Freitag, 18. Juli 2025

EU-Mitglied, aber Anti-EU? – Der ungarische Rechtspopulismus und sein Verhältnis zu Brüssel

Die Transformation der Partei Fidesz unter der Führung von Viktor Orbán von einer ursprünglich liberalen Partei hin zu einer rechtspopulistischen Bewegung ist ein Beispiel für die gezielte Neuausrichtung politischer Programme zugunsten einer nationalistischen und EU-skeptischen Rhetorik. Durch die konsequente Umdeutung des politischen Diskurses auf Themen der nationalen Souveränität und Identität wurde ein Rahmen geschaffen, der nicht nur die Mobilisierung der Wählerschaft erleichterte, sondern auch Loyalität innerhalb der Stammwählenden stärkte. Diese Strategie verband sich mit einer Abkehr von sogenannten „westlichen“ Einflüssen und einer Betonung einer kulturellen Eigenständigkeit Ungarns (vgl. Juhász/Krekó/Szabados 2005; Grajczjár 2019).

Nach dem Wahlsieg 2010 konnte Viktor Orbán mit einer Zweidrittelmehrheit seine politische Dominanz ausbauen und nutzte diese Macht, um zentrale Institutionen wie das Verfassungsgericht, den Medienrat und die Wahlkommission durch regierungstreue Akteure zu besetzen. Diese gezielten Eingriffe dienten nicht allein der kurzfristigen Machtsicherung, sondern trugen maßgeblich zur Etablierung rechtspopulistischer Herrschaftsmechanismen bei. Die Umstrukturierung des institutionellen Gefüges führte zu einer langfristigen Stabilisierung der Kontrolle über den Staat und machte das institutionelle Machtinstrument zu einem zentralen Bestandteil der politischen Strategie (vgl. Juhász/Krekó/Szabados 2005).

Eine weitere Schlüsselstrategie der ungarischen Regierung war die gezielte Kontrolle der Medien. Die zunehmende Konzentration regierungsnaher Eigentümerschaften in der Medienlandschaft ging einher mit der Marginalisierung kritischer Medienhäuser. Dies verschob das öffentliche Meinungsspektrum nachhaltig zugunsten der politischen Agenda der Regierungspartei, ermöglichte die effektive Wahlmobilisierung und trug zur Verbreitung rechtspopulistischer Narrative bei (vgl. Németh/Girndt 2023).

Die Entwicklung des Fidesz-Systems unterstreicht die Effektivität langfristiger Machtkonsolidierung in rechtspopulistischen Bewegungen. Auch über Wahlzyklen hinaus gelang es, die Dynamik des Populismus zu institutionalisieren, was auf eine strukturelle und nicht nur temporäre Dimension rechtspopulistischer Politik hinweist (vgl. Grajczjár 2019). Dabei war ein Generalnarrativ, das nativistische und bedrohungsbasierte Elemente beinhaltete, zentral für die Legitimation der Regierungspartei. Ungarn wurde als Schutzmacht seiner Nation inszeniert, was durch die Fokussierung auf Bedrohungen wie Migration oder vermeintliche „fremde“ Einflussnahmen untermauert wurde. Damit wurde ein kollektives Wir-Gefühl verstärkt und eine klare Abgrenzung gegenüber „Anderen“ geschaffen (vgl. Pytlas 2019).

Die politische und gesellschaftliche Instrumentalisierung von Bedrohungsszenarien wie der sogenannten „Flüchtlingskrise“ 2015 war ein zentraler Bestandteil der rechtspopulistischen Strategie. Fidesz konnte nicht nur den öffentlichen Diskurs dominieren, sondern auch dazu beitragen, dass konventionelle Parteien nativistische Positionen übernahmen. Dies führte zu einer generellen Verschiebung des politischen Spektrums nach rechts (vgl. Pytlas 2019). Die Verbindung von Identitäts- und Sicherheitspolitik mit narrativen Angriffen auf demokratischen Werte ermöglichte es der Partei, sich als einzige legitime Verteidigerin nationaler Interessen zu inszenieren. Parallel dazu wurde durch die klare Ablehnung von „westlichen“ und liberalen Integrationsmodellen das europäische Projekt zunehmend infrage gestellt (vgl. Pytlas 2019).

Die bewusste Darstellung politischer Entscheidungen als „Kompetenzpolitik“, abseits ideologischer Motive, stärkte das Vertrauen der eigenen Wählenden in die Regierung und verschaffte der Partei einen strategischen Vorteil gegenüber anderen politischen Akteuren. Die technokratische Darstellung nativistischer Narrative sicherte Fidesz nicht nur langfristig Rückhalt, sondern schuf auch ein Diskursmonopol, das den Wettbewerb verzerrte (vgl. Pytlas 2019). Gleichzeitig führte die schrittweise Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz, etwa durch die Ernennung regierungsnaher Richter und die systematische Umstrukturierung des Justizwesens, zu einer deutlichen Schwächung der Gewaltenteilung. Diese Eingriffe untergraben nicht nur rechtsstaatliche Strukturen, sondern beeinflussen auch die Integrationsfähigkeit der EU negativ, indem sie den gemeinsamen Wertekonsens infrage stellen (vgl. Becker 2017; Németh/Girndt 2023).

Die Medienfreiheit in Ungarn wurde durch die Konzentration regierungsnaher Eigentumsstrukturen erheblich eingeschränkt. Übernahmen, Schließungen und Fusionen im Mediensektor trugen zu einer kontrollierten Meinungsbildung bei, die jede oppositionelle Kritik erschwerte. Diese Maßnahmen spiegeln sich in internationalen Rankings wider, die die drastischen Rückschritte Ungarns bei der Medienfreiheit dokumentieren (vgl. Németh/Girndt 2023).

Die Institutionalisierung von Kontrollmechanismen innerhalb staatlicher Institutionen und ihre Besetzung mit loyalem Personal ermöglichten der Regierung eine dauerhafte Einflussnahme auf Verwaltung und Gesetzgebung. Diese systematische Strategie schränkte oppositionelle und zivilgesellschaftliche Akteure erheblich ein. Die Folgen beschränken sich jedoch nicht auf Ungarn selbst, sondern wirken sich auch auf die gesamte EU aus, indem sie die Wertepluralität und demokratische Prinzipien der Gemeinschaft gefährden (vgl. Becker 2017; Németh/Girndt 2023).

Parallel dazu wurde die nationale Identitätsbildung durch eine konservative Gesellschaftspolitik gestärkt, die progressive Themen bewusst ausgrenzte. Ein konkretes Beispiel hierfür ist die Schließung von Gender-Studies-Programmen an der Universität ELTE im Jahr 2018. Diese Maßnahme zeigt, wie politische Eingriffe in den akademischen Diskurs genutzt wurden, um konservative Gesellschaftsvorstellungen zu fördern (vgl. Perintfalvi 2019).

Gleichzeitig setzte die Regierung wirtschaftsnationalistische Maßnahmen um, die ungarische Unternehmen förderten und ausländische Akteure in strategischen Sektoren zurückdrängten. Diese Politik wurde durch eine anti-europäische Rhetorik legitimiert, die nationale Interessen über die Solidarität innerhalb der EU stellte (vgl. Becker 2017). Die soziale Ungleichheit nahm seit 2010 deutlich zu, da wirtschaftspolitische Maßnahmen auf Wachstum und Beschäftigung setzten, jedoch soziale Sicherungssysteme vernachlässigten. Dies wurde von der Regierung genutzt, um die Wählerschaft weiter an sich zu binden (vgl. Juhász/Krekó/Szabados 2005).

Durch die Verknüpfung gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Ansätze gelang es Fidesz, sowohl sozialkonservative als auch wirtschaftliche Interessen zu adressieren. Diese integrative politische Strategie trug entscheidend zur langfristigen Machtkonsolidierung bei (vgl. Becker 2017). Die Betonung eines christlichen Europas als Gegenbild zur als dekadent dargestellten EU war ein weiterer zentraler Bestandteil der rechtspopulistischen Strategie. Diese Instrumentalisierung christlicher Werte schuf gesellschaftlichen Rückhalt und verstärkte symbolisch die Spaltung zwischen Ungarn und der EU (vgl. Hillebrand 2024).

Die gesellschaftliche Polarisierung wurde durch die enge Zusammenarbeit zwischen Kirche und Regierung weiter verschärft. Diese Allianz nutzte religiöse und kulturelle Narrative, um oppositionelle Kräfte als „antipatriotisch“ zu diffamieren und die politische Fragmentierung voranzutreiben (vgl. Perintfalvi 2019; Hillebrand 2024). Trotz eines europaweiten Rückgangs rechtspopulistischer Einstellungen zeigt sich in Ungarn ein entgegengesetzter Trend hin zu stärkeren nativistischen und autoritaristischen Überzeugungen. Diese Entwicklung verdeutlicht, dass Durchschnittswerte auf EU-Ebene die spezifischen Risiken für die europäische Integration in einzelnen Ländern unterschätzen können (vgl. Gaubinger 2020).

Das ungarische Beispiel zeigt eindrücklich, wie politisches Agenda-Setting und gesellschaftliche Meinungsbildung in einem wechselseitigen Zusammenspiel eine spezifische Dynamik schaffen, die den ungarischen Rechtspopulismus innerhalb des europäischen Kontextes besonders macht.

Auswirkungen auf die EU-Integration

Die Einschränkung der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn hat innerhalb der Europäischen Union erhebliche Spannungen ausgelöst. Besonders hervorzuheben ist die eingeschränkte Unabhängigkeit der Justiz, die durch gezielte Eingriffe der Regierung Orbán untergraben wurde. Ein zentrales Beispiel ist die rechtliche Sonderstellung für Mitglieder des Parlaments und der Regierung, die trotz paralleler Tätigkeiten in öffentlichen „Trusts“ weitreichende Zugriffsmöglichkeiten auf EU-Fördermittel haben, ohne dass adäquate Regelungen zur Vermeidung von Interessenkonflikten existieren (vgl. Baade 2022; Bossong/Trebeljahr 2024). Diese systematische Umgehung zentraler rechtsstaatlicher Prinzipien gefährdet nicht nur die demokratische Struktur in Ungarn, sondern unterminiert die Legitimität der EU als Wertegemeinschaft. In Reaktion darauf führte die Europäische Kommission 2022 einen neuen Konditionalitätsmechanismus ein, der die Auszahlung von EU-Geldern an die Einhaltung rechtsstaatlicher Kriterien bindet. Ungarn wurde daraufhin mit einem exemplarischen Entzug von 65 Prozent der Fördermittel für bestimmte Kohäsionsprogramme konfrontiert – ein Präzedenzfall innerhalb der EU, der die Dringlichkeit solcher Maßnahmen untermauert (vgl. Baade 2022; Priebus 2023). Allerdings zeigen sich die Grenzen dieses Mechanismus in der Praxis: Reformen erfolgen oft nur kosmetisch, um Gelder teilweise freizugeben, ohne langfristige strukturelle Veränderungen herbeizuführen (vgl. Bossong/Trebeljahr 2024).

Die institutionellen Maßnahmen der EU verdeutlichen das Spannungsfeld zwischen dem Ziel, Integrität und Werte zu sichern, und dem Risiko, durch Sanktionen die innerstaatliche Zustimmung zur EU weiter zu schwächen. Das gezielte Einfrieren von Fördermitteln dient dabei nicht nur als Disziplinierungsinstrument, sondern sendet ein Signal an andere Mitgliedstaaten mit ähnlichen Tendenzen. Allerdings besteht die Gefahr, dass diese Strategie die Akzeptanz zentraler Integrationsmechanismen langfristig beeinträchtigt (vgl. Priebus 2023). Die Einführung finanzieller Konditionalität zeigt, dass die EU zunehmend auf restriktive Mechanismen zurückgreift, jedoch bleibt fraglich, ob diese Strategie allein ausreicht, um die Systematik autoritärer Regierungsführung nachhaltig zu unterbinden.

Die Gründung der „Sovereignty Protection Authority“ (SPO) im Jahr 2024 stellt einen neuen Tiefpunkt in der Auseinandersetzung zwischen der ungarischen Regierung und der EU dar. Diese Institution, die weitreichende Überwachungs- und Eingriffsrechte im Hinblick auf zivilgesellschaftliche Organisationen und politische Akteur*innen hat, wird von Beobachtenden als weiteres Instrument zur Einschränkung pluralistischer Diskurse und zur Schwächung demokratischer Grundrechte angesehen (vgl. Amnesty International/Hungarian Helsinki Committee 2024). Besonders problematisch ist die Beseitigung finanzieller Unabhängigkeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen, da das neue Gesetz den Empfang von ausländischen Geldern im Wahlkampf kriminalisiert. Dies verletzt nicht nur zentrale EU-Grundsätze, sondern schränkt auch die demokratische Teilhabe massiv ein (vgl. Amnesty International/Hungarian Helsinki Committee 2024). Parallel dazu wurden verfassungsrechtliche Änderungen vorgenommen, die die Kompetenzen der SPO verankern und eine nachträgliche Anpassung an europäische Standards nahezu unmöglich machen. Die Regierung Orbán inszeniert solche Maßnahmen unter dem Deckmantel des Schutzes nationaler Souveränität, wodurch die EU als Bedrohung dargestellt und unabhängige Akteur*innen systematisch delegitimiert werden. Diese Strategie verstärkt die Polarisierung und erschwert eine demokratische Rückkehr zu rechtsstaatlichen Prinzipien.

