Dienstag, 4. Juni 2019

Rezension zu Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft

Nachtwey, Oliver (2016), Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne, Suhrkamp.

Rezension

Autorin: Judith Seßler

Das Buch geht auf grundlegende Fragen unserer heutigen Gesellschaft, der Abstiegsgesellschaft, ein. In fünf Kapiteln und auf 233 Seiten führt Oliver Nachtwey zu dem Begriff der Abstiegsgesellschaft hin und erläutert, warum dieser Begriff heute so passend ist. Hierzu zieht er zahlreiche Quellen und aktuelle Beispiele heran, die seine These unterstützen. Begriffe wie die „Postdemokratie“ oder der „Postkapitalismus“ sind dabei wichtige Merkmale der Abstiegsgesellschaft, auf die er immer wieder eingeht. Im folgendem werden die Kapitel zusammengefasst, um einen kurzen Einblick in die Theorie Oliver Nachtweys zu geben.


Die soziale Moderne

Die soziale Moderne umfasst die Nachkriegsjahrzehnte 1950 bis 1973 der BRD. Diese Zeit ist von einem ökonomischen Wohlstand und einer sozial abgesicherten Demokratie geprägt. Der neu etablierte Sozialstaat wächst und die soziale Mobilität steigt. Wer sich gerade noch in einem recht niedrigen gesellschaftlichen Stand befunden hat, hat gute Chancen, diesen in kurzer Zeit zu verbessern. Die Menschen konnten sich Luxusgüter leisten wie Kaffee oder Urlaub und die zuvor noch bestehenden Klassenschranken begannen langsam zu verschwinden, zumindest soweit, dass sich jeder dem anderen gleichgestellt fühlte.

Ulrich Beck prägte hierfür den Begriff des „Fahrstuhleffektes“. In seiner Theorie fuhren alle Menschen einer Gesellschaft von Arbeitenden im Fahrstuhl nach oben. Es gab zwar immer noch Unterschiede in den Einkommen der Arbeiter, aber verallgemeinert ging es dennoch allen besser, sodass diese keine so große Rolle mehr spielten. Eine wesentliche Entwicklung hierfür stellte die Etablierung des sogenannten Normalarbeitsverhältnisses dar, welches eine unbefristete Vollzeiterwerbstätigkeit umfasst, die von Kündigungsschutz und sozialer Absicherung geprägt ist.

Diese Zufriedenheit zeigte sich auch in der Demokratie, an der viele Menschen großes Interesse hatten. Doch ab dem Jahr 1973 begann schließlich der Umschwung. Der Korporatismus des Sozialstaates nahm der Demokratie jegliche Dynamik. Individuelle Einzelschicksale wurden verdrängt, Gastarbeiter, deren Arbeit wesentlich zur Entwicklung des Wohlstands beigetragen hatte, und Frauen blieben unbeachtet. Dies trug dazu bei, dass vertikale Ungleichheiten zwar abgebaut, dafür aber horizontale Ungleichheit aufgebaut wurde. Doch diese Entwicklungen waren erst der Anfang einer immer drastischeren Abwärtsspirale. 

Kapitalismus (fast) ohne Wachstum

Eine wichtige Entwicklung hinsichtlich des Untergangs der sozialen Moderne stellte der sogenannte „Postwachstumskapitalismus“ dar. Lange Zeit wuchs die Wirtschaft kontinuierlich an, doch ab dem Jahr 1973 konnte sie die bisherigen Wachstumsraten nicht mehr erreichen. Kräfte wie die Liberalisierung des Welthandels oder neue technologische Innovation wirkten nicht mehr. Hierfür kann auch der Begriff der säkularen Stagnation nach Keynes genannt werden. Als weitere Gründe für den Abschwung nennt Nachtwey die Internationalisierung der Produktion, eine globale Restrukturierung des Finanzsystems, Privatisierungsdruck und zuletzt den Umbau des Sozialstaats.

Diese Faktoren waren nicht sofort zu spüren, vielmehr kamen sie schleichend und unbemerkt langsam zum Vorschein .Seit diesem Abschwung stehen sich vor allem zwei Theorien gegenüber. Zum einem die Theorie des dynamischen Wachstums, das dafür sorgen soll, dass der Reichtum alle gesellschaftlichen Schichten erreicht. Zum anderen die Theorie, die befürchtet, dass das ungebremste Wachstum zu Wertlosigkeit und Ressourcenverschwendung führt. Das tatsächliche Problem der sozialen Debatte wird hierbei laut Nachtwey völlig außer Acht gelassen, welches schließlich zu sozialen Abstiegen und Entwicklungen der regressiven Modernisierung führt.

