Donnerstag, 4. Juli 2019

Rezension zu Heinrich Detering: Was heißt hier "wir"?

Detering, Heinrich (2019), Was heißt hier „wir“? – Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten, Reclam.

Rezension

Autor: Simon Baur

Kapitel 1: „Reizwörter und Leseweisen“

In diesem Kapitel macht der Autor auf den Sprachgebrauch und das Vokabular der parlamentarischen Rechten aufmerksam. Er nennt populäre Beispiele wie den „Vogelschiss“, die „Entsorgung“ und „Messermänner“. Er macht klar, dass durch diese, er nennt sie Kampfvokabeln, kalkulierte Verstöße gegen die Höflichkeitsregeln und das Taktempfinden vorgenommen werden. Hiermit versuchen die Akteure, Tabubrüche zu erzielen, um so Aufmerksamkeit zu generieren. Er geht auch darauf ein, dass sich keinesfalls an „verbotenen Aussagen“ bedient wird, die Aussagen werden erst im Kontext moralisch fragwürdig.

Er stellt dies exemplarisch am Beispiel von Gaulands Aussage, der Holocaust sei ein „Vogelschiss“, dar. Das Wort „Vogelschiss“ ist weder verboten noch irgendwie historisch negativ behaftet, jedoch im Kontext der Geschichte relativiert er damit die industrielle Vernichtung der Juden im dritten Reich. Detering geht auch darauf ein, dass Rechtspopulisten wie die AfD gerne von „Wir“, “ uns“, “unser“, „unsere Kultur“ sprechen. Der Autor stellt hier die Frage: Wer oder was ist das „wir“ um was sich alles dreht?


Kapitel 2: „Wir oder die Barbarei“

Hier nimmt der Autor den Faden aus dem vorangegangenen Kapitel auf und untersucht die Frage, wer eigentlich mit dem „wir“ gemeint sein soll. Er benennt ein Erklärungsmodell, das beispielsweise auch die AfD zu nutzen scheint: „Wir“ als Abgrenzung von den (vermeintlich) „Kulturfremden“. Hierbei wird ihm jedoch nicht klar (und die AfD liefert die Antwort offensichtlich auch nicht), wo die Grenzen verlaufen. Die AfD grenzt die „deutsche Kultur“ nämlich nicht zielgerichtet ab, sie nennt nur einige Feindbilder wie Muslime, Sinti und Roma etc., wobei letztere z.T. schon seit Generationen in Europa und Deutschland leben.

Detering macht auch wieder klar, dass die Tabubruchstrategie hier auch wieder aufgegriffen wird, denn er benennt viele hochrangige AfD-Mitglieder, die Muslime mit Barbaren gleichsetzen oder Flüchtligsströme mit Überschwemmungen und Naturkatastrophen. Dann beschreibt er noch, dass die parlamentarische Rechte ausdrücklich vor einer „Umvolkung“ warnt. Dies bedeutet, dass das „deutsche Volk“ durch ein „kulturfremdes Volk“ Stück für Stück ersetzt wird. Der Initiator dieses Unterfangens ist jedoch nicht klar. Weiter beschreibt er in diesem Kapitel, dass mittlerweile rhetorisch umformuliertes rechtsradikales Gedankengut zur Sprache der AfD gehört.

Kapitel 3: „Das System der Zweideutigkeit“

Wie der Name des Kapitels erahnen lässt, geht es in diesem Artikel um die Zweideutigkeit der Rhetorik der parlamentarischen Rechten, vornehmlich der AfD. Hier wird beschrieben, dass Redner wie Alexander Gauland scheinbar eindeutig Stellung beziehen, diese jedoch im selben Atemzug wieder verlassen. So beharrt beispielsweise Gauland darauf, sich auf demokratische Grundsätze zu berufen, fordert jedoch einen nicht näher definierten Systemwechsel.

Ferner geht es im Kapitel darum, wie durch rhetorisch geschickte und „unverfängliche“ Formulierungen radikale Thesen verbreitet werden. So sagte Seehofer einmal: „Die Migrationsfrage ist die Mutter aller politischen Probleme“. So einen Satz überliest oder überhört man sehr schnell. Dennoch ist die Aussage des Satzes sehr schwerwiegend. Denn schaut man genau hin, wird hier behauptet, dass es ohne die Migration keine Probleme mehr gebe. Sprich: Wären die Migranten nicht hier, gäbe es keinerlei Probleme. Alexander Gauland greift dieses Zitat auf und wirft im selben Atemzug Flüchtlinge, Migranten, Ausländer und Menschen mit anderer Hautfarbe in einen Topf.

Kapitel 4: „Unser Deutschland, unsere Vernichtung, unsere Rache“

Heinrich Detering macht in diesem Kapitel klar, wie in Kreisen der AfD mit historischen Ereignissen wie dem Zweiten Weltkrieg umgegangen wird. Björn Höcke betont immer wieder, dass die „deutsche Kultur“ Bestand hatte bis ins Jahre 1945. Höcke behauptet, dass durch die Bombardierung der Alliierten der Versuch unternommen worden wäre, dem „deutschen Volk“ radikal seine Identität zu rauben. Ihm zufolge ist die 1945 beginnende „Umerziehung“ der Deutschen nur die Fortführung dieser Unternehmung, die nun in Merkels Politik ihren Gipfel findet.

