Donnerstag, 2. Juli 2020

Chronologie: Gründung der Nippon Kaigi (1997)

Dies ist ein Hintergrundtext von Roman Strauß zu folgendem Eintrag in der Chronologie

1997: Nippon Kaigi wird gegründet (Japan)

In diesem Beitrag wollen wir den Blick auf ein Land in Ostasien werfen, mit dem Deutschland sonst viel gemein hat: Japan. Deutschland und Japan gehören zu den größten Volkswirtschaften und den am schnellsten alternden Gesellschaften der Welt (vgl. Lill, 2020).

Doch wir wollen nun einen Aspekt beleuchten, der hierzulande relativ unbekannt ist. Es geht um Nippon Kaigi, zu deutsch „Japan-Konferenz“ (JK) oder „Japanvereinigung“. Dabei handelt es sich um die derzeit größte und einflussreichste Organisation der politischen Rechten in Japan (vgl. Ryoko, 2018, S. 132).

Die extrem nationalistische und konservativ geprägte JK ist mit höchsten Regierungs- und anderen offiziellen Kreisen und Organisationen vernetzt. Als parteiungebundene Vereinigung, die die japanische Nachkriegspolitik insbesondere durch die US-Besatzung geprägt sieht, zielt sie darauf ab, eine nationalbewusstere Politik zu schaffen (vgl. Heinrich, Vogt, 2017, S. 31).

Vorläuferorganisationen

Die JK hat zwei Vorläufer: 1974 entstand der „Verband zum Schutz Japans“, der sich gegen die 68er-Bewegung richtete und jede Art der Reform oder Demokratisierung mit allen Mitteln verhindern wollte. Dieser Verband baute darauf, nicht die Gesellschaft zu reformieren, sondern an der eigenen Lebensführung zu arbeiten. Fleiß, Sparsamkeit und Fügsamkeit standen im Mittelpunkt.

Der zweite Vorläufer, die „Nationalkonferenz zum Schutz Japans“, wurde 1981 gegründet. Sie pochte darauf, die autoritäre Gesellschaftsordnung der Vorkriegszeit wiederherzustellen, da der Individualismus die japanische Gesellschaft verderbe (vgl. Ryoko, 2018, S. 133). Diese Nationalkonferenz gründete zwei Jahre später den „Verein für Sorge um Geschichtsbücher“, der den sogenannten „Schulbuchstreit“ erneut mitanfachte - man wolle die „selbstverachtende Historiografie“ im Schulbuch abschaffen.

Der Schulbuchstreit fand erstmals Mitte der 1950er Jahre statt, als konservative politische Kräfte eine Kampagne gegen die angeblich für die Verbreitung der kommunistischen Ideologie instrumentalisierten Schulbücher startete, und flammte 1982 erneut auf (vgl. Richter, 2003, S. 88). Da das Schulbuch als bedeutendes Medium im Mittelpunkt der Institution Schule steht, spielt es eine wichtige Rolle im komplexen Prozess der Konstruktion nationaler Identitäten und nationaler Selbstbehauptungen gegenüber anderen (vgl. Richter, 2003, S. 87). Ziel ist es, eine Geschichte des japanischen Staates zu erzählen, die unliebsame geschichtliche Themen relativiert und auf die (vor allem junge) Japaner stolz sein können und sollen.

Geschichte soll im dichotomischen Rahmen „innen“ vs. „außen“ dargestellt werden. „Außen“ ist das, wovor Japan sich schützen bzw. wogegen es sich zur Wehr setzen muss. „Innen“ steht in dem Sinne für Japan sowie für gemeinschaftlichen Zusammenhalt, der Einheitsbildung und der Dienstbarkeit, meist auf den Staat bezogen. Diese Darstellung des „feindlichen Außen“, das sich auch einer entsprechenden Sprache bedient, fungiert inhaltlich zugleich als Konstruktionsprinzip von positiver Identität als Nation bzw. Staatsvolk der Japaner (vgl. Richter, 2003, S. 101).

Der Schulbuchstreit steht somit als Symbol für Verunsicherungen und Identitätskonflikte auf individueller und nationaler Ebene, deren Lösung nicht selten in der historischen Neufundierung dieser Identitäten gesucht wird und noch nicht final gefunden ist (vgl. Richter, 2003, S. 88).