Im Kontext der wirtschaftlichen Abhängigkeit von der EU zeigt sich eine weitere zentrale Widersprüchlichkeit der ungarischen Regierungspolitik. Trotz nationalistischer Rhetorik ist die ungarische Wirtschaft stark in die ökonomischen Strukturen der EU integriert. Besonders auffällig ist die hohe Abhängigkeit von deutschen Handelsbeziehungen, die 26,3 Prozent der Exporte und 22,6 Prozent der Importe ausmachen (vgl. Szabó 2024). Auch die Modernisierung der ungarischen Infrastruktur und der Energiesektor sind in erheblichem Maße von EU-Förderprogrammen abhängig. Der Einbehalt von rund 30 Milliarden Euro an Fördermitteln bringt die Vulnerabilität der ungarischen Wirtschaft in politischen Konflikten deutlich zum Vorschein (vgl. Bossong/Trebeljahr 2024). Gleichzeitig betont die ungarische Regierung in ihrer Außendarstellung primär nationale Souveränität und verschleiert die realen wirtschaftlichen Vorteile der EU-Mitgliedschaft. Diese Diskrepanz zwischen wirtschaftlicher Integration und politischer Abgrenzung wird besonders in der Energiepolitik sichtbar: Infrastrukturprojekte wie die Modernisierung der Stromnetze hängen maßgeblich von europäischen Förderprogrammen ab, was die paradoxe Abhängigkeit Ungarns unterstreicht (vgl. Szabó 2024). Diese Strategie dient der Regierung dazu, die Vorteile der EU-Mitgliedschaft zu nutzen, während sie gleichzeitig die öffentliche Meinungsbildung durch anti-europäische Narrative kontrolliert.

Die Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft durch Ungarn im Jahr 2024 bietet der Regierung Orbán die Möglichkeit, die europäische Agenda gezielt national auszurichten. Schwerpunkte wie die Kontrolle von Migration und die Kooperation mit Drittstaaten demonstrieren die selektive Nutzung europäischer Strategien, um das ungarische Souveränitätsnarrativ zu stärken (vgl. Zehnpfund 2024). Gleichzeitig wird die Zusammenarbeit mit den Westbalkan-Staaten als strategische Erweiterung des ungarischen Einflussbereichs genutzt, wobei Integrationsschritte nur dann gefördert werden, wenn sie den eigenen politischen Interessen entsprechen (vgl. Zehnpfund 2024). Diese selektive Herangehensweise wird durch die geplante Reform der Kohäsionspolitik und der Agrarpolitik nach 2027 gestützt, die wirtschaftliche Integration fördert, während politische Integrationsziele gezielt zurückgedrängt werden. Ungarn nutzt die Ratspräsidentschaft somit als Bühne, um nationale Prioritäten voranzutreiben und europäische Werte zu dekonstruieren. Dies schafft eine Spannungsdynamik, die die Solidarität innerhalb der EU belastet und den Europäischen Rat als zentralen Ort gemeinsamer Entscheidungsfindung schwächt.

Die EU setzt verstärkt auf finanzielle Druckmittel, um auf die autoritären Entwicklungen in Ungarn zu reagieren. Durch die Blockade von Fördermitteln wird die politische Bewegungsfreiheit autoritärer Regierungen zwar eingeschränkt, jedoch zeigt sich die Wirksamkeit solcher Maßnahmen als begrenzt. Die Regierung Orbán reagiert auf diese Sanktionen häufig mit symbolischen Reformen, die keine nachhaltigen Veränderungen bewirken (vgl. Priebus 2023). Besonders auffällig ist, dass infrastrukturelle und wirtschaftliche Abhängigkeiten der EU von Mitgliedstaaten wie Ungarn die Durchsetzung der Sanktionen erschweren. Dies führt zu einer paradoxen Situation, in der die EU gezwungen ist, Kompromisse einzugehen, um ihre Handlungsfähigkeit zu sichern, während autoritäre Tendenzen kurzfristig begünstigt werden. Die Forschung zeigt, dass alleinige finanzielle Maßnahmen nicht ausreichen, um einen Wertewandel herbeizuführen. Vielmehr bedarf es einer Kombination aus finanziellen, politischen und zivilgesellschaftlichen Strategien, um nachhaltige Veränderungen zu fördern (vgl. Priebus 2023).

Die Polarisierungsstrategie der ungarischen Regierung wirkt sich nicht nur auf die innenpolitische, sondern auch auf die europäische Ebene aus. Repressive Maßnahmen in Ungarn haben zivilgesellschaftliche Strukturen und mediale Vielfalt stark eingeschränkt, was in der EU zu einer schrittweisen Erosion gegenseitiger Solidarität geführt hat (vgl. Gerhards 2020). Trotz dieser Spannungen zeigen Umfragen, dass ein Großteil der europäischen Bevölkerung weiterhin Wert auf Solidarität und gemeinsame Sicherungssysteme legt, was im Kontrast zur nationalistischen Rhetorik der ungarischen Regierung steht (vgl. Gerhards 2020). Krisen wie die Corona-Pandemie verdeutlichen, dass gesellschaftliche Präferenzen oft nicht mit politischen Agenden übereinstimmen. Beispielsweise wurde Solidarität durch länderübergreifende medizinische Hilfeleistungen erfahrbar, was zeigt, dass der Wert europäischer Zusammenarbeit nach wie vor besteht. Die Abwertung europäischer Werte durch den ungarischen Rechtspopulismus verschärft jedoch die Debatten um nationale Souveränität und setzt der politischen Integration enge Grenzen.

Insgesamt verdeutlicht die Entwicklung Ungarns, wie der ungarische Rechtspopulismus die politischen und wirtschaftlichen Strukturen der EU herausfordert. Dies erfordert eine differenzierte Betrachtung der Mitgliedsstaaten und die Stärkung gesellschaftlicher Akteur*innen, um Integrationsprozesse langfristig zu sichern.

Literaturverzeichnis

Dienstag, 15. Juli 2025

Der Niedergang der Volksparteien: Neue Dynamiken entstehen

Die Parteienstruktur in Deutschland hat sich seit der Gründung der Bundesrepublik stark verändert. Mit dem langsamen, aber stetigen Niedergang der Volksparteien CDU und SPD ist ein Vakuum entstanden, das heute von einer Vielzahl neuer Parteien gefüllt wird. Aktuell sind vor allem jene Parteien erfolgreich in der Wählergewinnung, die sich bewusst und deutlich von den bisher regierenden Parteien abgrenzen. Dies zeigt sich in völlig neuen Koalitionskonstellationen, einer veränderten Debattenkultur und nicht zuletzt in neuen Wahldynamiken bei Bundestags- und Landtagswahlen.

Als es noch Volksparteien gab 

Nach den schrecklichen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und einer anschließenden Phase der Unsicherheit, Armut und des Hungers begann mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland ein neues politisches Zeitalter. Man knüpfte gedanklich an Ideen aus der Weimarer Republik an, verfeinerte diese jedoch – auch unter dem Einfluss der westlichen Besatzungsmächte – zu einem föderalen Staatsaufbau. Ebenso galt die Bildung breit aufgestellter Parteien, insbesondere der CDU und SPD, als eine mögliche Lehre aus der Fragmentierung des Parteiensystems in Weimar.

Die Umstände ab 1949 begünstigten die Herausbildung dieser beiden Volksparteien. Zum einen herrschte durch die deutsche Teilung in Westdeutschland eine vergleichsweise homogene Gesellschaft, da die ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger schon vor dem Dritten Reich tendenziell eher die KPD wählten und gesellschaftlich andere Prägungen aufwiesen (vgl. Koß 2025, S. 29). Zum anderen wirkten die Erfahrungen des Nationalsozialismus und der Systemwettbewerb zwischen Ost und West politisch mäßigend (vgl. Koß 2025, S. 30).

Bis in die frühen 2000er-Jahre vereinten CDU und SPD gemeinsam deutlich über die Hälfte der Wählerstimmen auf sich. Doch ein Rückgang war bereits bis zur Wahl 2002 erkennbar: Während sie Anfang der 1970er-Jahre noch 90,7 % der Stimmen auf sich vereinten, waren es 2002 nur noch 69,4 % (vgl. Jun 2025, S. 12). Seitdem hat sich dieser Abwärtstrend beschleunigt – bei der Bundestagswahl 2025 war lange unklar, ob CDU und SPD gemeinsam überhaupt noch eine Sitzmehrheit erreichen würden. Von einer absoluten Mehrheit ist inzwischen keine Rede mehr.

Was uns hierher brachte: die Fragmentierung 

Ein wesentlicher Grund für den langsamen, aber stetigen Bedeutungsverlust der Volksparteien ist die zunehmende Fragmentierung des Parteiensystems. Immer mehr Parteien treten auf, die sich unterschiedlich, teils diffus positionieren. Gleichzeitig brechen die traditionellen Wählerinnenschaften weg. Während die CDU in der Bonner Republik vor allem in traditionsbewussten Milieus, bei Selbstständigen und Arbeitgebern ihre Stammwählerschaft hatte, sprach die SPD vor allem Arbeiterinnen und Gewerkschaftsmitglieder an (vgl. Koß 2025, S. 30).

Seit den 1980er-Jahren sind mit den Grünen, später der Linken, der AfD und dem BSW weitere relevante Parteien in den politischen Wettbewerb eingetreten. Die Folge: Die ehemals großen Volksparteien verlieren den Rückhalt in ihren Stamm-Milieus – wie zuletzt deutlich bei der SPD.

Nicht nur das: Die Zahl potenziell im Bundestag vertretener Parteien schwankte kurz vor der Wahl 2025 zwischen vier (CDU, AfD, SPD, Grüne) und sieben (inkl. Linke, BSW und FDP als Wackelkandidaten). Dies hat erhebliche Auswirkungen auf die Koalitionsmöglichkeiten und erschwert die Regierungsbildung. Auch die parlamentarische Arbeit selbst wird dadurch unberechenbarer.

Brandbeschleuniger: Polarisierung 

Zunehmend offensichtlich ist auch: Die politische Kultur verändert sich durch eine wachsende Polarisierung. Politische Unterschiede werden emotional aufgeladen und stark betont – meist mit dem Ziel, sich vom etablierten politischen „Establishment“ abzugrenzen (vgl. Jun 2025, S. 14). Die AfD scheint diese Strategie besonders wirkungsvoll zu nutzen, doch auch die Linke gewinnt in dieser Hinsicht an Boden.

Eine zentrale Rolle spielen dabei Soziale Medien: Als kostengünstige Möglichkeit zur direkten Ansprache von Wählerinnen und Wählern fördern sie durch kurze, emotionalisierte Inhalte die Verbreitung populistischer Botschaften. Um im Algorithmus sichtbar zu bleiben, werden Debatten oft stark vereinfacht – mit gravierenden Folgen für die politische Auseinandersetzung (vgl. Jun 2025, S. 14).

Wir erleben diesen Wandel auch an uns selbst: Lange, differenzierte Erklärungen langweilen schnell. Bereits nach zwanzig Sekunden erwarten viele Nutzer*innen einen Unterhaltungs- oder Skandaleffekt – bleibt dieser aus, gerät der Inhalt rasch in Vergessenheit. Für die politische Kultur ist das verheerend.

Was an die Stelle tritt: neue Parteien...

Es dominieren zunehmend populistische Inhalte, vereinfachte Sprache und ein scharfes Freund-Feind-Schema. Parteien wie die AfD, aber auch das BSW, setzen bewusst auf Abgrenzung von den politischen Eliten. Herausforderer-Parteien wachsen daher derzeit besonders schnell (vgl. Jun 2025, S. 15f.).

Zehn Jahre nach ihrer Gründung ist die AfD zweitstärkste Kraft im Bund und in Thüringen sogar mit Abstand stärkste Partei. Das BSW verfehlte zwar auf Bundesebene die Fünf-Prozent-Hürde, erzielte jedoch beachtliche Erfolge: In zwei Bundesländern übernahm es Regierungsverantwortung und spielt besonders in Ostdeutschland eine wachsende Rolle. Gleichzeitig werden SPD, Grüne und FDP dort zunehmend marginalisiert – Letztere sind mancherorts gar nicht mehr in Landesparlamenten vertreten

...und institutionelle Experimente

Neben neuen Parteien entstehen auch neue Beteiligungsformen, um der zunehmenden Polarisierung und dem Gefühl politischer Entfremdung entgegenzuwirken. Bürger*innenräte finden dabei wachsende Beachtung. Ihr Ziel ist es, mehr Partizipation zu ermöglichen und Repräsentationsdefizite zu verringern (vgl. Müller 2025, S. 7).

Allerdings gibt es Herausforderungen: Bürger*innenräte leiden unter einem Legitimitätsdefizit, da sie nicht gewählt, sondern aus einem repräsentativen Querschnitt berufen werden (vgl. Müller 2025, S. 7). Die angestrebte Repräsentativität wird damit teuer erkauft. Zudem fällt es den Ratsmitgliedern oft schwer, verbindliche Forderungen zu formulieren – sei es aus Unsicherheit oder wegen ihres lediglich beratenden Charakters. Die Politik kann sich dadurch relativ leicht über ihre Empfehlungen hinwegsetzen (vgl. Müller 2025, S. 7f.)

Literaturverzeichnis 

  • Jun, Uwe (2025): Das Parteiensystem zwischen Fragmentierung und Polarisierung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Parteiendemokratie, Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung 75 (27-28), S. 10 – 17.
  • Koß, Michael (2025): Abschied von den Allerweltsparteien? In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Parteiendemokratie, Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung 75 (27-28), S. 26 – 31.
  • Müller, Jan-Werner (2025): Ende der Parteiendemokratie? In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Parteiendemokratie, Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung 75 (27-28), S. 4 – 9.

Mittwoch, 18. Juni 2025

Rechtspopulismus in Ungarn - Transnationale rechte Netze in Budapest

Budapest Calling - Das neue Zentrum des Autoritarismus? 

