Donnerstag, 21. März 2024

Wer missbraucht den Beutelsbacher Konsens?

Das dynamische Aufstreben rechtspopulistischer Parteien macht auch vor Deutschland nicht Halt. Aufgrund steigender Umfragewerte und der Tatsache, dass AfD-Politiker bereits wichtige Ämter mit Entscheidungsbefugnissen besetzen, müssen sich Lehrkräfte zunehmend mit der Frage auseinandersetzen, wie mit Positionen der AfD im Unterricht umgegangen werden soll. Ob sie toleriert, kritisch aufgearbeitet oder gänzlich unterbunden werden sollen, ist eine der vielen schmalen Gratwanderungen, die Lehrerinnen und Lehrer tagtäglich beschreiten müssen.

Die Beantwortung dieser Fragen ist komplex in der Theorie und in der Praxis nicht immer zufriedenstellend umsetzbar. Grundsätzlich sieht sich vor allem die politische Bildung täglich mit der ohnehin schon schwierigen Aufgabe konfrontiert, alles, was in der Wissenschaft kontrovers erscheint, auch im Unterricht kontrovers zu behandeln.

Was die Äußerungen von Rechtspopulisten sehr gefährlich macht, ist zum einen die Tatsache, dass jene Behauptungen teilweise nicht an der Wahrheit orientiert sind, und zum anderen, dass sie häufig ihre radikalen Positionen mit dem Recht auf freie Meinungsäußerung zu rechtfertigen versuchen. Nun bleibt die Frage erlaubt, ob und wann das Recht auf freie Meinungsäußerung Grenzen hat und inwieweit Lehrende in einem solchen Fall intervenieren dürfen.

Dass die AfD bereits im Unterricht präsent ist, zeigt unter anderem die Einführung einer digitalen Meldeplattform, auf der Schülerinnen und Schüler, aber auch Eltern diejenigen Lehrerinnen und Lehrer melden können, die sich kritisch über die AfD äußern. In einem solchen Fall spricht die AfD von der Verletzung der Neutralitätspflicht, der Lehrende unterliegen. Aber ist die Neutralitätspflicht der Lehrpersonen tatsächlich so streng geregelt?

Einschüchterungsversuche dieser Art erinnern stark an totalitäre Systeme, die eine freie Meinungsäußerung bereits im Schulalter zu verhindern versuchen. Eine kritische Auseinandersetzung mit den Positionen der AfD stellt jedenfalls keine einseitige Indoktrination dar (vgl. meinUnterricht 2024). Die Frage, die sich nun stellt: Müssen Lehrerinnen und Lehrer alle Positionen der AfD im Unterricht kontrovers beleuchten?

Grundsätzlich sind für Lehrerinnen und Lehrer die Rechtsprechungen aus den Schul- und Beamtengesetzen maßgebend, die sie dazu verpflichten, antidemokratische und menschenverachtende Positionen als solche kenntlich zu machen und sie zu unterbinden (vgl. Hentges/Lösch 2021). Lehrende dürfen sich darüber hinaus im Hinblick auf die Gefährdung der Demokratie und Menschenrechte politisch nicht indifferent verhalten, sondern sich mit erheblicher Präsenz der Demokratieerziehung widmen (vgl. Wrase 2020).

Zusätzlich muss zur Beantwortung dieser Frage der Beutelsbacher Konsens herangezogen werden. In ihm fest verankert – zwar nicht rechtlich bindend, jedoch Maßstab guten und inhaltlich ausgewogenen (Politik-)Unterrichts – sind folgende drei Prinzipien: Das Kontroversitätsgebot, das Indoktrinationsverbot sowie die Schülerorientierung. Ersteres legt dabei fest, dass alles, was in der Wissenschaft und in der Politik kontrovers diskutiert wird, auch im Unterricht kontrovers erscheinen muss. Das Indoktrinationsverbot soll verhindern, dass Schülerinnen und Schülern eine politische Meinung aufgezwungen wird, während die Schülerorientierung Lernende in die Lage versetzen soll, in der sie ihre eigene Interessenlage reflektieren und analysieren können.

Cheema (2021) plädiert dafür, dass Schülerinnen und Schülern die Grundlage für kontroverse Diskussionen vermittelt werden, jedoch entbehre die Vermittlung antiaufklärerischer Positionen dabei jeglicher Grundlage, weswegen das Kontroversitätsgebot in diesem Fall nicht gelte. Auch die Forderung nach Neutralität sei in dieser Hinsicht definitiv ein Missbrauch des Beutelsbacher Konsens (vgl. ebd.).

Das Neutralitätsgebot darf keinesfalls mit der Behauptung verwechselt werden, Lehrende dürften bei der Äußerung demokratiefeindlicher Positionen – sollten sie im Unterricht geäußert werden – keine Stellung beziehen (vgl. Niendorf/Reitz 2019). Genau in einem solchen Moment kann nicht mehr von der freien Meinungsäußerung gesprochen werden, die eine Neutralität des Lehrenden einfordert, sondern bewegt sich in den Bereich, in dem Lehrerinnen und Lehrer für die Einhaltung demokratischer Prinzipien einstehen müssen.