Regressive Modernisierung

Mit dem Begriff der regressiven Modernisierung ist ein Prozess der Gegenmodernisierung gemeint. Um genau zu sein, führt uns diese Entwicklung gesellschaftlich in Zustände, die wir zeitlich noch vor der sozialen Moderne datieren können. Wohlstand und Demokratie sind nicht länger zwei Begriffe, die untrennbar miteinander verbunden sind. Vielmehr gibt es nun auch Länder wie China, die ohne Demokratie erfolgreich sind.

Wir befinden uns in einer Zeit sich gegenüberstehender Entwicklungen, in der die ökonomische Ungleichheit wächst, die horizontalen Ungleichheiten sich aber verringern. Denn unsere Gesellschaft wird immer offener für Geschlecht, sexuelle Orientierung und ethnische Gruppen. Im Weiteren kam es schließlich zu vermehrter Liberalisierung, welche zur Privatisierung von zuvor staatlichen Institutionen führte, wie Krankenhäuser oder der Post. Dies hatte zur Folge, dass Arbeitsstandards wieder stärker fragmentiert wurden. Wer sich zuvor über eine sichere Arbeitsstelle mit fairen Arbeitszeiten gefreut hatte, konnte nun auf gegenteilige Verhältnisse treffen.

Schließlich befinden wir uns inmitten der Postdemokratie. In der Postdemokratie verlieren die Bürger ihren Einfluss auf den politischen Prozess. Ökonomische Eliten, globale Unternehmen und Lobbyisten sind nun diejenigen, die die tatsächliche Macht besitzen und Einfluss auf Politik nehmen. Wer Erfolg hat, der hat auch Macht, egal wie viel Aufwand jemand leistet: „Je mehr eine Gesellschaft auf Chancengleichheit setzt, desto ungleicher wird sie und desto legitimer werden die Ungleichheiten“ (Nachtwey 2016, S. 114).

Sozialer Abstieg

Der soziale Abstieg ist vor allem durch die sogenannte prekäre Vollerwerbsgesellschaft gekennzeichnet. Während früher die Erwerbstätigkeit den Menschen Sicherheit, nicht nur für die Gegenwart, sondern auch für die Zukunft, sowie ein gewisses Ansehen bot, ist dies nun für immer weniger Menschen der Fall. Unsere Arbeitsgesellschaft ist einem Wandel unterworfen, in dem der tertiäre Sektor immer mehr an Bedeutung gewinnt.

Nachtwey führt nun das entscheidende Bild der Rolltreppe nach unten ein. Wie bereits zuvor erwähnt, war in der sozialen Moderne das Bild des nach oben fahrenden Fahrstuhls prägend. Doch dieses ist für die heutige Zeit nicht mehr anwendbar. Die reiche Bevölkerung, die nur einen kleinen Anteil ausmacht, befindet sich bereits in der nächsten Etage. Von diesem Punkt aus können sie entscheiden, ob sie dort bleiben oder noch weiter nach oben fahren wollen. Eine Treppe nach unten gibt es für sie nicht.

Für die, die sich aber noch auf der Rolltreppe befinden, fährt diese nach unten und die Chancen aufzusteigen sind gering. Wer seine Position halten will, muss kontinuierlich nach oben laufen, was eine große Anstrengung bedeutet. Dies führt schließlich zu einer zunehmenden Polarisierung zwischen Arm und Reich. Dies gilt nicht nur für die Arbeitnehmer, sondern auch für ihre Kinder. Denn Bildung ist für die Kinder der unteren Klassen zunehmend geprägt von einem Konkurrenzdruck, den die oberen Klassen gar nicht oder nur wenig kennen. Die Hoffnung auf den sozialen Aufstieg aber bleibt erhalten, vielleicht genau deshalb, weil dieser immer seltener geworden ist.