Was sich im Februar und Mai 2025 in Budapest zutrug, ist mehr als eine diplomatische Randnotiz am Rande eines Wahljahres. Es ist ein tektonisches Signal: Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán empfängt AfD-Co-Chefin Alice Weidel wie eine Staatsfrau. Ein Schulterschluss, orchestriert auf der CPAC Hungary, jenem rechtskonservativen Gipfel der Wohlfühl-Reaktionäre, der mittlerweile wie eine globalisierte Echokammer des Populismus funktioniert. Orbán bezeichnete sie dabei öffentlich als „die Zukunft Deutschlands“ (Reuters, 2025). Was auf der Bühne als „Verteidigung der westlichen Zivilisation“ verkauft wird, ist in Wahrheit ein konzertierter Angriff auf das Fundament der liberalen Demokratien Europas.

Orbáns Ungarn hat sich über ein Jahrzehnt hinweg zur Blaupause der illiberalen Demokratie (ein Begriff, den Orbán selbst mit perfider Offenheit geprägt hat) transformiert – systematisch, strategisch und mit populistischer Raffinesse. Schritt für Schritt wurden Justiz, Medien, Universitäten und NGOs entmachtet oder gleichgeschaltet, demokratische Strukturen formal erhalten, aber funktional entkernt (bpb, 2024). Die EU verhandelt seit Jahren unter Artikel 7 wegen Gefahr für die Rechtsstaatlichkeit – doch Orbán nutzt genau das zur Selbstinszenierung als „Freiheitskämpfer gegen Brüssel“ (Zeit, 2024).

Dass nun eine deutsche Oppositionspolitikerin – ihres Zeichens Teil einer Partei, die vom Verfassungsschutz beobachtet wird – demonstrativ den illiberalen Despoten hofiert, markiert eine neue Eskalationsstufe in der Normalisierung antidemokratischer Ideologien. Weidels Besuch bei Orbán ist keine Laune des Wahlkampfs, sondern Ausdruck eines ideologischen Schulterschlusses zwischen zwei politischen Projekten: jenem des identitär gewendeten Nationalstaats und jenem des ressentimentgeladenen Postliberalismus. Beide eint ein elitenfeindlicher Diskurs, der sich wahlweise gegen „Brüssel“, „Gender-Ideologen“, „Migranten“ oder „transatlantische NGO-Netzwerke“ richtet. In dieser paranoiden Ideologiearchitektur ist kein Platz für Komplexität, Ambiguitätstoleranz oder deliberative Willensbildung. Stattdessen: Mythen. Ersatzreligion. Nationalpathos (bpb, 2024).

Der Populismus fungiert hier nicht als Korrektiv, sondern als Destabilisierungsformel für liberale Ordnungen. Weidels explizites Lob für Orbáns Regierung – deren Erfolge angeblich in der „Verteidigung traditioneller Werte“ und „Souveränität“ bestehen – verschleiert die zentralen Realitäten: die systematische Aushöhlung demokratischer Kontrolle, die Umverteilung öffentlicher Güter an oligarchische Netzwerke (crony capitalism), die Ausschaltung freier Medien und der Umbau des Bildungswesens zu einem Werkzeug ideologischer Indoktrination. Dass Weidel in diesem System ein „Leuchtfeuer der Freiheit“ erkennt, ist nichts weniger als eine Pervertierung des freiheitlichen Begriffs (bpb, 2024).

Was in Budapest inszeniert wird, ist nicht bloß ein Treffen zweier Gleichgesinnter, sondern ein Knotenpunkt in einem transnationalen Netz rechter Gegenmoderne. CPAC fungiert dabei als institutionalisierte Plattform zur Koordinierung autoritärer Narrative: USA, Ungarn, Italien, Frankreich, Österreich, Deutschland. Die Teilnehmer sprechen unterschiedliche Sprachen, doch sie träumen denselben Traum: die Rückkehr zur imaginierten Homogenität, zur ethnisch-kulturellen Geschlossenheit, zur patriarchal-nationalen Reinform der Gesellschaft. Das ist keine konservative Politik mehr – das ist Reaktionismus mit globaler Agenda (Tagesschau, 2025).

Aus demokratietheoretischer Perspektive stellt diese Allianz eine Delegitimierungswelle dar: der politische Mainstream wird pathologisiert, das Vertrauen in Institutionen systematisch untergraben, Fakten werden durch affektive Erzählungen ersetzt – ein „epistemischer Staatsstreich“ (Chantal Mouffe). In dieser Gemengelage fungiert Orbán nicht mehr als ungarischer Ministerpräsident, sondern als Avantgardist eines autoritären Internationalismus. Und Weidel? Als deutsche Agentin dieses Projekts, das die parlamentarische Demokratie nicht mehr reformieren, sondern überwinden will.

Die Folgen für die politische Kultur in Deutschland sind dramatisch. Der Besuch Weidels in Ungarn entlarvt endgültig die rhetorischen Nebelkerzen vom „bürgerlichen Flügel“ der AfD. Es geht nicht mehr um Protest, sondern um politische Macht durch Systemverachtung. Wer Orbán hofiert, hofiert ein Modell, das Pressefreiheit, Pluralismus und Minderheitenschutz als „liberale Dekadenz“ verunglimpft. Was hier auf dem Spiel steht, ist die Integrität der offenen Gesellschaft. Liberal-demokratische Akteure müssen diesen geopolitischen Kulturkampf als das erkennen, was er ist: ein Angriff auf das demokratische Projekt Europas von innen. Es braucht keine Panikmache, sondern eine strategische Antwort: politische Bildung, normativer Selbstbehauptungswille, institutionelle Resilienz. Der naive Glaube, Rechtspopulismus werde sich von allein entzaubern, ist der größte Verbündete seiner Machtübernahme.

Ungarn ist nicht fern. Es ist das Versuchslabor dessen, was auch Deutschland blühen könnte, wenn das demokratische Immunsystem weiterhin schläfrig bleibt. Orbán empfängt Weidel nicht trotz ihrer AfD-Mitgliedschaft, sondern gerade deshalb. Er sieht in ihr eine Verbündete im Projekt der postliberalen Revanche. Und wenn die Lehre der Geschichte eines zeigt, dann dies: Demokratie stirbt nicht mit einem Knall, sondern mit einem Applaus – bei der CPAC, zwischen Selbstinszenierung und Messianismus.

Literatur

  • Bundeszentrale für politische Bildung (bpb). (2024). Make Hungary Great Again? https://www.bpb.de/themen/parteien/rechtspopulismus/553473/make-hungary-great-again/
  • Zeit Online. (2024). Europäische Union: Ungarn – Demokratieabbau unter Viktor Orbán, https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-04/europaeische-union-ungarn-demokratie-viktor-orban-komplettansicht
  • AP News. (2025). Hungary’s Orbán meets head of far-right German party AfD, calling her “the future of Germany”, https://apnews.com/article/4ef8646f5fcf11bb0f8a12d9fcb09461
  • Reuters. (2025). Hungary’s Orbán says ascendant far-right is Germany’s future, https://www.reuters.com/world/europe/hungarys-orban-says-us-funding-ngos-media-must-be-revealed-2025-02-07/
  • Tagesschau.de. (2025). CPAC in Ungarn: Die internationale Vernetzung der Rechten, https://www.tagesschau.de/ausland/europa/afd-cpac-ungarn-100.html

Montag, 2. Juni 2025

Schafplakat - Asylpolitik und Rhetorik der SVP

Ich erinnere mich noch genau an das Plakat, das mir während einer Autofahrt in meiner Kindheit sofort ins Auge stach: Ein weißes Schaf, welches ein schwarzes Schaf in den Hintern tritt. Ganze Straßenzüge der Vororte Zürichs waren damit plakatiert. Ich war noch ein Kind, verstand den politischen Zusammenhang, jedoch empfand ich sofort Mitleid. Warum wird das schwarze Schaf so unfair behandelt? Was unterschied es von den anderen, weißen Schafen?

Erst Jahre später begriff ich: Dieses Plakat hatte eine sehr viel tiefergehende politische Bedeutung, es war ein politisches Signal. Die Nutzung von schwarzen und weißen Schafen ist dabei hochsymbolisch. Weiß könnte als Repräsentant der weißen Mehrheitsbevölkerung gedeutet werden, während das schwarze Schaf dazu dient, die unerwünschten Zugewanderten darzustellen.

Die Schweizerische Volkspartei (SVP) nutzte es in verschiedenen Abwandlungen 2007 im Rahmen ihrer Ausschaffungsinitiative, ebenso in den Jahren 2010 und 2016, um für eine konsequente Ausschaffung krimineller Ausländer zu werben. Es ist eines der umstrittensten Wahlplakate der Schweizer Nachkriegsgeschichte und steht symbolisch für einen Wandel in der politischen Kommunikation wie auch in der Migrationspolitik des Landes. Die zentrale These dieses Beitrags lautet, dass das sogenannte Schafplakat nicht bloß ein Mittel der Provokation war, sondern ein Instrument symbolischer Macht, das Migrationspolitik emotionalisierte, visuell aufbereitete und zur Mobilisierung breiter Wählerschichten diente.

Ein besonders radikaler Ausdruck dieser Mobilisierung war die sogenannte Durchsetzungsinitiative der SVP, über die 2016 abgestimmt wurde. Sie knüpfte direkt an die 2010 angenommene Ausschaffungsinitiative an, mit der kriminelle Ausländer automatisch ausgewiesen werden sollten. Doch weil das Parlament bei der Umsetzung rechtliche Korrekturen vornahm, um die Verfassungsmäßigkeit und die Kompatibilität mit der Europäischen Menschenrechtskonvention zu wahren, reagierte die SVP mit einem politischen Frontalangriff: Die Durchsetzungsinitiative verlangte, dass die Ausschaffung auch bei Bagatelldelikten, etwa bei Sozialhilfebetrug oder einfacher Körperverletzung, automatisch erfolgen müsse, ohne richterlichen Ermessensspielraum und ohne Härtefallprüfung (Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement [EJPD], 2016).

Das Plakat zur Kampagne zeigte erneut das bekannte weiße Schaf, welches das schwarze aus der Schweiz tritt, ergänzt um den Slogan „Endlich Sicherheit schaffen!“. Die Gestaltung ist klar und kalkuliert: Die Farbe Rot als Hintergrund, das Schweizer Kreuz am Boden, der körperliche Tritt - all das suggeriert Handlungsdruck, nationale Abgrenzung und eine Ordnung, die es „endlich“ wiederherzustellen gilt. Das Bild wirkte nicht nur emotional, sondern auch autoritär: Es inszenierte das Ausländerrecht als Strafrecht, ohne Verhältnismäßigkeit oder Individualrecht. Die Initiative wurde letztlich abgelehnt, mit 58,9 % Nein-Stimmen (Swissvotes, 2016), doch das Motiv ging erneut viral.

Diese visuelle Polarisierung, das weiße gegen das schwarze Schaf, steht exemplarisch für ein Denken in Zugehörigkeit und Ausgrenzung, das nicht nur auf Straftäter unter Ausländer*innen abzielt, sondern sich zunehmend auf den gesamten migrationspolitischen Bereich erstreckt. Besonders deutlich zeigt sich dies in der schweizerischen Asylpolitik, die seit den frühen 2000er-Jahren nicht nur verschärft, sondern auch politisch und medial stark emotionalisiert wurde.

Die Rhetorik der SVP, in der Asylsuchende häufig als „Scheinasylanten“, „Sozialbetrüger“ oder gar „Sicherheitsrisiken“ bezeichnet werden, hat entscheidend zur Verschiebung des Diskurses beigetragen. Wie Mazzoleni (2022) herausarbeitet, versteht sich die SVP dabei nicht nur als klassisch rechte Partei, sondern als „Mainstream-Anti-Establishment-Partei“, die sich der Institutionen bedient, um sie zugleich zu delegitimieren, unter anderem durch direkte demokratische Instrumente wie Volksinitiativen zur Einschränkung des Asylrechts (S. 174-176).

Ein zentraler Wendepunkt war die Annahme des Asylgesetzes von 2006, das unter anderem die Sozialhilfe für abgewiesene Asylsuchende strich und die Ausschaffungshaft ausweitete (Staatssekretariat für Migration [SEM], 2006). Die öffentliche Debatte darüber war stark von Misstrauen, Sicherheitsbedenken und nationaler Abgrenzung geprägt - Stichworte, die auch in der Bildsprache des Schafplakats mitschwingen. Einzelne Kriminalfälle wurden dabei oft medial aufgebauscht und von der SVP genutzt, um generelle Verschärfungen zu legitimieren. Die Partei verstand es, aus vereinzelten Vorfällen kollektive Bedrohungsszenarien zu konstruieren, nicht nur für die öffentliche Ordnung, sondern auch für kulturelle Identität und soziale Stabilität.

Besonders wirkungsvoll wird diese Strategie im Rahmen der direkten Demokratie. Volksabstimmungen geben der Bevölkerung die Möglichkeit, unmittelbar über Gesetzesinitiativen zu entscheiden, ein demokratisches Privileg, das populistische Akteure wie die SVP strategisch zu nutzen wissen. In Migrationsfragen zeigen sich die Ambivalenzen dieser Verfahrensform besonders deutlich: Während das direktdemokratische System grundsätzlich auf Deliberation und Partizipation abzielt, ermöglichen es seine Mechanismen auch, politische Kampagnen mit emotional aufgeladenen Bildern und stark vereinfachten Botschaften durchzusetzen. Laut Mazzoleni (2022) konnte die SVP durch ihre Volksinitiativen nicht nur rechtlich bindende Normen etablieren, sondern auch politische Deutungsmuster nachhaltig verändern - insbesondere, indem sie „die Volkssouveränität gegen die Menschenrechte und den liberalen Rechtsstaat“ ausspielte (S. 181-182).

