Mittwoch, 12. Juni 2019

Rezension zu Michael Wildt: Volk, Volksgemeinschaft, AfD

Wildt, Michael (2017), Volk, Volksgemeinschaft, AfD, Hamburger Edition.

Rezension

Autorin: Svenja Epple

Charakterisierend für den Populismus ist der Anspruch der alleinigen und wahrhaftigen Vertretung des Volkes. Mit Parolen wie „Wir sind das Volk!“ machen sie auf ihre Forderungen aufmerksam. Offen bleibt jedoch, wer genau dieses Volk ist, das sie zu vertreten beanspruchen. Mit der Frage nach dem Volk beschäftigt sich der deutsche Historiker Michael Wildt in seinem Buch „Volk, Volksgemeinschaft, AfD“.

Er verfasste es als Reaktion auf einen Facebook-Beitrag von Poggenburg, dem Landesvorsitzenden der AfD in Sachsen-Anhalt, bei dem er Wildt zitiert und seine Definition der Volksgemeinschaft als Rechtfertigung für die Verwendung seines Vokabulars verwendet. Mit seinen knapp 160 Seiten, handelt es sich bei dem Buch weniger um eine wissenschaftliche Arbeit, mehr um eine historisch-politische Intervention. Dabei analysiert er die historische Entwicklung des Volksbegriffs und endet mit den Problematiken, die mit dem Volksbegriff heutzutage einhergehen. Hierbei zitiert er häufig andere Autoren, um seine Standpunkte zu unterstreichen. Sein Buch hat er dabei in vier Teile gegliedert, die im folgendem zusammengefasst dargestellt werden.


Der erste Teil des Buches führt in den historischen Hintergrund des Begriffes "Volk" ein. Zunächst stellt sich Michael Wildt die Frage nach dem Volk. In einer Demokratie solle die Macht vom Volk ausgehen. Wer ist dieses Volk? Sind es nur die Wahlberechtigten? Demnach gehören keine Kinder und Jugendlichen, keine Bewohner ohne deutschen Pass und bis Anfang des 20. Jahrhunderts auch keine Frauen zum Volk.

Betrachtet man nun die historische Entwicklung des Volksbegriffs, ist zu erkennen, dass es seit jeher um die Abgrenzung nach oben, unten, außen und innen geht. Das Volk stimmte meist nicht mit der Bevölkerung überein, sondern stellte lediglich eine Minderheit dar. Schon dem klassischen Volk in Griechenland waren nur die freien männlichen Bürger zugeordnet. Zwar galt dabei Rechtsgleichheit, allerdings nur für Angehörige des Volkes, folglich nicht für Frauen, Sklaven oder Fremde.

Schon Aristoteles beschrieb damals nicht die Demokratie, sondern die Politie als gelungene Form der Herrschaft der Vielen. Die Auseinandersetzung und Vielfalt war damals für ihn schon unverzichtbar. Auch die Beschreibung als Volk Gottes stellte wieder eine Abgrenzung dar, da nur die zugehörig sind, die sich verpflichten, die Gebote Gottes zu achten. Seit der Reformation und der Trennung von Kirche und Staat, die zu einer politischen Einheit des Staates geführt hat, ist diese Zuschreibung in der westlichen Welt in den Hintergrund geraten.

Wildt bezieht sich dabei auf Philosophen wie Hobbes und Rousseau, die schon früh die Vorstellung hatten, dass sich das Volk nicht alleine regieren könne. Sie schufen die Vorstellung eines Gesellschaftsvertrags, bei dem das Volk seine Souveränität auf freiwilliger Basis überträgt. Der gemeinsame Wille wird dann von der gewählten Versammlung oder auch einer Einzelperson vertreten. Elementar ist für Rousseau dabei die Möglichkeit, sich zu wiedersetzen.

Diese Gedanken spiegelt auch die Verfassung der Vereinigten Staaten wieder. Nach der Revolution hat sich das Volk diese selbst gegeben. Die Regierung wurde aus Bürgern gebildet und leitet ihre Macht auch von der Zustimmung ihrer Wähler ab. Daraus hat sich ein föderatives Repräsentationssystem entwickelt mit strenger Gewaltenteilung, um zu verhindern, dass eine tyrannische Mehrheit ihre Pläne durchsetzen kann.

Kritiker sahen damals schon die Gefahr der Entfremdung der Vertreter von dem, den sie vertreten sollen, von Machtmissbrauch, Korruption und mangelnder Möglichkeiten der Partizipation, welche letztendlich zu Wut über „die Politiker da oben“ führen. Noch heute lassen sich diese Probleme in aktuellen Auseinandersetzungen erkennen. Die Verfassung wurde damals jedoch von einer Minderheit festgelegt, da zum Volk nur weiße, besitzende, Steuern zahlende männliche Bürger gehört haben. Auch nach der französischen Revolution bildete sich eine Volksversammlung, doch auch hier bestand das Volk nur aus erwachsenen freien Männern.

