).

Der „Bloc Identitaire“, heute umbenannt in „Les Identitaires“, gilt als die größte und einflussreichste Organisation im Rahmen der Identitären Bewegung. Obwohl sie eine zahlenmäßig kleine Gruppierung ist, hat sie sich durch ihren Aktionismus zur „wichtigsten außerparlamentarischen Opposition“ (Camus 2017, S. 246) in Frankreich entwickelt. Sie führt gemeinsam mit ihrer Jugendorganisation „Génération Identitaire“ Aktionen durch, die vor allem junge Menschen ansprechen sollen (Les Identitaires 2020).


Einige Jahre nach der Gründung des „Bloc Identitaire“ in Frankreich breitete sich die Identitäre Bewegung auch in anderen europäischen Ländern aus. Die länderübergreifende Vernetzung und die Organisation der Aktionen innerhalb der Bewegung finden vor allem über die sozialen Medien in Form von Facebook-Gruppen und Internetseiten statt (Eckes 2016, S. 105). Neben der Präsenz in den sozialen Medien werden Straßenproteste, Kundgebungen und Demonstrationen organisiert, mittels derer die Identitäre Bewegung in Europa die Stimme für (ihrer Meinung nach) "echte Meinungsfreiheit" erhebt und Kritik an der Identitäts- und Einwanderungspolitik übt (IBD 2020).

Das ideologische Grundkonzept der Identitären Bewegung setzt sich aus der Forderung nach dem Erhalt der "ethnokulturellen Identität" und der Ablehnung der multikulturellen Gesellschaft zusammen. Das Hauptziel, „die Bewahrung der Heimat, ohne Einschränkung der Freiheit durch ‚fremde‘ Einflüsse, sodass sich auf die ‚eigene‘ Tradition berufen werden kann“ (Eckes 2016, S. 104), wird durch das "Drei-Ebenen-Konzept" der "ethnokulturellen Identität" gestützt.

Die "ethnokulturelle Identität" spielt sich in diesem Konzept auf regionaler, nationaler und europäischer Ebene ab. Dabei befindet sich der Nationalstaat als Vermittlungsebene zwischen der Heimat in der Region und der Zugehörigkeit zu einer übergeordneten Zivilisationsgemeinschaft (Europa) (Camus 2017, S. 235). Diese räumlich begrenzte Identität gilt es aus Sicht der AnhängerInnen der Identitären Bewegung zu bewahren, indem keine Vermischung oder Überschneidung von Gesellschaften stattfindet: Jedes Volk habe eigene Wertvorstellungen, eine eigene Kultur, Religion, etc., die nur so lange erhalten bleiben könnten, wie die Völker in ihrem eigenen Territorium leben (Pfeiffer 2018, S. 37).

Die Idee des "Ethnopluralismus" wird von den „Identitären“ als Gegenentwurf zum "Universalismus" gesehen, da die Etablierung einer Einheitskultur im Konflikt mit dem „Recht auf Verschiedenheit“ (IBD 2020) stehe. Dabei seien Homogenität innerhalb einer Gemeinschaft und die Heterogenität zwischen den Gemeinschaften die Grundpfeiler für die Bewahrung der jeweiligen Identität der ethnischen Gemeinschaften und sollen als solche erhalten bleiben (IBD 2020).

Für die AnhängerInnen der Identitären Bewegung wird die Heterogenisierung von Gesellschaften durch die Einwanderung nicht-europäischer Kulturgemeinschaften als große Gefahr für die Homogenität und das soziale Zusammenleben innerhalb der Gesellschaft wahrgenommen. Der daraus resultierende Multikulturalismus gilt in diesem Zusammenhang als bewusst herbeigeführtes Projekt der politischen und gesellschaftlichen Eliten, das die "unkontrollierte Masseneinwanderung" und damit die Fragmentierung sowie die Instabilität der Gesellschaft in Form von steigender Gewaltbereitschaft und dem Verlust von Frieden und Sicherheit vorantreibe (IBD 2020). Die Identitäre Bewegung setzt sich aus diesem Grund gegen die "kulturelle Entfremdung" der Heimat ein, welche durch die Unterstützer der Zuwanderung in Europa von innen, sogenannte „Multikultis“, und durch die Migranten von außen, insbesondere von Muslimen, gefördert wird.

Der Protest von Unterstützern der Identitären Bewegung richtet sich zudem gegen den „Großen Austausch“ (IBD 2020), den sie hinter dem Migrationsprozess sehen. Die heimische Bevölkerung werde zunehmend von außereuropäischen Einwanderern verdrängt und werde in diesem Szenario von der Politik im Stich gelassen. Folglich befinde sich Europa in einer demografischen Krise, da die Geburtenraten der Länder zurückgehen und die Zuwanderung steigt (Schellhöh 2018, S. 16).

Die Organisationen im Rahmen der Identitären Bewegung fordern aus diesen Gründen die Umkehrung der Migrationsbewegung unter dem Stichwort „Remigration“ und die damit verbundene Rückgewinnung der regionalen, nationalen und europäischen Werte und Traditionen (Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration BW 2019, S. 186). Vom starken Patriotismus geleitet, sprechen die Unterstützer von einem „Kampf um Ideen, Begriffe und politische Positionen“, der die "Selbstabschaffung" durch Migration und "Multikulti" verhindern solle (IBD 2020).