Diese Form der politischen Praxis transformiert den öffentlichen Diskurs: Der Asylbereich wird nicht mehr vorrangig als menschenrechtliche Verpflichtung oder Ausdruck humanitärer Verantwortung verstanden, sondern als Problemfeld kollektiver Sicherheit und kultureller Homogenität. Der Begriff „Asylmissbrauch“ wird dabei zum Leitmotiv - nicht juristisch definiert, aber medial wirksam. Die Grenzen zwischen verschiedenen Formen der Migration - Flucht, Arbeit, Familiennachzug - verschwimmen in der öffentlichen Wahrnehmung, wenn sie unter einem gemeinsamen Vorzeichen der Bedrohung subsumiert werden.

Die SVP hat sich in diesem Kontext als effektive Bild- und Kampagnenmaschine etabliert. Visuelle Mittel wie das Schafplakat oder andere grafisch drastische Motive (z.B. schwarze Hände, rote Flächen, durchgestrichene Minarette) dienen nicht bloß der Kommunikation, sondern der politischen Strukturierung gesellschaftlicher Debatten. Die Asylpolitik der Schweiz wurde dadurch zu einem symbolischen Austragungsort kultureller Konflikte, mit realen Folgen für Betroffene. Gesetzliche Verschärfungen, zunehmende Ausschaffungspraxis und eine wachsende Akzeptanz restriktiver Maßnahmen gegenüber Schutzsuchenden sind nicht allein das Ergebnis pragmatischer Notwendigkeiten, sondern Ausdruck einer tiefgreifenden politischen Verschiebung. In ihr kulminiert der Wandel, den die SVP mithilfe von Bildern wie dem Schafplakat befördert hat: von einer individualisierenden Prüfung hin zu einer kollektivierenden Ausgrenzung.

Besonders bemerkenswert ist, dass das Schafplakat längst über die Grenzen der Schweiz hinaus Wirkung entfaltet hat. Bereits kurz nach seiner Veröffentlichung 2007 wurde es international medial aufgegriffen, insbesondere infolge der Reaktionen des UN-Sonderberichterstatters für Rassismus, Doudou Diène, der das Motiv als rassistisch kritisierte und die Schweiz öffentlich aufforderte, sich davon zu distanzieren (SWI swissinfo.ch, 2007). Auch zahlreiche ausländische Medien, von der BBC bis zur New York Times, berichteten über das Plakat, meist in kritischem Ton. Es wurde damit zu einem internationalen Symbol für visuelle rechtspopulistische Mobilisierung. In Diskursen über antimuslimischen Rassismus, europäische Rechtsparteien oder die Politisierung der Migration wird es bis heute zitiert - als Beispiel dafür, wie suggestive Bildsprache kollektive Emotionen und Ausgrenzungsmechanismen verstärken kann. Damit steht das Plakat nicht nur für eine spezifisch schweizerische Debatte, sondern auch für eine visuelle Grammatik des Populismus, die global anschlussfähig ist.

Das Schafplakat der SVP ist weit mehr als ein umstrittenes Wahlkampfbild. Es steht für eine Form politischer Kommunikation, die auf visuelle Vereinfachung, emotionale Mobilisierung und kollektive Feindbildproduktion setzt. Die damit verbundenen Initiativen, insbesondere die Ausschaffungs- und die Durchsetzungsinitiative, haben nicht nur das Ausländer- und Asylrecht in der Schweiz verändert, sondern auch die politische Kultur. Die populistische Strategie der SVP nutzt die Mittel der direkten Demokratie, um aus einem Ausnahmefall eine Regel, aus einem Einzelfall ein Symbol und aus Angst eine politische Ressource zu machen. Das Schafplakat zeigt beispielhaft, wie politische Bildsprache gesellschaftliche Normen verschieben kann - mit globaler Resonanz und realen Konsequenzen für diejenigen, die aus dem symbolischen Kollektiv ausgeschlossen werden.

Literatur

Montag, 26. Mai 2025

„Heimat“ – ein umkämpfter und wandelbarer Begriff in Österreich

Der Begriff „Heimat“ hat in Österreich eine lange, komplexe und politisch aufgeladene Geschichte. Seine Bedeutung ist dabei keineswegs statisch, sondern spiegelt gesellschaftliche, politische und ideologische Entwicklungen wider. Dies wird besonders deutlich an den unterschiedlichen politischen Konjunkturen des Begriffs: von der nationalsozialistischen Vereinnahmung über rechtspopulistische Instrumentalisierung bis hin zu Versuchen progressiver Umdeutung.

Während der NS-Zeit war „Heimat” kein inklusiver Ort der Zugehörigkeit, sondern ein rassistisch und völkisch aufgeladener Begriff. Die Heimat wurde ausschließlich dem „eigenen Volk“ zugesprochen, das als überlegen und „unverwechselbar“ betrachtet wurde. Wer nicht dem nationalsozialistischen Ideal einer „deutschen Rasse“ entsprach, wurde aus diesem Heimatverständnis ausgeschlossen, ein Konzept, das zur Legitimation von Diskriminierung, Verfolgung und letztlich Vernichtung diente (Schneider & Toyka-Seid 2025). „Heimat“ war also kein universelles Schutz- oder Identitätsangebot, sondern ein Instrument der Exklusion.

Auch heute wird der Heimatbegriff von politischen Akteur:innen, insbesondere aus dem rechtspopulistischen Spektrum genutzt, um nationale Identität zu konstruieren und politische Abgrenzung zu betreiben. Eine zentrale Rolle spielt dabei die Freiheitliche Partei Österreichs (FPÖ), die seit den 1990er Jahren offensiv mit Slogans wie „Heimat statt Schüssel und Brüssel“ oder „Heimatliebe statt Marokkaner-Diebe“ arbeitet (Hermann 2020).

Im Wiener Wahlkampf 2015 setzte die FPÖ gezielt nationale Symbole wie die rot-weiß-rote Fahne, die Hymne und den Begriff „Heimat“ ein. Dies geschah auf eine Weise, die akuten Nationalismus hervorruft, durch die Verbindung von Heimat mit Abschottung, kultureller Homogenität und der Forderung nach nationaler Integrität (de Cillia et al. 2020, S. 183-184). Heimat wird hier als etwas präsentiert, das verteidigt werden muss, gegen äußere Einflüsse wie Migration.

Diese Art der Heimatkonstruktion beruht häufig auf Abgrenzung. Der „Schutz der Heimat” dient dabei als Legitimationsfigur für Grenzschließungen und eine rigide Asylpolitik. Diese Strategie wird von rechtspopulistischen Kräften bewusst eingesetzt, um Angst vor dem Verlust nationaler Identität zu schüren (de Cillia et al. 2020, S. 221). Dadurch wird „Heimat“ zu einem politischen Kampfbegriff, der Machtverhältnisse durch Inklusion und Exklusion reguliert.

Zudem zeigt sich zunehmend, dass „Heimat” als Symbol für kulturelle Authentizität genutzt wird, beispielsweise durch die FPÖ und die ÖVP, die sich für eine stärkere Förderung der Volkskultur einsetzen. In Kärnten etwa wird die Bewahrung der regionalen Kultur – von Trachten bis Blasmusik – als identitätsstiftend betrachtet und politisch forciert (Müller 2025). In der Steiermark nimmt dieser Diskurs mit der geplanten Verfassungsverankerung der Landeshymne gar verfassungsrechtliche Dimensionen an, obwohl es aufgrund historisch aufgeladener Textstellen diplomatische Spannungen mit Slowenien gibt. Auch hier dient „Heimat” als ein kulturell überformter Begriff mit geopolitischer Sprengkraft.

Im österreichischen Bundespräsidentschaftswahlkampf 2016 wurde das Thema „Heimat” schließlich auch von Kandidat:innen unterschiedlicher politischer Lager aufgegriffen. Norbert Hofer (FPÖ) propagierte ein konservativ-exklusives Heimatbild, während Alexander Van der Bellen ein offenes, integratives Verständnis vertrat, wenn auch mit Rückgriff auf klassische Heimatbilder (Hermann 2020, S. 2-3). Die Analyse zeigt, dass „Heimat“ als symbolischer Ort der Zugehörigkeit fungiert, jedoch je nach politischer Orientierung sehr unterschiedlich konzipiert wird: offen versus geschlossen, wandelbar versus statisch, inklusiv versus exklusiv.

Der Heimatbegriff in Österreich ist umkämpft und ideologisch aufgeladen. Seine Deutungen schwanken zwischen Erinnerungskultur, identitätspolitischer Waffe und symbolischem Anker. Während rechte Parteien Heimat häufig als statischen Raum der Abgrenzung inszenieren, wird er von progressiven Kräften zunehmend als dynamisches Konzept der sozialen Inklusion verstanden. Gerade deshalb bleibt „Heimat” ein Begriff, der kritisch beobachtet und immer wieder neu ausgehandelt werden muss.

Literatur

  • de Cillia, R., Wodak, R., Rheindorf, M., Lehner, S. (2020). Österreichische Identitäten im Wandel. Wiesbaden: Springer VS.
  • Hermann, A. T. (2020). Heimat neu denken? „Heimat“ als umkämpfter Begriff im österreichischen Bundespräsidentschaftswahlkampf 2016. OZP – Austrian Journal of Political Science, 48(4), 1–14. https://doi.org/10.15203/ozp.2932.vol48iss4.
  • Müller, W. (2025). Volkskultur, Trachten, Landeshymne: Wie der Heimatbegriff die Politik dominiert. Der Standard. https://www.derstandard.at/story/3000000269958/volkskultur-trachten-landeshymne-wie-der-heimatbegriff-die-politik-dominiert.
  • Schneider, G., & Toyka-Seid, C. (2025). Das junge Politik-Lexikon. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Sonntag, 25. Mai 2025

Trump und das Aus für die „Fulbright Diversity Initiative“

In diesem Beitrag geht es um die Auswirkungen der Maßnahmen der Trump-Administration auf studentisches Leben in Deutschland am Beispiel des Stipendienprogramms für deutsche Studierende „Fulbright Diversity Initiative“, die jetzt „Discover the USA“ heißt.

Ich erhalte eine Nachricht auf mein Handy. Es kommt aus der Alumni-Gruppe meines Fulbright Stipendiums, mit dem ich 2018 vier Wochen an einer amerikanischen Universität ein Schnupper-Studium machen durfte. Ich konnte Themen wie Diversität, Migrationsgeschichte Amerikas und Inklusion in vielen der Seminare und Diskussionen vertiefen und eine wertvolle Erfahrung im Austausch zweier Länder reflektieren und in einem Blog festhalten (a).

Damals schon überschattete unsere politischen Debatten auf dem Campus in San Antonio, Texas, die Wahl Donald Trumps. In seiner Kandidatur vertrat der Republikaner eine Sicht auf die Gesellschaft, die gespalten war zwischen ihm und der demokratischen Gegenkandidatin Hilary Clinton. Eine amerikanische Studentin erklärte uns auf unsere Frage hin, warum Trump gewählt wurde, dass Trump als „lesser evil“ erachtet wird, also einfach das geringere Übel im Vergleich zu seiner Gegenkandidatin darstellt. Die Menschen seien wirtschaftlich gesehen für eine Politik von Trump, denn Clinton habe wirtschaftlich keine so guten Versprechen gegeben.

Einen Fakten-Check dieser Behauptung könnte man anhand Trumps nicht vorhandenem Plan und dem konkreten Handlungsplan Clintons schwierig durchführen, jedoch hat alleine der Wahlkampf-Slogan „Make America Great Again“ einen Anspruch verfolgt, den Menschen aus den USA wieder zu dienen, Amerika in den Mittelpunkt zu stellen und der Bevölkerung den nationalen Stolz zurückzugeben. Heute – nach seinem zweiten Amtsantritt – erkennen wir einen „more evil“-Ansatz seiner Politik, eine Radikalisierung.

Doch zurück zur Nachricht: In der Nachricht steht: „Habt ihr schon gehört, dass die Fulbright Diversity Initiative zu `Discover the USA‘ umbenannt wurde?“ Empörung macht sich bei den Alumni breit. Jemand anderes teilt ein Statement der aktuellen Trump-Regierung mit dem Kommentar „Fulbright allgemein steht in der Schusslinie der Regierung [der USA]“:

„May 2, 2025 – Trump administration submits a discretionary budget for FY2026 that includes a 93% decrease in funding for Educational and Cultural Exchanges (691 million). This line item includes the Fulbright Program – The reason cited is the following: “Inspector General reports have documented insufficient monitoring for fraud and inefficient, wasteful programming at the expense of U.S. taxpayers. Foreign students receiving technical and high demand training leave to take those skills overseas, including back to near-peer rivals, having deprived American students of places to acquire those skills. This program is no longer affordable. (b)

Das Programm, das ursprünglich explizit für deutsche Studierende mit Migrationsgeschichte ausgeschrieben wurde, ist nun nicht mehr explizit für marginalisierte Gruppen ausgerichtet, was die Essenz des Programms ausmachte. Es war entwickelt worden, um die prozentual unterrepräsentierten Bewerber*innen mit Migrationsgeschichte für vollwertige Fulbright-Stipendien zu motivieren und ihnen ein Probe-Studium anzubieten.