Entstehung der Nippon Kaigi

Der "Verband zum Schutz Japans" und die "Nationalkonferenz zum Schutz Japans" vereinigten sich am 30. Mai 1997 zu Nippon Kaigi (Japan-Konferenz), mit der Intention, eine „Nationalbewegung“ ins Leben zu rufen - sie erweiterte ihre Ziele von der Änderung des Schulunterrichts auf das Thema Erziehung im Allgemeinen (vgl. Ryoko, 2018, S. 134).

Im Oktober 2014 gründete die JK die „Bürgervereinigung zur Schaffung einer Verfassung für das schöne Japan“, die als Bürgerbewegung auftritt. Diese Vereinigung strebt an, die gegenwärtige Verfassung zu ändern, da diese das Ziel der Rückkehr zu einer vermeintlich idealen Vergangenheit verhindert. Die Bürgervereinigung ist in dem Sinne ein wahrer Erfolg der JK, da sie in der Öffentlichkeit immer präsenter wird und sich ihr Einfluss stetig ausdehnt: der Höhepunkt der Japan-Konferenz war bis dato ihre Jahresvollversammlung am 11. November 2015, welche von 11.000 Teilnehmer*innen besucht wurde und eine auf Leinwand ausgestrahlte Videobotschaft des aktuellen Premierministers Shinzo Abe beinhaltete (vgl. Ryoko, 2018, S. 135).

Struktur der Nippon Kaigi

Die rechtsnationale Vereinigung Nippon Kaigi hat als zentrales Ziel eine Verfassungsreform (vgl. Richter, 2003, S. 95), für welche sie seit Jahren offensiv eintritt. Diese Verfassungsrevision hat laut Kritikern wenige demokratische Inhalte und setzt sich beispielsweise für eine entschieden patriotische Erziehung an Schulen ein.

Auch die Außen- und Sicherheitspolitik des Premierminister Abe könnte von diesem Denken geprägt worden sein (vgl. Heinrich, Vogt, 2017, S. 18). Weitere Ziele und Hauptanliegen der Japan-Konferenz sind beispielsweise die Förderung patriotischer Erziehung und der Loyalität gegenüber dem Staat und dem Kaiser, der Wiederaufbau der Streitkräfte, sie spricht sich gegen eine „Überbetonung der Bürgerrechte“ in der Bildung, gegen „liberale“ Geschlechtererziehung und die Gleichberechtigung der Geschlechter am Arbeitsplatz aus und fordert ein staatliches Vorgehen gegen linke und liberale Zeitungen sowie gegen linke Lehrergewerkschaften (vgl. Shibuichi, 2017b, S. 193ff).

Zielgruppe der Japan-Konferenz sind junge Japaner. Ihnen soll „wieder“ ermöglicht werden, stolz auf ihr Land und seine Traditionen zu sein. Faktisch ist die JK schwer zu erfassen, da es keine festen Mitgliedschaften und dementsprechend Mitgliederzahlen gibt. Schätzungen zufolge liegt die Zahl bei mehr als 35.000 Mitgliedern (vgl. Schäfer, Evert, Heinrich, 2017) (Weidemann, 2017), die vielerorts in lokalen Gruppen und Verbänden agieren, wobei oft nicht ersichtlich ist, wo die Grenze zwischen Teilnehmer*innen und Außenstehenden verläuft. So ist die JK eher als Netzwerk denn als Organisation zu betrachten (vgl. Ryoko, 2018, S. 140).

Die regionalen Ableger der Japan-Konferenz stehen als Beweis dafür, dass sie sich selbst als dezentralisierte „grassroots“-Bewegung deklariert, was dazu führt, dass N. Kato, der für die New York Times schreibt, Ähnlichkeiten zu Struktur und Auftreten der Tea Party sieht (vgl. Kato, 2014).

Mitglieder findet die JK heute in einfachen Bürgern und in der Oberschicht – sie empfinden die Beteiligung an der JK als eine Bewegung der Schwachen gegen die Starken, denn immer mehr Menschen fühlen sich in der japanischen Gesellschaft benachteiligt. Faktor hierfür ist die Zunahme prekärer (seit Jahren sinkende Reallöhne) und befristeter Beschäftigung, und genau wie in Deutschland geht die Schere zwischen Arm und Reich in den letzten Jahren immer weiter auseinander (vgl. Ryoko, 2018, S. 138). Daher ist es nicht verwunderlich, dass die JK immer mehr Menschen anzieht, die sich selbst als zur bestehenden Gesellschaft nicht zugehörig verstehen und in der JK eine Möglichkeit sehen, an einer Art „Gegengesellschaft“ teilzunehmen (vgl. Ryoko, 2018, S. 139).