Zudem gibt es kein Gebot vollständiger politischer Neutralität von Lehrkräften in der Schule. Im Beamtenrecht heißt es hierzu vielmehr, „dass Beamte bei politischer Betätigung diejenige Mäßigung und Zurückhaltung zu wahren haben, die sich aus ihrer Stellung gegenüber der Allgemeinheit und aus der Rücksicht auf die Pflichten ihres Amtes ergibt“ (Wrase 2020). Dies wird allerdings erst dann verletzt, wenn Lehrpersonen gegenüber den Schülerinnen und Schülern einseitig oder provokativ für eine bestimmte politische Auffassung oder eine Partei werben (vgl. ebd.). Auch ist das Neutralitätsgebot nicht gleichzusetzen oder zu verwechseln mit der Forderung, eine Lehrperson dürfe im Rahmen der freiheitlich demokratischen Grundordnung keine Stellung beziehen (vgl. Niendorf/Reitz 2019).

Zwar müssen Lehrerinnen und Lehrer politische Sachverhalte ausgewogen und sachlich behandeln, ihre eigenen Überzeugungen brauchen sie deswegen aber nicht verbergen, vorausgesetzt, sie zwängen diese den Schülerinnen und Schülern nicht auf und sie tragen Sorge dafür, dass andere Auffassungen ausreichend zur Geltung kommen. Außerdem bedeutet das Gebot der parteipolitischen Zurückhaltung für Lehrkräfte auch nicht, dass alle im demokratischen Parteienspektrum vertretenen Auffassungen bis zur Grenze der Verfassungsfeindlichkeit gleichermaßen als legitim darzustellen sind.

Was im Unterricht nicht toleriert werden darf, sind fremdenfeindliche, rechtspopulistische oder sonst diskriminierende Auffassungen. Diese erfordern von Lehrpersonen ein unmissverständliches Einschreiten und Unterbinden unter Verweis auf die demokratischen Grundsätze sowie die Menschenrechte (vgl. ebd.). Es entspricht zudem einer Erziehung im Sinne der Werteordnung des Grundgesetzes sowie der Landesverfassungen und Schulgesetze, dass sich Lehrpersonen klar gegen Rechtsextremismus, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus positionieren (vgl. Wrase 2020).

Äußerungen von Politikerinnen und Politikern rechtspopulistischer Parteien wie der AfD sollten grundsätzlich im Unterricht thematisiert und kritisch betrachtet werden, schließlich könnte eine Nichtberücksichtigung der Partei wieder in die Karten spielen und außerdem lebt die Debattenkultur von legitimen kontroversen Argumenten. Zudem ist die Thematisierung wichtig für die Erfüllung des Beutelsbacher Konsens, denn damit Schülerinnen und Schüler ihre eigene Interessenlage analysieren können, müssen Fakten neben Behauptungen und Pauschalisierungen treten (vgl. Drücker).

Zusammenfassend ist es daher stets ratsam, Positionen rechtspopulistischer Parteien wie die der AfD im Unterricht zu thematisieren und kritisch zu hinterfragen, sofern diese keine rassistischen oder demokratiefeindlichen Aussagen beinhalten. Damit der Beutelsbacher Konsens erfüllt wird, ist es ratsam, allen Ansichten gleichermaßen Beachtung zu schenken und den Schülerinnen und Schülern keine politische Meinung aufzuzwängen – dies widerstrebt einer funktionierenden Debattenkultur in demokratischen Staaten ohnehin. Lehrpersonen dürfen in diesem Fall jedoch ihre Meinungen frei äußern, müssen den Lernenden aber auch zu verstehen geben, dass sie bei anderen Ansichten keine schulischen Nachteile zu befürchten haben.

Aufgrund der Tatsache, dass einige Äußerungen von Politikerinnen und Politikern der AfD nicht an der Wahrheit orientiert sind, könnte es hier ebenfalls ratsam sein, gemeinsam mit den Lernenden an der Wahrheit orientierte Fakten bloßen emotionalen Behauptungen gegenüberzustellen. Was keinesfalls toleriert werden darf, sind Positionen, die die Demokratie verunglimpfen oder Personen diffamieren und rassistisch beleidigen – hier ist ein Einschreiten der Lehrkräfte unumgänglich.

Literatur

  • Cheema, Saba-Nur (2021): Verschwörungserzählungen und politische Bildung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. 71. Jahrgang 35-36/2021.
  • Drücker, Ansgar (2016): Der Beutelsbacher Konsens und die politische Bildung in der schwierigen Abgrenzung zum Rechtspopulismus. In: Benedikt Widmaier/Peter Zorn (Hrsg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens? Eine Debatte der politischen Bildung, Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2016, S. 123-130.
  • Hentges, Gudrun/Lösch, Bettina (2021): Politische Neutralität vs. politische Normativität in der politischen Bildung. In: Hubacher, Manuel S./Waldis, Monika (Hrsg): Politische Bildung für die digitale Öffentlichkeit: Umgang mit politischer Information und Kommunikation im digitalen Raum. Wiesbaden: Springer VS.
  • MeinUnterricht Redaktion (2024): Meldeportale der AfD: Was dürfen LehrerInnen im Unterricht äußern? In: https://www.meinunterricht.de/blog/meldeportale-der-afd-was-duerfen-lehrerinnen-im-unterricht-aeussern/.
  • Niendorf, Mareike/Reitz, Sandra (2019): Schweigen ist nicht neutral. In: Deutsches Institut für Menschenrechte.
  • Wrase, Michael (2020): Wie politisch dürfen Lehrkräfte sein? In: Aus Politik und Zeitgeschichte. In: https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/APuZ_2020-14-15_online.pdf.

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