Wie hat Trump das alles so schnell gemacht? Er brauchte dazu nicht einmal eine Gesetzesänderung, für die er eine Mehrheit im Kongress benötigt hätte, sondern hat kurzerhand einen präsidentiellen Erlass veröffentlicht, der direkt umgesetzt wird. Bei diesen Erlassen gibt es keine Möglichkeit, dass sie durch die Gesellschaft diskutiert, berichtigt, geschweige denn verhindert werden können. Die amerikanische Bevölkerung hat dennoch eine geringe Macht: sie hat gegen diesen Erlass mit einer Kampagne reagiert, die den Kongress dazu aufruft, gegen diese Regelung zu stimmen. (c)

Dieses politische Vorgehen mit einer konkreten Programmatik, die Trump nun umsetzen will, kann als radikalisierter Konservatismus beschrieben werden. Der Begriff wurde unter Anderem von der Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl (d) beleuchtet. Und dieser radikalisierte Konservatismus birgt große Gefahren für den Erhalt der demokratischen Grundprinzipien und den Schutz der Menschenrechte.

Mit der Verbannung von Wörtern wie z.B. Diversität, Queer, Gender usw. geht ein Konflikt mit vielen von der Regierung bezuschussten Programmen einher. Die Fulbright Kommission schreibt sich folgende zentrale Vision auf die Fahnen:“We are committed to ensuring that participants in our programs reflect the diversity of educational, scholarly, and professional excellence in our changing societies. To that end, we endeavor to address barriers to participation that hinder access to the transformative benefits of the Fulbright experience and Fulbright Community.“(e)

Wie in Zukunft die gesellschaftliche Diversität in öffentlichen Programmen und an öffentlichen Debatten nun weiter umgesetzt werden können, bleibt abzuwarten. Dennoch kann ich mit Verlaub sagen, dass das Programm in seiner grundlegenden Struktur delegitimisiert wurde und nicht mehr das sein kann, was es war: Ein Versuch Chancenungleichheit entgegenzuwirken.

Verweise:

Donnerstag, 22. Mai 2025

Die Stärke rechtspopulistischer Parteien in ländlichen Regionen

In den letzten Jahren haben rechtspopulistische Parteien wie die AfD in Deutschland, der Rassemblement National (RN) in Frankreich und der Trumpismus in den USA besonders in ländlichen Regionen an Zustimmung gewonnen. Dabei handelt es sich um eine zentrale Gemeinsamkeit rechtspopulistischer Parteien. In diesem Blogbeitrag möchte ich dieser Beobachtung nachgehen und die Ursachen für die geografischen Unterschiede in der Wählerschaft beleuchten.
 
Ländliche Räume: Nährboden für Rechtspopulismus 
 
In ländlichen Gebieten fühlen sich viele Menschen politisch und wirtschaftlich abgehängt. In Ostdeutschland beispielsweise zeigen Studien, dass die AfD besonders in eher ländlichen Gemeinden hohe Wahlergebnisse erzielt, während in sehr ländlichen oder urbanen Regionen die Unterstützung geringer ausfällt. Diese "Zwischenräume" erleben oft einen Strukturwandel ohne ausreichende politische Begleitung, was das Gefühl der Vernachlässigung verstärkt (https://literatur.thuenen.de/digbib_extern/dn061129.pdf).
 
In Frankreich konnte der RN bei den Parlamentswahlen 2024 in ländlichen Regionen stark zulegen. Wähler:innen äußerten Unzufriedenheit mit der wirtschaftlichen Situation und der Wahrnehmung, von der zentralen Politik in Paris ignoriert zu werden.
 
In den USA hat Donald Trump insbesondere in ländlichen Gebieten Unterstützung gefunden, indem er wirtschaftliche Ängste und kulturelle Unsicherheiten adressierte. Viele dieser Wähler:innen fühlten sich von der Demokratischen Partei nicht mehr vertreten und sahen in Trump einen Anwalt ihrer Interessen.
 
Urbane Zentren: Hochburgen demokratischer Parteien

Städte zeichnen sich durch höhere Bildungsniveaus, größere ethnische Vielfalt und ein breiteres kulturelles Angebot aus. Diese Faktoren korrelieren mit einer höheren Unterstützung für demokratische und progressive Parteien. Eine Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung zeigt, dass in urbanen Gebieten Parteien wie die SPD und die Grünen stärkeren Rückhalt finden, während auf dem Land konservative und rechtspopulistische Parteien dominieren (https://www.kas.de/de/monitor/detail/-/content/stadt-land-unterschiede).
 
In den USA konzentriert sich die Unterstützung für die Demokratische Partei ebenfalls in städtischen Gebieten, wo Themen wie soziale Gerechtigkeit, Klimaschutz und Diversität eine größere Rolle spielen. Diese Unterschiede im Wahlverhalten spiegeln die unterschiedlichen Lebensrealitäten und Prioritäten von Stadt- und Landbewohner:innen wider.
 
Die Bedeutung des Dialogs zwischen Stadt und Land

Die unterschiedlichen Wahlergebnisse zwischen urbanen und ländlichen Regionen verdeutlichen die Notwendigkeit eines intensiveren Dialogs. Politische Strategien sollten in Zukunft darauf abzielen, die spezifischen Bedürfnisse und Sorgen der ländlichen Bevölkerung ernst zu nehmen, ohne dabei demokratische Grundwerte zu schädigen. Gleichzeitig müssen urbane Zentren ihre Rolle als Motoren für Innovation und Integration weiterhin wahrnehmen und Brücken in ländliche Regionen bauen. Nur durch gegenseitiges Verständnis und gezielte politische Maßnahmen kann die Kluft zwischen Stadt und Land überwunden und der Aufstieg rechtspopulistischer Bewegungen eingedämmt werden.
 
Quellen:
  • https://www.kas.de/de/monitor/detail/-/content/stadt-land-unterschiede
  • https://literatur.thuenen.de/digbib_extern/dn061129.pdf
  • https://www.cpreview.org/articles/2025/2/running-on-resentment-the-national-rally-in-rural-france?
  • https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/studie-afd-waehler-100.html
  • https://www.bpb.de/themen/parteien/parteien-in-deutschland/afd/273131/wahlergebnisse-und-waehlerschaft-der-afd/ Wahlergebnisse und Wählerschaft der AfD | Parteien in Deutschland

Mittwoch, 14. Mai 2025

Scheitert Marine Le Pens Entdämonisierungsstrategie an einem Gerichtsurteil?

Marine Le Pen hat sich in den vergangenen Jahren der dédiabolisation, der Entdämonisierung ihrer Partei verschrieben. Sie wollte den rechtsextremen Front National zum regierungsfähigen Rassemblement National (RN) umbauen. Lange schien diese Strategie aufzugehen, was sich an den steigenden Wahlergebnissen bei den Präsidentschaftswahlen zeigte (2022: 2. Wahlgang: 41,5 %). Doch nun stellt sich die Frage, ob ein Pariser Gerichtsurteil diesen politischen Kurs nicht endgültig scheitern lässt.

Die Verurteilung Le Pens zu vier Jahren Haft aufgrund Veruntreuung öffentlicher Gelder – zwei davon auf Bewährung, zwei unter elektronischer Fußfessel –, einer hohen Geldstrafe und vor allem zur fünfjährigen Unwählbarkeit ist ein massiver Einschnitt. Er gefährdet das zentrale Ziel Le Pens: dass der RN nicht nur wählbar, sondern regierungsfähig wird.

Anstatt als Reaktion auf das Urteil auf Seriosität und Rechtsstaatlichkeit zu setzen, inszeniert sie sich als Opfer dunkler Mächte und wendet dabei eine Rhetorik an, die an Donald Trump erinnert. Von einer „Diktatur der Richter“ ist die Rede, von politischer Verfolgung und von Parallelen zum Fall Nawalny.

Was kurzfristig als Mobilisierung ihrer Kernwählerschaft wirkt, könnte sich langfristig als schwerer Fehler erweisen. Denn Le Pens jüngste Äußerungen stehen im Widerspruch zu ihrer strategischen Ausrichtung. Das Ziel, moderate bürgerliche Wähler der Mitte zu gewinnen, verträgt sich kaum mit Verschwörungserzählungen und Richterbeschimpfungen.

Laut aktuellen Umfragen hält eine Mehrheit der Franzosen das Urteil für gerechtfertigt. Fast zwei Drittel akzeptieren auch die sofortige Anwendung der Unwählbarkeit. Das beschädigt nicht nur Le Pens persönliche Glaubwürdigkeit, sondern auch die ihres Projekts der Normalisierung der Partei.

Le Pen hat Berufung eingelegt und will sich zusätzlich an den Verfassungsrat und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden. Ziel: das Urteil kippen oder zumindest die sofortige Wirkung der Unwählbarkeit aufheben zu lassen. Denn wenn sie trotz des laufenden Verfahrens 2027 kandidieren dürfte, wäre das vielleicht ihre letzte Chance, das Ruder noch einmal herumzureißen.

Doch die Strategie ist riskant. Ein solches Szenario setzt voraus, dass ihre Beliebtheitswerte stabil bleiben, dass ihre Gegner keinen glaubwürdigen Gegenkandidaten aufstellen und dass sie selbst den Eindruck der juristisch und moralisch angeschlagenen Kandidatin ablegen kann. Es mag bezweifelt werden, ob das gelingt.

Fazit: Marine Le Pens Strategie der Entdämonisierung steht an einem Wendepunkt. Das Urteil ist nicht nur juristisch, sondern auch politisch für sie ein Einschnitt. Ob sie sich aus der Affäre befreien kann, hängt nicht nur von Gerichten ab, sondern auch von der öffentlichen Wahrnehmung ihrer Reaktion. Ihr alter Kampfgeist könnte in diesem Fall zur selbstgebauten Falle werden. Denn je mehr sie gegen den Staat wettert, desto weniger wirkt sie wie eine Frau, die ihn eines Tages glaubwürdig und seriös führen könnte.

Quelle: https://www.spiegel.de/ausland/marine-le-pen-wie-rechte-in-frankreich-jetzt-die-justiz-attackieren-a-2a58427e-08d5-4adc-91d7-99c451667bb7 (zuletzt abgerufen am 14.05.2025)

Sonntag, 23. Juni 2024

Lektüreempfehlung zum Thema Antisemitismus

Die aktuelle Ausgabe der Zeitschrift "Aus Politik und Zeitgeschichte" (APuZ 25–26/2024) widmet sich dem Thema Antisemitismus und umfasst folgende Beiträge:

  • [besondere Leseempfehlung:] JAN PHILIPP REEMTSMA:
    ANTISEMITISMUS – WAS GIBT ES DA ZU ERKLÄREN?
    Die Geschichte der Versuche, den Antisemitismus zu „erklären“, ist lang und unübersichtlich – und vergeblich. Letztlich ist er ein Angebot, Mitglied einer internationalen Ressentimentgemeinschaft zu sein und die Schranken der Zivilisation einzureißen.
  • TOM KHALED WÜRDEMANN: ISRAEL UND DER ANTISEMITISMUS
    Seit einigen Jahren läuft eine Kontroverse um zwei Antisemitismusdefinitionen. In historischer Betrachtung haben beide größere Unschärfen, derer man sich bei der Beurteilung politischer Ereignisse und Erscheinungsformen des Antisemitismus bewusst sein sollte.
  • MARINA CHERNIVSKY / FRIEDERIKE LORENZ- SINAI: DER 7. OKTOBER ALS ZÄSUR FÜR JÜDISCHE COMMUNITIES
    Antisemitismus durchdringt das Leben der in Deutschland lebenden Jüdinnen und Juden in vielfacher Hinsicht. Dies gilt nochmals verstärkt seit dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023. Wie haben Jüdinnen und Juden diesen Tag erlebt und welche Bedeutung hat er für sie?
  • SINA ARNOLD / MICHAEL KIEFER: ANTISEMITISMUS IN MUSLIMISCHEN COMMUNITIES UND ANTIMUSLIMISCHER RASSISMUS
    Vorstellungen eines spezifisch „muslimischen Antisemitismus“ bergen die Gefahr einer ungerechtfertigten Pauschalverdächtigung. Sowohl Antisemitismus als auch antimuslimischer Rassismus müssen ernst genommen werden, egal von wem sie ausgehen.
  • DEBORAH SCHNABEL: ANTISEMITISMUS IN DIGITALEN RÄUMEN
    Wer den heutigen Antisemitismus verstehen will, muss sich mit den Logiken, Merkmalen und Wirkweisen unseres postdigitalen Zeitalters auseinandersetzen. Alle bekannten Motive des Antisemitismus tauchen auch im Digitalen auf. Politische Bildung muss sich darauf einstellen.
  • MATTHIAS J. BECKER: ANTISEMITISCHE KOMMUNIKATION IM INTERNATIONALEN VERGLEICH
    Im Forschungsprojekt „Decoding Antisemitism“ wird in den Blick genommen, wie in Kommentaren auf Youtube- und Facebook-Profilen von deutschen, britischen und französischen Medien auf den 7. Oktober 2023 reagiert wurde: vielfach mit antisemitischer Hassrede.
  • NIKLAS FISCHER: ERINNERUNGSKULTURELLE DEUTUNGSKÄMPFE VON RECHTSAUẞEN
    Die Neue Rechte sieht im Holocaust-Gedenken die Ursache einer negativen deutschen Identität, die es durch eine „erinnerungspolitische Wende“ zu überwinden gelte. Sie inszeniert sich als Opfer einer „Zivilreligion“. Antisemitismus verortet sie ausschließlich bei anderen.
  • ALEXANDER ESTIS: SHOAHPPROPRIATION
    Immer wieder wird der sogenannte Judenstern missbraucht, um sich selbst als Opfer zu inszenieren. Diese Aneignung evoziert jedoch nicht nur das eigentliche Vergleichsmoment, das Opfertum, sondern ebenso antisemitisch-verschwörungstheoretische Weltbilder.