Spannend anzumerken ist, dass anders als hierzulande der Rechtspopulismus in Japan ein von oben gesteuerter Prozess ist (vgl. German-Foreign-Policy.Com, 2017). Daher solle man nicht annehmen, dass die Mehrheit der Japaner die Großmachtträume der Lobbyisten und Politiker teile (vgl. Weidemann, 2017).

Tamotsu Sugano, erfolgreicher japanischer Schriftsteller und scharfer Kritiker der JK, veröffentlichte im April 2016 das Buch „Nippon Kaigi no Kenkyu“ (Eine Untersuchung der Japan-Konferenz), welches schnell zum Bestseller wurde. Sugano beschreibt darin die JK als „demokratische“ Bewegung, die aber, sobald man ihr Gelegenheit dazu gebe, die Demokratie töten würde (vgl. Shibuichi, 2017a).

Premierminister Shinzo Abe

Shinzo Abe ist Premierminister Japans seit Ende Dezember 2012. Er war schon einmal Premierminister für zwölf Monate, nämlich von September 2006 bis September 2007. Sein Rücktritt erfolgte nach der Niederlage seiner Liberaldemokratischen Partei (LDP) bei der Wahl zum japanischen Oberhaus im Jahr 2007, bei der sie ihre Stellung als stärkste Kraft verlor und der Rücktritt Abes wenige Wochen später besiegelt wurde (vgl. Heinrich, Vogt, 2017, S. 12).

Abe, der in seiner ersten kurzen Amtszeit oft mit dem Vorwurf der Führungsschwäche konfrontiert wurde, überzeugt in seinen ab 2012 folgenden Amtszeiten mit festen Grundüberzeugungen in bestimmten Politikbereichen, mit besonderem Interesse für den Umbau des japanischen Staates (vgl. Heinrich, Vogt, 2017, S. 18). In seiner Rede zum ersten Amtsantritt am 29. September 2006 kündigte Shinzo Abe an, mit „Mut“ zahlreiche Reformen durchzusetzen, damit Japan wieder „stolz“ auf sich sein könne.

2012 führte er Wahlkampf mit dem Slogan „Take back Japan“ - man könnte also meinen, dass Donald Trumps „Make America Great Again“ sich hiervon hat inspirieren lassen. Shinzo Abe hat den Ruf, ein Nationalist zu sein, der mehr oder weniger versteckt Sympathien für eine Neubewertung von Japans Rolle im Zweiten Weltkrieg hegt (vgl. Heinrich, Vogt, 2017, S. 24). Dieser Ruf und das Auftreten Abes passen zu seiner aktiven Mitgliedschaft in der JK, der ebenfalls mehr als ein Drittel der japanische Parlamentsabgeordneten und über die Hälfte des japanischen Kabinetts angehört (vgl. Fritz, 2019).

Kritische Stimmen unterstellen der japanischen Demokratie schon seit langem, dass sie weniger vom Wähler als von einer relativ autonom agierenden Verwaltungselite und den Interessen von Großunternehmen bestimmt wird. Paradox erscheint, dass Abes Politik in weiten Teilen auf wenig Begeisterung stößt, sein Kabinett aber relativ hohes Ansehen genießt. Dies erklären einige Beobachter mit der Schwäche der Opposition, dass es also die Alternativlosigkeit sei, die Abe stark mache. Nicht die Überzeugung, Abe stehe für unterstützenswerte Politik, sondern die Überzeugung, Abe sei am besten geeignet, erklären, warum er fast durchgehend die politische Debatte dominiert (vgl. Heinrich, Vogt, 2017, S. 19).

Hoffnung besteht derzeit in aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen in Japan: Nicht zur die Zahl der Anhänger*innen der JK nimmt zu, sondern auch die der Kritiker*innen. Bürgerinitiativen, die die Verfassung erhalten wollen, treten immer entschlossener auf und zeigen sich öffentlich aktiver. Hierin zeigt sich, dass viele Bürger*innen über die Verbreitung der JK besorgt sind, und generell lässt sich eine Polarisierung der japanischen Gesellschaft feststellen (vgl. Ryoko, 2018, S. 140).

Literatur

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