Die fremdenfeindliche Einstellung der Identitären Bewegung lässt sich unter anderem an der europaweiten Kampagne „Defend Europe“ erkennen und dient zugleich als Beispiel für die länderübergreifende Zusammenarbeit. Während die Unterstützung der Identitären Bewegung in kleineren Vereinigungen, wie der „Generation of National Identity - United Kingdom (GoNI)“ in Großbritannien, der Facebookseite „Generación Identitaria“ in Spanien oder der Facebookgruppe „Identitær Bergen“ in Norwegen, hauptsächlich über die Aktivität in sozialen Netzwerken stattfindet, sind neben Frankreich die größten Aktivitäten außerhalb des Internet in Deutschland und Österreich zu verorten (Eckes 2016, S. 105).

Die „Identitäre Bewegung Deutschland (IBD) e.V.“ thematisiert als außerparlamentarische Oppositionsbewegung die zentralen Konzepte der identitären Ideologie in Form von Aktionen, Kampagnen und politischer Bildungsarbeit (IBD 2020). Im Herbst 2012 wurden die ersten Aktivitäten des eingetragenen Vereins festgestellt, welcher mittlerweile rund 500 aktive Mitglieder umfasst (Eckes 2016, S. 110ff.).

In Baden-Württemberg treten unter anderem die Untergruppierungen IB Schwaben und IB Baden in Erscheinung, die unter Beobachtung des Verfassungsschutzes Baden-Württemberg stehen (Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration BW 2019, S. 189). Laut dem Bericht des Verfassungsschutzes Baden-Württemberg zum Jahr 2018 kann das „ethnische Verständnis des Volksbegriffs und die damit verbundene Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsteile“ (S. 186) der identitären Ideologie als widersprüchlich gegenüber dem Grundgesetz angesehen werden. Es wird der Identitären Bewegung damit vorgeworfen, das elementare Recht der Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art.1 Abs.1 Satz 1 GG) und den Gleichheitsgrundsatz (Art.3 GG) zu missachten.

Mit ihrem "ethnopluralistischen" Standpunkt und Slogans wie „100% Identitär, 0% Rassismus“ (Forestier 2014, S. 124) versucht sich die Identitäre Bewegung vom Rechtextremismus im klassischen Sinne zu distanzieren. Jedoch macht die Besinnung auf Heimatliebe und Tradition sowie die damit verbundene Ablehnung von Einwanderung die fremden- und islamfeindliche Ausrichtung ebenso wie die Positionierung im neurechten Spektrum deutlich.

Literatur
  • Camus, Jean-Yves. 2017. Die Identitäre Bewegung oder die Konstruktion eines Mythos europäischer Ursprünge. In Europäische Identität in der Krise?: Europäische Identitätsforschung und Rechtspopulismusforschung im Dialog, hrsg. Gudrun Hentges, Kristina Nottbohm und Hans-Wolfgang Platzer, 233–247. Wiesbaden: Springer VS.
  • Eckes, Christine. Ausbreitung der "Identitären Bewegung" in Europa und ihre ideologischen Grundzüge. In Journal EXIT-Deutschland, Bd. 04, hrsg. Bernd Wagner, 100–114.
  • Forestier, Mathilde. Die Identitäre Bewegung in Frankreich - Ein Portrait. In Journal EXIT-Deutschland, 03/2014, hrsg. Bernd Wagner, 117–148.
  • Identitäre Bewegung Deutschland e.V. 2020. Forderungen. https://www.identitaere-bewegung.de/forderungen/. Zugegriffen: 15. Juni 2020.
  • Les Identitaires. 2020. Les Identitaires - Laboratoire d'idées au service de la civilisation européenne. https://www.les-identitaires.com/. Zugegriffen: 22. Juni 2020.
  • Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration Baden-Württemberg. 2019. Verfassungsschutzbericht 2018. https://www.verfassungsschutz-bw.de/site/lfv/get/documents/IV.Dachmandant/Datenquelle/PDF/2019_Aktuell/Verfassungsschutzbericht_BW_2018.pdf.
  • Pfeiffer, Thomas. 2018. Wir lieben das Fremde – in der Fremde: Ethnopluralismus als Diskursmuster und -strategie im Rechtsextremismus. In Großerzählungen des Extremen: Neue Rechte, Populismus, Islamismus, War on terror, hrsg. Jennifer Schellhöh, Jo Reichertz, Volker Heins und Armin Flender, 35–56. Bielefeld: transcript.
  • Schellhöh, Jennifer. 2018. Abgrenzung an allen Fronten: Die Neue Rechte und ihre ethnopluralistische Erzählung. In Großerzählungen des Extremen: Neue Rechte, Populismus, Islamismus, War on terror, hrsg. Jennifer Schellhöh, Jo Reichertz, Volker Heins und Armin Flender, 15–20. Bielefeld: transcript.

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