Dienstag, 2. April 2024

Populismus: eine „dünne Ideologie“

An unterschiedlichen Stellen hier im Blog wurde bereits auf eine Definition von Populismus zurückgegriffen, die ihn als eine „dünne“ (oder alternativ auch „thin-centered“) Ideologie bezeichnet. Beispiele für diese Stellen sind diese, diese, diese und diese. Bereits 2017 wurde im Rahmen einer Buchvorstellung auf den Populismus als „dünne Ideologie" verwiesen. Dieser Beitrag will sich zum einen der Genese des Begriffes „dünne Ideologie“ und zum anderen der Populismus-Definition von Cas Mudde, auf die im Blog zuweilen rekurriert wird, widmen.

Der Begriff der „dünnen Ideologie“ geht auf Michael Freeden zurück, der zum Zeitpunkt der Veröffentlichung seiner Untersuchung, ob Nationalismus eine eigenständige Ideologie ist, am Mansfield College an der Universität Oxford forschte und lehrte. Freeden beschrieb den Nationalismus 1998 in einem Beitrag des Journals „Political Studies“ als eine dünne („thin-centered“) Ideologie. Er definierte „dünne Ideologie“ als eine Ideologie, die sich willkürlich von breiteren ideellen Zusammenhängen abkoppelt, indem sie bewusst Konzepte entfernt und ersetzt. Die Folge sei eine strukturelle Unfähigkeit zu komplexen Argumentationsketten (vgl. Freeden 1998, S. 750).

Im Gegensatz zu dünnen Ideologien hätten eigenständige („distinct“) Ideologien einen einzigartigen Kern und auch die übernommenen Muster seien einzigartig. Vollständige („full“) Ideologien gäben eine recht breite, wenn nicht gar umfassende Palette von Antworten auf die politischen Fragen, die Gesellschaften aufwerfen (vgl. ebd.). Umfassende („comprehensive“) Ideologien böten Lösungen für Fragen der sozialen Gerechtigkeit, der Ressourcenverteilung und der Konfliktbewältigung (vgl. ebd., S.751).

Der Nationalismus erfülle die Kriterien einer umfassenden Ideologie nicht und oszilliere zwischen einer eigenständigen dünnen Ideologie und einem Bestandteil einer bereits bestehenden Ideologie (vgl. ebd.). Er erscheine als plastisches Gebilde, in dem sich die noch größere Komplexität seines Wirts („host containers“) widerspiegele. Wenn er gelegentlich versuche, für sich alleine zu stehen, komme seine ideelle Schwäche zum Vorschein (vgl. ebd., S.765).

Taggart (2000) schreibt dem Populismus ein „leeres Herz“ zu: er habe – im Gegensatz zu manch anderen Ideologien – keine Bindung an Leitwerte. Damit erklärt er, weshalb Populismus häufig als Adjektiv an andere Ideologien angehängt ist: die anderen Ideologien füllen den Raum im leeren Herzen des Populismus (S. 4).

Fieschi (2004) führte diese beiden Überlegungen Taggarts und Freedens zusammen (S. 238). Die Unfähigkeit des Populismus, alleine (also außerhalb eines ideologischen Wirtskörpers) zu stehen, führe zu dessen selbstbegrenzender Natur. Dies sei mit der Dünn-Zentriertheit des Nationalismus vergleichbar, die Freeden (1998) als Wesensmerkmal des Nationalismus erkannte. Deshalb betrachtet Fieschi (2004) den Populismus als „politischen Parasiten“ (S.236). Die selbstbegrenzende Natur des Populismus (Taggart 2000, S. 118) könne sogar das markanteste Merkmal des Populismus sein (Fieschi 2004, S. 238), und er ist dabei diffus und offen zugleich: diffus, weil er keinen programmatischen Kern hat, und offen, weil er mit anderen umfangreicheren Ideologien zusammenleben kann (vgl. Stanley 2008, S. 99f).

Die „chamäleonhafte Erscheinungsform“ (Priester 2012, S. 36) des Populismus, die Tatsache, „dass er Verbindungen mit verschiedenen, teilweise gegenläufigen politischen Inhalten eingehen könne“ (Decker 2000, S. 38) führt zu grundlegenden Überlegungen darüber, ob der Populismus überhaupt eine Ideologie ist oder ob er dafür zu schwach ist. So wird der Populismus unter anderem als „etwas einer Ideologie Vorgelagertes“ (Priester 2012, S. 40) und als Denkstil bzw. Mentalität verstanden (vgl. ebd., S. 41).

Mudde (2004) gesteht dem Populismus nicht „das gleiche Maß an intellektueller Raffinesse und Konsistenz wie beispielsweise de[m] Sozialismus oder de[m] Liberalismus“ (S. 178) zu. Er sei „nur eine dünne Ideologie, die einen begrenzten Kern aufweist, der mit einem engeren Spektrum politischer Konzepte verbunden ist“ (ebd.). Der dünne Populismus könne „leicht mit sehr unterschiedlichen (dünnen und komplexeren) anderen Ideologien […] [wie] Kommunismus, Ökologismus, Nationalismus oder Sozialismus [kombiniert werden]“ (ebd.).

Später definiert er Populismus als „dünne Ideologie, nach der die Gesellschaft letztlich in zwei homogene antagonistische Lager gespalten ist, „das anständige Volk“ und die „korrupte Elite“, und Politik ein Ausdruck der volonté générale (Gemeinwillen) des Volkes sein sollte“ (Mudde/Kaltwasser 2019, S. 25). Dieser „ideenorientierte[…] Ansatz“ ist dabei „nur eine[r] von zahlreichen Zugängen zum Populismus“ (ebd., S. 21).

Die Verwendung des ideenorientierten Ansatzes bringe dabei folgende Vorteile: seine Durchlässigkeit werde erklärbar (ebd., S. 43); er könne erklären, weshalb unterschiedliche politische Akteure mit dem Populismus in Verbindung gebracht werden (ebd., S. 44); er könne sein wechselhaftes und komplexes Verhältnis (je nach Stadium der Demokratisierung) zur Demokratie erklären (ebd.) und er berücksichtige sowohl die Angebots- als auch die Nachfrageseite der populistischen Politik (ebd.).

Abgeschlossen werden soll dieser Beitrag mit einem Hinweis auf die Relevanz der Trennung von Populismus und seinen Wirtsideologien. Eine Verwechslung von Wirt und Gast, dem Populismus, kann dafür sorgen, dass die Auswirkungen des Populismus an den Stimmenanteilen populistischer Parteien überschätzt werden. Ein wesentlicher Erfolgsfaktor populistischer Parteien liegt in ihrer Programmatik und diese kann nicht der Populismus, sondern nur die entsprechenden Wirtsideologie liefern (vgl. Dai 2023).

Literatur 

  • Dai, Yaoyao (2023): Don’t exaggerate the importance of populism. (TheLoop vom 02.08.2023) <https://theloop.ecpr.eu/dont-exaggerate-the-importance-of-populism/> (18.03.2024).
  • Decker, Frank (2000): Parteien unter Druck. Der neue Rechtspopulismus in den westlichen Demokratien, Springer Fachmedien: Wiesbaden.
  • Freeden, Michael (1998): Is Nationalism a Distinct Ideology?. In: Political Studies 46(4), S.748-765.
  • Mudde, Cas (2004): Der populistische Zeitgeist. In: Müller, Kolja (Hrsg.): Populismus. Ein Reader, Suhrkamp: Berlin, 175-201.
  • Mudde, Cas/Kaltwasser, Cristóbal Rovira (2019): Populismus. Eine sehr kurze Einführung, J.H.W. Dietz Nachf.: Bonn.
  • Priester, Karin (2012): Rechter und linker Populismus. Annäherung an ein Chamäleon, Campus: Frankfurt.
  • Stanley, Ben (2008): The thin ideology of populism. In: Journal of Political Ideologies 13(1), S.95-110.
  • Taggart, Paul (2000): Populism, Open University Press: Buckingham.

Sonntag, 31. März 2024

Viktor Orbáns Nutzung Sozialer Medien

Der Ministerpräsident von Ungarn, Viktor Orbán, ist ein Beispiel für den Aufstieg des Populismus in Europa in den 2010er Jahren. Deswegen ist es besonders interessant zu erforschen, wie er über einen so langen Zeitraum die Unterstützung der Öffentlichkeit gewinnen konnte. Vor diesem Hintergrund und angesichts der zunehmenden Bedeutung sozialer Netzwerke bei Wahlkämpfen haben Szebeni und Salojärvi (2022) Orbáns Instagram-Beiträge einer Untersuchung unterzogen.

Laut der Analyse werden visuelle Inhalte auf Websites wie Instagram verwendet, um Authentizität zu schaffen und eine Verbindung zum Volk aufzubauen, was für die Aufrechterhaltung und Erneuerung der populistischen Hegemonie von entscheidender Bedeutung ist. Die Umsetzung wird im folgenden Abschnitt genauer erläutert. Die Analyse fokussierte sich auf alle Instagram-Posts Orbáns aus dem Jahr 2019, einem Jahr mit hoher Posting-Aktivität. Insgesamt wurden 131 Posts untersucht, einschließlich Bilder, Videos und deren Bildunterschriften. Kommentare und Likes wurden aus der Analyse ausgeschlossen.

Im Jahr 2020 nutzten 79 % der ungarischen Bevölkerung das Internet, dabei waren Facebook und Instagram die beliebtesten Plattformen. Seit 2014 teilt Orbán Beiträge auf Instagram. Die auf Orbáns Instagram geposteten Bilder wirken professionell, auch Farben und Kompositionen der Fotos wirken einheitlich. Alle Bilder sind mit einer kurzen Bildunterschrift versehen, die meisten in zwei Sprachen, Ungarisch und Englisch, sowie mit ein paar Hashtags. Die Mehrheit der Beiträge wurden in einem professionellen Umfeld aufgenommen. Von den 87 Fotos, auf denen Orbán zu sehen ist, zeigt er sich nur in 17 in einem privaten Umfeld. Orbán präsentiert sich üblicherweise als ein beschäftigter und hart arbeitender Politiker, der keine Zeit für Freizeitaktivitäten hat. Orbáns Professionalität zeigt sich auch in seiner Kleidung. Auf nahezu allen Bildern trägt er einen Anzug, meist mit Krawatte.

Die Rolle des traditionellen männlichen Anführers

Gerade bei populistischen Führungspersönlichkeiten liegt oft ein Fokus auf Eigenschaften, die mit männlicher Dominanz verbunden sind. Außerdem positionieren sich viele populistische Bewegungen gegen den Feminismus und unterstützen konventionelle Geschlechterrollen. Orbán präsentiert sich als Verkörperung von Männlichkeit durch die Art, wie er in Bildern den Raum einnimmt, die Art der Personen, mit denen er zusammen fotografiert wird, und durch Verweise auf das Militär oder den Sport.

Die politischen Ämter von Fidesz und der Regierung sind hauptsächlich mit Männern besetzt. Bei Kabinettssitzungen oder kleineren Zusammenkünften sind ausschließlich männliche Politiker vertreten. Frauen treten auf Orbáns Instagram eher in unterstützenden Rollen auf, wie beispielsweise seine Frau, die ihn zur Wahl begleitet. Orbáns Leidenschaft für Fußball, einem traditionell männlich konnotierten Sport, betont ebenfalls sein männliches Image, beispielsweise zeigt er sich beim Feiern mit ehemaligen Fußballspielern. Auch in seinem privaten Umfeld nimmt Orbán eine traditionelle männliche Rollen ein, etwa als Vater oder Großvater, der die Feiertage zusammen mit seiner Familie verbringt.

Konstruktion einer geteilten nationalen Identität

Orbán betont in seinen Beiträgen oft die Bedeutung von Großungarn, einem Staat, der vor 1920 bestand. Der Verlust eines Großteils des Teritoriums nach dem Ersten Weltkrieg ist tief in der nationalen Identität Ungarns verankert und wird als traumatisch empfunden. Orbáns Instagram-Beiträge zeigen oft Städte mit alten ungarischen Namen. Dabei stellt er sie so dar, als ob sie noch zu Ungarn gehören würden. Zudem verwendet Orbán häufig die ungarische Flagge und Nationalfarben, um ein Zugehörigkeitsgefühl und eine geteilte nationale Identität zu signalisieren.

Religiöse Symbole sind auf Orbáns Instagram vor allem während der Feiertage präsent und werden als Teil der ungarischen nationalen Identität betrachtet. Darüber hinaus spielt die Konstruktion von einem „Wir“-Gefühl gegenüber „den Anderen“ eine wesentliche Rolle in Orbáns Online-Präsenz. Dabei werden „die Anderen“ oft als äußere Bedrohungen oder Gegner der nationalen Interessen dargestellt.

Außerdem präsentiert er sich als international bedeutenden Politiker, als einen Führer, der eng mit dem Volk verbunden ist. Seine Beiträge zeigen selten Normalbürger:innen, sondern fokussieren sich hauptsächlich auf Bilder seiner Auslandsreisen und Treffen mit ausländischen Politiker:innen. Dabei scheint Orbán besonders mit Populist:innen sowie religiösen Führer:innen in Kontakt zu treten.

So wird deutlich, dass Viktor Orbáns Instagram-Beiträge aus dem Jahr 2019 mehr als nur Selbstinszenierung sind. Sie werden strategisch eingesetzt, um seine politischen Überzeugungen zu verbreiten, seine Macht zu festigen und die ideologische Einheit seiner Anhänger zu fördern. Die präzise Auswahl von Themen, Bildern und Geschichten hebt die zentralen Elemente seines populistischen Regimes hervor und unterstreicht die Relevanz Sozialer Medien in der heutigen politischen Landschaft. 