Das Aufbegehren in der sozialen Moderne

Soziale Proteste gab es in unserer Geschichte immer wieder. So gab es die frühen Arbeiterbewegungen, die ihre Arbeit geschätzt sehen wollten und zugleich eine Gleichberechtigung in Bereichen der Politik und des Rechts forderten. 2003/2004 protestierten wiederum viele gegen die Agenda 2010. Besondere Aufmerksamkeit bekommen heute Streiks im Dienstleistungssektor, welche sich durch Aktionen wie das Tragen eines gemeinsamen Markenzeichens, Sprüchen oder Internet-Bewegungen auszeichnen. Darüber hinaus werden diese Streiks immer demokratischer organisiert. Immer mehr Menschen protestieren, weil sie sich ein bezahlbares Zuhause und einen gewissen Lebensstandard wünschen oder ein Europa der sozialen Moderne.

Besondere Aufmerksamkeit schenkt Nachtwey der postkonventionellen Bewegung Occupy. Dieser Bewegung schlossen sich vor allem auch höher Gebildete an, die nach ihrem Studium arbeitstechnisch in eine hoffnungslose Zukunft blickten bzw. in eine Zukunft ohne Aufstiegsmöglichkeiten und mit prekären Arbeitsbedingungen. Sie organisierten sich vor allem über das Internet, waren vor allem in Städten anzutreffen und stellen einen transnationalen Akteur dar.

Ein weiterer Begriff, der unsere Zeit prägt, ist der des „Wutbürgers“. Diese „Wutbürger“ zeichnen sich durch eine große Abneigung gegenüber der existierenden Demokratie aus. Eine ihrer Forderungen ist das Recht auf mehr Mitsprache am politischen Geschehen, die allerdings weiterhin abhängig bleibt von der sozialen Schicht. Pegida stellt dabei das Paradebeispiel für rechts orientierte Wutbürger dar. Sie sind vor allem in Ostdeutschland aktiv.

Nachtwey führt dies auf die dort mangelnden Aufstiegsmöglichkeiten und die dort herrschende starke Entfremdung gegenüber der Politik zurück. Dies sind auch die zentralen Eigenschaften der Pegida-Teilnehmer. Flüchtlinge stellen für diese Menschen eine Bedrohung ihrer Existenz dar. Denn wenn der Staat es schon nicht schafft, sich um sie zu kümmern, wie sollen die Chancen für einen selbst stehen, wenn noch mehr Menschen auf die Hilfe des Staates angewiesen sind. Dasselbe gilt für die Angst vor dem Verlust westlicher Werte durch die vermeintlich drohende Islamisierung.

Die Abstiegsgesellschaft ist somit eine Gesellschaft voller Angst. Diese Angst wird nicht besser werden, denn eine Rückkehr in die soziale Moderne scheint weit entfernt bis unmöglich. Somit stellt sie eine ernstzunehmende politische Gefahr dar, die sich in dem Aufstieg einer Partei wie der AfD widerspiegelt. Eine Lösung, wie dieser Gefahr zu begegnen ist, nennt Nachtwey nicht, vielmehr hofft er darauf, dass sein Buch eine Art Orientierungshilfe für die momentane Situation sein kann und zum eigenen Nachdenken über Lösungsmöglichkeiten beiträgt.

Fazit

Das Buch „Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne“ von Oliver Nachtwey bietet einen umfassenden Einblick in die heutige politische und gesellschaftliche Situation. Mit Grafiken und zahlreichen Quellen analysiert Nachtwey unsere Gesellschaft und bringt vergangene Entwicklungen mit heutigen vorherrschenden Situationen in einen Zusammenhang. Das Buch ist sehr übersichtlich gegliedert, wenn auch die vielen Fußnoten ab und an etwas verwirren.

Es ist sehr sachlich verfasst und ideal für jeden, der verstehen möchte, was Menschen dazu antreibt, Bewegungen wie Pegida beizutreten. Besonders spannend war meiner Meinung nach der Schluss. Nachdem das Buch ausführlich unsere heutige Lage analysiert hatte, hofft man als Leser auf eine Lösung oder eine Strategie, die man selbst vielleicht in seinem Alltag umsetzen kann, um auch dem eigenen sozialen Abstieg zu entgehen und unsere Demokratie zu schützen. Doch genau diese Lösung wird einem schließlich nicht gegeben, wodurch man tatsächlich beginnt, selbst nach Lösungsansätzen zu suchen. Insgesamt lässt sich daher sagen, dass es ein sehr ausführliches, sachliches Buch ist, das einem hilft, unsere heutige Gesellschaft zu verstehen und zu hinterfragen.

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