In den meisten Ländern galten also freie Männer im Besitz von Eigentum als Staatsbürger. Da das Volk die Souveränität innehat, ist die Definition des Begriffs für viele innerhalb der Gesellschaft so wichtig. Vorkonstitutionell wurde das Volk über eine gemeinsame Geschichte, Kultur oder gar „gemeinsames Blut“ definiert. Ethnische Aspekte wurden zur Selektion verwendet, um ein gesellschaftliches Kollektiv zu bilden.

Dabei galt der Grundsatz: jede Nation bildet einen Staat. Allerdings hatten die Nationalstaaten keine einheitliche Nationalkultur, weshalb Nationalisierungspolitik betrieben werden musste. Dies führte zu „ethnischen Säuberungen“, die in Vertreibung und Massenvernichtungen endeten. Das Volk wurde damit naturalisiert und nicht mehr über das Verfahren des Rechts als Staatsvolk instituiert.

Der zweite Teil behandelt den Begriff der Volksgemeinschaft mit besonderem Augenmerk auf die Exklusion. Im Krieg war das Gemeinschaftsgefühl am größten, da jeder erhoffte, durch tatkräftige Unterstützung einen Platz in der Volksgemeinschaft zu bekommen. Dennoch kam es nach dem Ersten Weltkrieg zu verbreitetem Antisemitismus, da die Juden für die Niederlage verantwortlich gemacht wurden.

Durch den revolutionären Umbruch wurde der Begriff der Volksgemeinschaft zu einem Schlüsselbegriff von sowohl rechten als auch linken Kräften. Während die Sozialisten dabei an Inklusion dachten und eine Vernichtung der Klassen zugunsten einer wahrhaft nationalen Volksgemeinschaft forderten, definierten die Nationalsozialisten den Begriff der Volksgemeinschaft vordergründig durch Exklusion. Jeder war Teil der Volksgemeinschaft, solange er nicht jüdischer Abstammung war.

Der Antisemitismus wurde offen propagiert und jüdischen Staatsangehörigen jegliche Bürgerrechte aberkannt. Es kam zur Vertreibung und Vernichtung von Millionen von Menschen. Die Gleichheit vor dem Gesetz war somit nicht mehr gegeben. Es bildete sich eine rassistisch formierte Volksgemeinschaft, in der ein sozialer Aufstieg nicht nur von der Leistung, sondern vor allem von biologischen Aspekten abhängig war.

Der dritte Teil des Buches beschäftigt sich mit der aktuellen Argumentation des politischen Personals, vor allem der AfD, zu dem Begriff des Volkes und des Volkswillens. Der Populismus ist angesichts der aktuellen Lage nicht nur ein deutsches Phänomen. Die Wahl Donald Trumps und auch der Stimmgewinn rechtspopulistischer Parteien innerhalb von Europa, wie zum Beispiel in Frankreich oder Österreich, verdeutlichen den Trend nach rechts.

Auch die Gründung der AfD 2013 fand bereits Nährboden innerhalb der deutschen Gesellschaft. „Das Volk“ war dabei von Beginn an in die politische Propaganda integriert. In ihrer Vorstellung muss das Volk wieder zum Souverän werden. Dabei teilen sie die Gesellschaft in zwei homogene Gruppen: das „reine Volk“ und die „korrupte Elite“, die jegliche Verbindung zum Volk verloren habe. Die AfD formuliert nun den Anspruch, dass nur sie das Volk angemessen vertreten könne.

Dies funktioniert nur, da sie eine konkrete Vorstellung des Volkes besitzen. Die AfD will ein ethnisch und kulturell homogenes Volk und entscheidet dabei über Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit. Um dies zu legitimieren, malen sie das Bild einer bedrohten Volksgemeinschaft durch nach Deutschland kommende "Flüchtlingsströme" und ein damit einhergehender Verlust der „deutschen Leitkultur“.

Doch was ist die „deutsche Leitkultur?“ Laut der AfD ist diese vor allem durch unsere Sprache und Religion definiert oder vor allem durch die Abgrenzung zu der Religion, die nicht zu Deutschland gehören soll: Der Islam. Allerdings legt das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Artikel 3 die Religionsfreiheit fest. Wem also die Verfassung wichtig ist, dem müsste die Freiheit des Glaubens ein grundlegendes Bedürfnis sein.

Das Volk der AfD umfasst somit nicht alle Staatsbürger und Staatsbürgerinnen sondern zieht eine kulturelle und ethnische Grenze, die durch unsere Verfassung nicht zu rechtfertigen ist. Wildt bemerkt dabei auch, dass an der Kritik der Politik zunächst nichts verwerflich erscheint. Problematisch wird es mit der Verknüpfung mit dem Willen des Volkes als Souverän innerhalb einer Demokratie, da sie Bürgerrechte einschränken wollen.