Literatur

Zea Szebeni, S., & Salojärvi, V. (2022). "Authentically" Maintaining Populism in Hungary – Visual Analysis of Prime Minister Viktor Orbán’s Instagram. Mass Communication and Society, 25(6), 812-837. https://doi.org/10.1080/15205436.2022.2111265

Samstag, 30. März 2024

These der Postdemokratie: Chance oder Gefahr?

„Da die demokratischen Institutionen und Haltungen weiterhin existieren, merken wir nicht, dass die Demokratie geschwächt und die Macht innerhalb des politischen Systems auf eine kleine Elite aus Politikern und Konzernen übergegangen ist, die eine Politik nach den Wünschen Letzterer betreiben.“

Dieses drastische Zitat, welches eine dramatische Betrachtung der gegenwärtigen Lage der westlichen Demokratien darstellt, ist nicht etwa aus dem Wahlprogramm einer populistischen Partei entnommen. Ebenso wenig sind es Auszüge aus einer Wutrede von Alice Weidel oder Sarah Wagenknecht. Diese rigorosen Worte stammen vom britischen Sozialwissenschaftler Colin Crouch und fassen weite Teile seiner Postdemokratie-These pointiert zusammen (Crouch 2021, S. 21).

Die vermeintliche Nähe zu rechten Verschwörungsmythen und populistischen Narrativen von korrupten Eliten in angeblichen Scheindemokratien rückt Crouch auf den ersten Blick in kein gutes Licht (vgl. Mudde 2020, S. 55 f.). Ist er durch seine Kritik am Zustand der westlichen Demokratien womöglich als latenter Komplize der aufsteigenden Kräfte des rechtsradikalen Spektrums auszumachen?

Hinsichtlich der evidenten Defizite in der Entwicklungsrichtung etablierter Demokratien der westlichen Hemisphäre erscheint eine kritische Analyse als durchaus sinnvoll. So bestätigt die Realität durch Wahlergebnisse und zahlreiche Umfragen beispielsweise zunehmend das vielzitierte Phänomen der Politikverdrossenheit sowie das verbreitete Misstrauen der Bürger*innen in Politik und deren Institutionen (vgl. Best et al. 2023, S. 18-21). Daher möchte der vorliegende Beitrag folgenden Fragestellungen nachgehen:

  • Ist die Postdemokratie-These notwendige Kritik an politischen Missständen oder Wasser auf die Mühlen des Rechtspopulismus?
  • Sind die Ausführungen Crouchs damit als Chance oder Gefahr für die Demokratie zu bewerten? 

Aus Gründen des begrenzten Umfangs beziehen sich die folgenden Ausführungen explizit auf den Rechtspopulismus und klammern den durchaus existierenden Populismus des politisch linken Spektrums aus. Angesichts des fortwährend wachsenden Einflusses politischer Akteur*innen der Neuen Rechten sowie der Verbreitung einschlägiger rechtsradikaler Narrative im öffentlichen Diskurs scheint dieser Fokus aktuell von ungleich größerer Bedeutung zu sein (vgl. Mudde 2020, S. 13-17).

Der inhaltliche Gedankengang des Beitrags sei an dieser Stelle knapp skizziert: Die Leitfrage soll aus verschiedenen Perspektiven bearbeitet werden, um den ambivalenten Potenzialen der These Colin Crouchs gerecht zu werden. Dabei wird der schmale Grat zwischen angebrachter Kritik, welche zu einer verbesserten Demokratie beitragen kann, und der Nähe zu rechtspopulistischen Narrativen mit gegenteiliger Wirkung thematisiert.

Insbesondere die zentralen Unterscheidungsmerkmale zwischen Crouchs analytischen Ausführungen und rechtspopulistischer Eliten-Kritik sollen anschließend als sinnvolle Abgrenzung herausgearbeitet werden. Dies wird als Schlüssel zu einer gewinnbringenden praktischen Verwertung der Postdemokratie-These betrachtet, um sie als Chance im Sinne einer konstruktiven Kritik an negativen Entwicklungen der westlichen Demokratien fruchtbar werden zu lassen.

Montag, 25. März 2024

Medien und Demokratie in Ungarn

Das Konzept des demokratischen Rechtsstaates, bisher einigendes Fundament und Leitprinzip der europäischen Einigung, steht heute im Zentrum einer kritischen Debatte, die die Grundlagen des europäischen Friedensprojektes zu gefährden droht. Weltweit und insbesondere in Europa wächst die Sorge um den Erhalt der freiheitlich-demokratischen Werte. Populistische Bewegungen gewinnen an Einfluss, indem sie einfache Antworten auf die komplexen Herausforderungen unserer Zeit anbieten. Diese Bewegungen finden vor allem bei denjenigen Anklang, die sich inmitten des raschen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandels nach Sicherheit und Beständigkeit sehnen. Sie neigen dazu, sich Lösungen wie nationaler Abschottung und der Etablierung autoritärer Regime zuzuwenden, um ein Gefühl der Sicherheit zu vermitteln (vgl. Möllers 2018, S. 7).

Seit der Flüchtlingskrise 2015 haben populistische Strömungen in verschiedenen europäischen Ländern an Zulauf gewonnen. Ungarn und Polen sind prominente Beispiele, in denen rechtsnationale bis rechtsradikale Parteien an die Macht gekommen sind. Diese Regierungen stehen im Widerspruch zu den Grundprinzipien der Europäischen Union, einschließlich der Achtung der Menschenwürde, der Demokratie, der Freiheit, der Gleichheit und der Rechtsstaatlichkeit. Der Umbau des Staatswesens in diesen Ländern zeigt sich insbesondere in der Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz, der Verfassungsgerichtsbarkeit und der Medien (Bundeszentrale für politische Bildung 2022).

Besonders in Ungarn, wo seit Viktor Orbáns zweiter Amtszeit im Jahr 2010 ein schleichender Prozess des Demokratieabbaus zu beobachten ist, wird die Bedeutung der Medienregulierung für die demokratischen Strukturen und die politische Landschaft offensichtlich. Die vorliegende Arbeit widmet sich dieser Problematik und beleuchtet, wie die Regulierung der Medien in Ungarn demokratische Prozesse und die politische Szenerie des Landes beeinflusst.

Donnerstag, 21. März 2024

Wer missbraucht den Beutelsbacher Konsens?

Das dynamische Aufstreben rechtspopulistischer Parteien macht auch vor Deutschland nicht Halt. Aufgrund steigender Umfragewerte und der Tatsache, dass AfD-Politiker bereits wichtige Ämter mit Entscheidungsbefugnissen besetzen, müssen sich Lehrkräfte zunehmend mit der Frage auseinandersetzen, wie mit Positionen der AfD im Unterricht umgegangen werden soll. Ob sie toleriert, kritisch aufgearbeitet oder gänzlich unterbunden werden sollen, ist eine der vielen schmalen Gratwanderungen, die Lehrerinnen und Lehrer tagtäglich beschreiten müssen.

Die Beantwortung dieser Fragen ist komplex in der Theorie und in der Praxis nicht immer zufriedenstellend umsetzbar. Grundsätzlich sieht sich vor allem die politische Bildung täglich mit der ohnehin schon schwierigen Aufgabe konfrontiert, alles, was in der Wissenschaft kontrovers erscheint, auch im Unterricht kontrovers zu behandeln.

Was die Äußerungen von Rechtspopulisten sehr gefährlich macht, ist zum einen die Tatsache, dass jene Behauptungen teilweise nicht an der Wahrheit orientiert sind, und zum anderen, dass sie häufig ihre radikalen Positionen mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung zu rechtfertigen versuchen. Nun bleibt die Frage erlaubt, ob und wann das Recht auf freie Meinungsäußerung Grenzen hat und inwieweit Lehrende in einem solchen Fall intervenieren dürfen.

Donnerstag, 1. Februar 2024

Fidesz und die LGBTQIA+-Rechte

Die Fidesz-Partei hat seit ihrem Regierungsantritt im Jahr 2010 einen entscheidenden Einfluss auf die Richtung des Landes ausgeübt. Unter der Führung von Viktor Orbán hat sich die Partei zu einem Zentrum konservativer und nationalistischer Werte entwickelt. Ein besonders prägnantes Merkmal ihrer Regierungszeit ist der Umgang mit der LGBTQIA+-Bewegung in Ungarn. Obwohl Ungarn einst eines der liberalsten Länder in der Region war, Homosexualität bereits Anfang der Sechzigerjahre entkriminalisiert wurde und gleichgeschlechtliche Partnerschaften 1996 anerkannt wurden, drängt der rechtspopulistische Ministerpräsensident Orbán diese Freiheiten mit scharfen Gesetzen wieder zurück. Die Politik der Fidesz-Partei im LGBTQIA+- Bereich wirft grundlegende Fragen über die Natur der ungarischen Demokratie, den Schutz von Minderheitenrechten und die zukünftige Ausrichtung des Landes auf.

Die Geschichte der LGBTQIA+ Bewegung in Ungarn ist geprägt von einem Kampf um Anerkennung und Gleichberechtigung. Trotz einiger Fortschritte in den frühen 2000er Jahren bleibt die gesellschaftliche Akzeptanz in vielen Teilen des Landes begrenzt. Dies ist besonders in ländlichen und konservativen Bereichen der Fall, wo traditionelle Werte tief verwurzelt sind. Die LGBTQIA+-Bewegung in Ungarn hat es mit einer gesellschaftlichen und politischen Umgebung zu tun, die oft feindlich gesinnt ist. Ihre Bemühungen um Gleichstellung sind in einem Land, das zunehmend von konservativen und nationalistischen Ideologien geprägt ist, auf erhebliche Hindernisse gestoßen. In diesem Kontext ist die Rolle der Fidesz-Partei von besonderer Bedeutung.

Im Jahr 2021 wurde Minderjährigen beispielsweise verboten, über Queerness und Transgeschlechtlichkeit aufgeklärt zu werden. Seit März 2020 hat das ungarische Parlament nämlich mehrere Gesetze verabschiedet, die die Rechte von queeren und trans Personen einschränken. Zunächst wurde Transpersonen untersagt, ihr Geschlecht legal anzuerkennen (vgl. Darida 2021). Anschließend wurde ein weiteres Gesetz erlassen, das festlegt, dass der Vater ein Mann und die Mutter eine Frau ist, wodurch queeren und alleinstehenden Personen die Adoption von Kindern untersagt wird. Das 2021 verabschiedete Gesetz ist Teil eines Pakets, das Strafverschärfungen für sexualisierte Gewalt an Kindern vorsieht und zugleich die "Propagierung" von Homosexualität verbietet.

Das geplante Gesetz beinhalte ein Verbot von Büchern, Filmen und anderen Inhalten, die Kindern und Jugendlichen zugänglich sind und nicht-heterosexuelle Sexualität darstellen. Zudem soll jede Werbung untersagt werden, in der Homosexuelle oder Transsexuelle als Teil der Normalität erscheinen (vgl. Felschen 2021). Die ungarische Regierungspartei Fidesz verbindet nämlich seit Jahren die Themen Homosexualität und Kinderschutz (vgl. Darida 2021). In Bezug auf ein Kinderbuch mit queeren Figuren äußerte Premierminister Viktor Orbán: "Lasst unsere Kinder in Ruhe." (vgl. Darida 2021).

Aktivist*innen warnen davor, dass die neue Gesetzgebung in Ungarn queere und trans Personen gefährdet, insbesondere Jugendliche, die nicht cis und/oder hetero sind. Trotz tausender Proteste vor dem Parlament wurde der Gesetzesentwurf einen Tag später mit der Zustimmung von 157 von 199 Abgeordneten verabschiedet. Das Europäische Parlament hat dieses neue ungarische Gesetz zur Behandlung von Homosexualität und Transgender 2021 scharf kritisiert. Die Abgeordneten bezeichneten es als "klaren Verstoß" gegen die Werte, Grundsätze und Rechtsvorschriften der EU (vgl. Tschirner 2021).

Wie ernst Orbán es mit diesem „Homophobiegesetz“ meint, erkennt man an dem Vorfall Anfang November 2023, als der Direktor des Nationalmuseum entlassen wurde, weil er wegen LQBTI- Darstellungen in einer Ausstellung gegen das Kinderschutzgesetz verstoßen haben soll. Das Kultusministerium gab bekannt, dass Simon Gesetzwidrigkeiten in seinem Haus geduldet habe, weshalb er nicht länger im Amt bleiben könne. Der Auslöser für die Entlassung war eine Ausstellung der internationalen Stiftung World Press Photo im Nationalmuseum. Diese zeigte weltweit preisgekrönte Pressefotos, darunter Bilder von Bewohnern eines Altenheimes auf den Philippinen, in dem LGBTI-Menschen leben, einige davon in Frauenkleidern.

Im April 2023 wollte die ungarische Regierung ein weiteres kontroverses neues Gesetz verabschieden, das es Bürgern ermöglicht hätte, anonym gleichgeschlechtliche Paare mit Kindern bei den Behörden zu melden. Kabinettschef Gergely Gulyás argumentierte, dass die Regelung die EU-Hinweisgeberrichtlinie umsetzt, die Whistleblower schützen soll. Das Gesetz erlaube Meldungen „im öffentlichen Interesse" und "zum Schutz der ungarischen Lebensweise", insbesondere wenn die "verfassungsmäßige Rolle von Ehe und Familie" infrage gestellt wird (vgl. Peer 2023). Kritiker sehen darin eine Schikane, die sich vor allem gegen LGBTQ+-Personen richtet.