Detering macht auch darauf aufmerksam, wie verquer historische Ereignisse in Reden der AfD vorkommen. Wenn es um den  Zweiten Weltkrieg geht, wird kaum über die Verbrechen Nazideutschlands geredet, sondern von einem geheimen Plan der Alliierten, die Deutschen auszurotten. Historische Grausamkeiten wie der Holocaust werden ignoriert. Björn Höcke nennt das Holocaust-Denkmal ein Denkmal der Schande.

Kapitel 5: „Ich und meine Gemeinschaft“

In diesem Kapitel wird eine rhetorische Besonderheit vor allem von Gaulands und Höckes Reden benannt. Sie nehmen nicht nur die Abgrenzung „wir“ gegen „die andern“ vor, sondern auch „Euch“ von „Mir“. Dies macht sich an vielen Stellen bemerkbar, beispielsweise wenn Höcke verdeutlicht, dass er den "wahren Volkswillen" kennen und sowohl Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einwandfrei überblicken könne. Er weist auch darauf hin, die Partei bzw. das Volk auf den richtigen Weg zu weisen und die Lösung der Probleme zu kennen. Hier findet sich in Ansätzen die bei Rechtspopulisten oft zu findende „Leaderpersönlichkeit“ wieder. Auch Gauland tätigt vergleichbare Aussagen.

Kapitel 6: „Tausend Jahre, Zwölf Jahre“

Wie die Kapitelüberschrift erahnen lässt, geht es zuerst um Gaulands Rede, in der er den Nationalsozialismus mit einem Vogelschiss der Geschichte vergleicht. Er behauptet, dass die 12 Jahre NS-Zeit nur wenig Gewicht haben in einer „deutschen Erfolgsgeschichte", die laut ihm 1000 Jahre alt sei, was historisch sehr fragwürdig ist. Der Autor stellt sich gleichermaßen wie der Leser die Frage, worin sich dieser Erfolg manifestiert hat und was man sich genau darunter vorzustellen hat. Doch in der Aussage steckt wie in vielen Aussagen von Gauland und Höcke die Bagatellisierung des Holocausts.

Im zweiten Teil des Kapitels geht es um eine Auseinandersetzung zwischen dem stellvertretenden Vorsitzendem der AfD-Fraktion im baden-württembergischen Landtag, Emil Sänze, und der Landtagspräsidentin Muhterem Aras. Obwohl sie seit Jahren deutsche Staatsbürgerin ist, ist Sänze der Meinung, dass sie sich nicht zugehörig zum „Wir“ bezeichnen dürfe, da ihre Familie nicht seit jeher in Deutschland verwurzelt war. Das heißt, sie darf sich nicht als wahre Deutsche bezeichnen, da sie aus biologischer Sicht keine Deutsche sei. Überträgt man den Grundgedanken dahinter, wird jedem, der nicht eine einwandfreie "deutsche Herkunft" nachweisen kann, ein Mitspracherecht aberkannt, was - wie der Autor richtig bemerkt - stark an einen Ariernachweis erinnert.

Kapitel 7: „Unsere Sprache, unsere Kultur“

Hier wird beschrieben, wie versucht wird, die "deutsche Kultur" zu beschreiben. Es wird dabei deutlich, dass oft sehr gravierende Falschaussagen getroffen und historische Persönlichkeiten instrumentalisiert werden. So werden Texte von Goethe und Luther benutzt und in völlig falsche Kontexte gebracht, um nationale Ideologien zu verbreiten. Betrachtet man deren Hintergrundgeschichten, legt der Autor dar, so findet man heraus, dass diese Personen ganz andere Absichten gepflegt haben und ihnen das Wort sprichwörtlich „im Mund herumgedreht“ wird. Die deutsche Literatur, Philosophie und Theologie werden als Kampf für die deutsche Vorherrschaft begriffen.

Zusammenfassung und Leseempfehlung

Heinrich Detering arbeitet gut die sprachlichen Besonderheiten der parlamentarischen Rechten heraus. Er macht immer wieder klar, dass viel mit Provokationen und Tabubrüchen gearbeitet wird und arbeitet hier die verschiedenen Charakteristika des Sprachgebrauches heraus. Er weist darauf hin, dass immer ein Feindbild („die andern“) generiert wird, vor dem „das deutsche Volk" beschützt werden müsse. Die Reden und Texte sind so aufgebaut, dass unverfängliche Äußerungen im richtigen Kontext immense Bedeutungsänderungen erfahren (z.B. „Vogelschiss“, „Denkmal der Schande“).

Der Autor geht sprachwissenschaftlich an das Thema heran und nennt viele repräsentative Beispiele. Das Buch ist jedem zu empfehlen, der sich für Politik interessiert und sich mit der Rhetorik der parlamentarischen Rechten befassen möchte. Es bietet sich auch perfekt als ergänzende Literatur zum Seminar an. Auch im schulischen Kontext könnte es eingesetzt werden. Hier bietet sich ein Einsatz in der gymnasialen Oberstufe an. Durch die recht geringe Seitenanzahl lässt sich das Werk schnell lesen. Dem kommt zugute, dass der Autor recht schnell auf den Punkt kommt und wichtige Informationen nicht erst mühsam erlesen werden müssen. Ich persönlich kann nur eine Empfehlung für das Buch aussprechen.

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