Zudem werden Begriffe wie „Volksgemeinschaft“ oder „völkisch“ innerhalb der AfD wieder verwendet und sollen wieder alltagstauglich gemacht werden. Nach 1933 gebe es jedoch keine unbelastete Verwendung mehr dieser Begriffe. Durch die Prägung des Vokabulars im Nationalsozialismus gelte jede Verwendung als ein Anknüpfen an nationalsozialistisches Gedankengut.

Die AfD ziele darauf ab, diese Begrifflichkeiten von der Verbindung zum Nationalsozialismus zu entkoppeln und den Gebrauch bewusst zu verfälschen, damit die Verbindung zu völkischem Denken verschleiert wird. Die Rede vom Volk entwickle momentan eine brisante Wirkmacht, da an alle appelliert werden könne, die sich sonst unverstanden und abgehängt fühlen. Sie fokussieren nach außen das Gemeinwohl, dabei gehe es bei ihrer Vorstellung vom Volk vor allem um Exklusion. Sie nutze eine kulturelle Definition, die nicht in unserer Rechtsgrundlage zu finden ist, und handle somit rassistisch.

Der letzte Teil des Buches bietet einen kurzen Ausblick, wie in Zukunft die Problematik des Volksbegriffs gehandhabt werden kann. Die deutsche Verfassung legt fest, dass alle Staatsgewalt vom Volk ausgehe. Das Volk stellt somit den Souverän der Demokratie und kann über die politische Ordnung entscheiden, auch gegen die Verfassung. Die Frage danach, wer dieses Volk sei, ist folglich völlig legitim. Problematisch sind alleine die Forderungen, wer alles nicht dazugehören solle.

Ein Ausschluss aufgrund von der Religion komme dem der Frauen in der Vergangenheit gleich. Dabei solle die Demokratie eine politische Ordnung darstellen, in der jeder als freier Mensch seine eigenen Ziele verfolgen kann. Die historische Entwicklung des Volksbegriffs hat jedoch gezeigt, dass es immer um Exklusion und Inklusion bei der Frage nach einer Definition geht. Solle deshalb auf den Begriff des Volkes verzichtet werden?

Angela Merkel griff deshalb zur Formulierung „Alle sind das Volk“, um jegliche Exklusion auszuschließen. Durch die Globalisierung und die zunehmende Vernetzung wäre es falsch, das Volk nur in staatlichen Grenzen zu definieren, da es mit der Lebenswirklichkeit der Menschen nicht mehr übereinstimme. Wildt greift dabei auf Hannah Arendt zurück, die schon früh „das Recht, Rechte zu haben“ forderte. Dabei sollen die Menschen als Individuum, die alle über gleiche Rechte verfügen, in den Mittelpunkt gestellt werden. Schutz und Freiheit sind somit nicht mehr an Staatsbürgerschaft gekoppelt, sondern die Kontrolle findet durch internationale, übergeordnete Organisationen statt. Das Volk habe sich überlebt. Deshalb sei es an der Zeit, sich als Menschen zu sehen, die alle frei und mit gleichen Rechten ihre politischen und sozialen Beziehungen neu regeln.

Das Buch ist gut verständlich geschrieben und deshalb leicht und schnell zu lesen. Die geschichtliche Entwicklung des Begriffs ist sehr ausführlich erzählt und zieht sich zwischendurch etwas. Auch die Ausarbeitung des Volksbegriffs des Nationalsozialismus findet sich immer wieder im ganzen Buch und scheint sich an manchen Stellen zu wiederholen. Da Wildt Historiker ist mit Schwerpunkt auf dem Nationalsozialismus scheint dies nur verständlich.

Das Ende des Buches finde ich sehr allgemein gehalten. Wildt zeigt zwar die Probleme auf, die mit dem Volksbegriff einhergehen, wirkliche Alternativen werden jedoch nicht genannt. Allen scheint es wohl klar, dass ein Begriff, der in der Verfassung zu finden ist, nicht einfach aus dem Vokabular gestrichen werden kann. Die Antwort mit Hannah Arendt scheint dabei utopisch, da ihre Vorstellung beinahe mit einer Auflösung der Nationalstaaten einhergeht. Andererseits regt es den Leser an, selbst über eine Lösung nachzudenken und stellt auch zum Schluss die Komplexität des Problems dar, für das es eventuell gar keine Lösung gibt.

Schlussendlich lässt sich sagen, dass es sich um ein lehrreiches Buch handelt, bei dem der Leser für die heutige Problematik der Verwendung des Volksbegriffs anhand des geschichtlichen Hintergrunds sensibilisiert wird.

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