Die Verfassung von 2019 beschränkt die Ehe auf Mann und Frau. Besorgte Bürger befürchteten, dass Kinder aus gleichgeschlechtlichen Familien durch die neue Meldemöglichkeit in Gefahr sein könnten. Áron Demeter von Amnesty International bezeichnet das Gesetz als "legalen Nonsens", der zu Selbstzensur und Angst in der LGBTQ-Gemeinschaft führt (vgl. Peer 2023). Die französische Europaministerin Laurence Boone kritisiert das Gesetz als nicht im Einklang mit europäischen Werten und als schlechtes politisches Signal. Die ungarische Staatspräsidentin Katalin Novak hat jedoch überraschend dieses umstrittene Gesetz abgelehnt, das die Rechte von LGBTIQ- Personen enorm einschränken wurde (vgl.. o.A. 2023).

In der seit 2010 währenden Amtszeit des rechtspopulistischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán hat erstmals ein Staatsoberhaupt Einspruch gegen ein Gesetz erhoben, das für Orbáns konservative Ideologie von großer Bedeutung ist. „Das Veto der Präsidentin bedeutet, dass das Parlament das Gesetz neu verhandeln muss. Grundsätzlich kann es dieses aber auch in unveränderter Fassung neu beschließen, wogegen die Präsidentin keine Handhabe mehr hätte“ (o.A. 2023).

Diese Politik sorgt nicht nur innerhalb des Landes für Spannungen, sondern belastet auch Ungarns Beziehungen zu internationalen Partnern. Die Zukunft der LGBTQIA+-Rechte in Ungarn bleibt ungewiss und hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab, einschließlich der Innenpolitik Ungarns, dem internationalen Druck und den sich verändernden gesellschaftlichen Einstellungen.

Literatur:

Mittwoch, 31. Januar 2024

Wahl in Polen - Ist der Populismus besiegt?

Bedeutende Veränderungen prägten die jüngere politische Geschichte Polens. Nachdem der Kommunismus in den 1990er Jahren zusammenbrach, entwickelte sich Polen zu einer demokratischen Republik mit Mehrparteiensystem. In den letzten Jahren ist es jedoch unter der Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) zu einer Verschiebung hin zu autoritären und rechtspopulistischen Tendenzen gekommen. Diese Entwicklung hat zu tiefgreifenden Veränderungen in der Justiz, den Medien und anderen staatlichen Institutionen geführt. Sie hat national und international Besorgnis ausgelöst.

Der Artikel "Der Populismus kann besiegt werden" von Piotr Buras wurde am 16. Oktober 2023 veröffentlicht. Er beleuchtet den Wahlsieg der demokratischen Oppositionsparteien in Polen. Für den Kampf gegen den Populismus in Europa könnte dieser Erfolg historisch werden. Piotr Buras zieht Parallelen zur Solidarność-Bewegung, die 1989 den Kommunismus in Polen zu Fall brachte und betont, dass der Sieg der Opposition zeigt, dass der Aufstieg des rechten und antieuropäischen Populismus gestoppt werden kann.

Montag, 15. Januar 2024

Die Finnen-Partei – NATO-freundliche, Russland-kritische Rechtspopulisten?

Die rechtspopulistische Partei Perussuomalaiset (PS) (dt.: Finnen-Partei), auch bekannt als die Finnen (die kursive Schreibweise weist auf die Partei hin, in Abgrenzung zu finnischen Bürger:innen), weist einige Besonderheiten im Gegensatz zu anderen europäischen rechtspopulistischen Parteien auf, die sich teils aus Besonderheiten von Finnland ergeben.

Zum Beispiel spielt das Thema Migration – obwohl die Finnen dieses Thema durchaus bedienen – in Finnland eine eher untergeordnete Rolle (vgl. Wilde-Krell & Adorf 2022, S. 288 f.). Auch zeigt sich in der Regierungsbeteiligung die Besonderheit, dass die Finnen nicht erst die nötige Reputation dafür aufbauen mussten, im Gegensatz zu einigen anderen rechtspopulistischen Parteien.

Dieser Umstand ist in der Tatsache begründet, dass die Finnen eine Nachfolgerpartei der Suomen maaseudun puolue (SMP) darstellt, welche als populistische Partei bereits Regierungserfahrung sammeln konnte (vgl. Wilde-Krell & Adorf 2022, S. 279). Die Finnen besitzen also eine lange Parteiengeschichte, welche auch dazu führt, dass die Partei nach Cas Muddes Kategorisierung in „extreme right“ und „radical right“ von Lahti und Palonen als „radical right“ Partei gesehen wird, wobei „extreme right“ Parteien als demokratiefeindlich gelten, während die „radical right“ Parteien im Rahmen der Demokratie operieren (vgl. Lahti & Palonen 2023, S. 128).

Eine weitere Besonderheit der Finnen wird nachfolgend in den Fokus genommen: ihre Russland-kritische Haltung. Viele rechtspopulistische Parteien in Europa fallen immer wieder durch ihre Nähe zu Russland bzw. Putin auf. Eine Nähe, die selbst nach dem russischen Überfall auf die Ukraine und dem daraus resultierenden Krieg häufig bestehen bleibt.

So beispielsweise die deutsche AfD, die diese Nähe aufrechterhält (vgl. Ntv 2023). Zwar ist die AfD auch in dieser Hinsicht gespalten und parteiintern gibt es genauso Stimmen gegen diese Russlandnähe, es ist jedoch auffällig, dass wichtige Parteimitglieder wie der Vorsitzende Tino Chrupalla immer wieder mit einer Pro-Russland Haltung auffallen.

Zudem zeichnet sich ein ähnliches Bild ab wie bei anderen Streitfragen der AfD: die Gemäßigteren, die die radikalen Meinungen anderer Parteimitglieder ablehnen, sind diejenigen, die die Partei verlassen (vgl. Schmidt 2022). Die AfD stellt hierbei nur ein Beispiel dar für eine europäische rechtspopulistische Partei, die – vereinfacht auf die beiden Konfliktparteien aus dem Kalten Krieg bezogen – einen USA-kritischen und Russland-freundlichen Ton anschlägt.

Die USA, sinnbildlich für den liberalen Westen mit seinen vermeintlich linken Ideologien, welche durch die Rechtspopulisten abgelehnt werden (LGBTQI+ Bewegung, Klimaproteste, etc.), Russland bzw. Putin sinnbildlich für Autorität, Stärke, Nationalismus. Entgegen diesem Bild stehen die finnischen Rechtspopulisten der PS.

Hierbei ist erwähnenswert, dass Finnland nicht frei von Populisten mit Nähe zu Russland ist. Die finnische Partei Liike Nyt ist stark geprägt von wirtschaftlichen Eliten mit Nähe zu russischen Oligarchen, welche jedoch seit Beginn des Krieges abgestritten wird (vgl. Lahti & Palonen 2023, S. 129).

Die Finnen hingegen waren nie pro-russisch eingestellt, wofür es vielseitige Erklärungsansätze gibt. Einerseits kann hierbei das historische Erbe erwähnt werden. Lahti und Palonen sehen die Möglichkeit einer starken Solidarisierung mit der Ukraine auf Basis der finnischen Geschichte. Finnland wehrte im Winterkrieg 1939-1940 mit vergleichsweise geringer militärischer Stärke das militärisch starke Russland ab.

Russland ist somit in der finnischen Geschichte ein Kriegsgegner gewesen, zudem stellt sich möglicherweise für manche finnische Bürger:innen die Situation in der Ukraine ähnlich dar: die militärisch unterlegene Ukraine, welche von Russland angegriffen wird und bisher erfolgreich Widerstand leistet.

Ein weiterer wichtiger Faktor stellt der bis 2021 Vorsitzende der Partei, Jussi Halla-aho, dar. Halla-aho kann keineswegs als gemäßigter Konservativer bezeichnet werden, viel Kritik begleitet seine politische Biografie sowie seine ideologischen Positionen, immerhin wurde Halla-aho bereits wegen Volksverhetzung verurteilt und fällt immer wieder mit extremistischen Aussagen gegen Bevölkerungsgruppen, beispielsweise muslimische Bürger:innen, auf. Auch gilt er nicht als EU-freundlich, immerhin forderte er den „Fixit“, also den Austritt Finnlands aus der EU (vgl. Wolff 2017).

Ein Punkt in Halla-ahos Biografie beleuchtet allerdings, weshalb er dennoch pro-ukrainisch eingestellt ist: Halla-aho studierte Slawistik und setzte sich im Rahmen des Studiums schon früh mit der Geschichte slawischer Länder auseinander, so auch mit der Geschichte der Ukraine nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Es scheint logisch, dass Halla-aho eine große Gefahr in der Ausbreitung der russischen Grenzen für das eigene, an Russland grenzende Land sieht. Als überzeugter Nationalist ist es daher kaum verwunderlich, dass er für finnische Interessen einen Eingriff zugunsten der Ukraine als nötig betrachtet, wofür er sich auch mehrfach stark gemacht hat (vgl. Lahti & Palonen 2023, S. 131 f.).

Dass die pro-ukrainische Haltung der Finnen nicht nur ein politisches Manöver darstellt, um Stimmen zu generieren, sondern auf Überzeugung basiert, zeigt auch der Wechsel der Fraktion im EU-Parlament. Während die Finnen – Vertreten durch zwei Abgeordnete – vor dem Krieg in der Ukraine der rechtspopulistisch bis -extremistischen Fraktion Identität und Demokratie (ID) angehörten, welche viele weitere rechtspopulistische bis -extremistische Parteien unter sich vereint wie z.B. Rassemblement National, Lega, Alternative für Deutschland, Vlaams Belang uvm., schloss sie sich als Reaktion auf den Krieg der Fraktion Europäische Konservative und Reformer (EKR) an (vgl. Camut 2023).

Die EKR vereint ebenfalls einige rechtspopulistische Akteure unter sich, wie z.B. Vox oder die Alternative für Deutschland, bevor sie in die ID-Fraktion eintrat. Die Finnen kommentierten, sie hätten sich einer Gruppe angeschlossen, “whose member parties are united by the uncompromising defense of Western civilization and the European security policy architecture” (Camut 2023). Ihre anti-russische Haltung zum Schutze Europas bzw. Finnlands sahen sie folglich in der vorigen Fraktion nicht mehr für möglich.

Eine weitere schwerwiegende Entscheidung und Veränderung in der Haltung der Finnen war der Eintritt Finnlands in die NATO. Während die finnische Bevölkerung, die ein Selbstverständnis von Neutralität in Bezug auf den Kalten Krieg hatte und bis heute hat, nach der Annexion der Krim durch Russland nach wie vor gegen einen NATO-Beitritt war, änderte der russische Angriff auf die Ukraine 2022 diese Haltung. 2014 nach der Annexion der Krim stimmten nur 26% für einen Beitritt Finnlands zur NATO. Im März 2022 waren es 48%, die dafür stimmten, im Juni 2022 waren es 79% (vgl. Lathi & Palonen 2023, S. 129). Infolge dieser Veränderung kam es 2023 zum Beitritt in das NATO-Bündnis (vgl. ZDFheute 2023), wobei auch die Finnen hinter diesem Beitritt stehen.

Die Haltung der Finnen unterscheidet sich also in Bezug auf Russland von anderen europäischen rechtspopulistischen Parteien. In Umfragen ist kein maßgeblicher Unterschied merkbar, seit die Finnen sich auf die Seite der Ukraine gestellt haben, was vermuten lässt, dass dieser Faktor keinen allzu großen Stellenwert in der Wählerschaft hat oder die bisherige Wählerschaft diesen Standpunkt teilt.

Dennoch ist diese Besonderheit einer europäischen rechtspopulistischen Partei nicht unbedeutend, insbesondere mit Blick auf mögliche Entwicklungen. Die Entscheidung zum NATO-Beitritt könnte Spannungen einerseits zwischen den Finnen und anderen rechten Randparteien, andererseits aber auch zwischen verschiedenen Lagern innerhalb der Partei auslösen. Mit der Frage beispielsweise nach der Neutralität Finnlands, die mit dem NATO-Beitritt nicht mehr vorhanden ist, könnte vor allem von NATO-kritischen Parteien der Versuch unternommen werden, Wähler:innen zu mobilisieren oder von den Finnen abzuwerben.

Auch die Tatsache, dass die Finnen nicht mehr aktiv die „Fixit“-Kampagne verfolgen – wobei unklar ist, ob die Kampagne wieder aktiviert wird – könnte einerseits das Feld für andere rechtspopulistische Parteien öffnen, andererseits aber auch die Finnen für eine breitere Wählerschaft öffnen (vgl. Lathi & Palonen 2023, S. 134 f.). Ob und - wenn ja - wie sich die Partei und die Zustimmung im Volk verändern wird aufgrund dieser Entwicklungen, bleibt abzuwarten. Mit der Unterstützung der Ukraine, der Ablehnung von Russland und der Zustimmung zum NATO-Beitritt haben die Finnen in den letzten zwei Jahren jedoch auf jeden Fall besondere Positionen eingenommen, verglichen mit anderen europäischen rechtspopulistischen Parteien.

Quellen:

  • Lahti, Yannick/Palonen, Emilia (2023): The impact of the Russia–Ukraine war on right-wing populism in Finland; in: Ivaldi, Gilles/Zankina, Emilia (Hrsg.) (2023): The Impacts of the Russian Invasion of Ukraine on Right-wing Populism in Europe. European Center for Populism Studies (ECPS). Brussels.
  • Wilde-Krell, Anna-Lena/Adorf, Philipp (2022): Die Finnen - Auf dem Weg zum konventionellen Rechtspopulismus?; in: Decker, Frank (Hrsg.) (2022): Aufstand der Außenseiter. Die Herausforderung der europäischen Politik durch den neuen Populismus, Nomos.