Donnerstag, 11. Februar 2021

Rechtspopulismus als Folge von Sozialstaatsversagen?

In diesem Beitrag stellt Tahira Schierle folgenden Aufsatz vor:

Schildbach, Ina (2019): „Die neue deutsche Soziale Frage“ – Armut und Sozialstaatsversagen als Grund für rechtspopulistischen Erfolg?; in: L. Boehnke, M. Thran, & J. Wunderwald, Rechtspopulismus im Fokus, Wiesbaden: Springer VS, S. 73-88 (https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-658-24299-2_5).

Das vermehrte Aufkommen von rechtspopulistischen Organisationen wie Pegida sowie die Erfolge der Partei AfD bei vergangenen Wahlen sorgen für intensive Auseinandersetzungen mit den Themen Rechtspopulismus und -extremismus in Öffentlichkeit und Politik. Gerade die Politik sieht sich daher in Sorge um einen gefährlichen Gesellschaftsumschwung der Frage gegenüber, aus welchem Grund rechtspopulistische Stimmungsmache überhaupt Anklang bei Wähler*innen findet. (vgl. S. 73)

Ina Schildbach setzt sich in ihrem Text „Die neue deutsche Soziale Frage - Armut und Sozialstaatsversagen als Grund für Rechtspopulistischen Erfolg?“ mit genau dieser Frage auseinander. Sie kritisiert das politisch vorherrschende Meinungsbild, welches sich ihrer Meinung nach zu sehr auf die Ansicht versteift, dass die Ursache für rechte Bewegungen zunehmende Armut sei und damit klar auf der Hand liege. Im Gegensatz dazu wirft sie die These auf, dass der zunehmende Rechtspopulismus vielmehr seinen Ursprung in der derzeitigen „Politisierung“ von Armut als „soziale Frage“ findet. Damit kritisiert sie im Wesentlichen den aktuellen politischen Umgang mit der Thematik der „materiellen Deprivation“. (vgl. S. 73)

In ihrer Ausarbeitung zeigt sie in drei Schritten auf, dass die momentane Politisierung von Armut unweigerlich eine Erstarkung der rechtspopulistischen Wähler*innenstimmen nach sich zieht. Im ersten Schritt ihrer Argumentation verdeutlicht Schildbach anhand diverser Beispiele aus Politik, Öffentlichkeit und Wissenschaft starke Widersprüche und argumentatives Fehlverhalten in den behaupteten Zusammenhängen zwischen Armut und rechtspopulistischen Bewegungen (vgl. S. 74). Als ausschlaggebendes Zitat führt sie zu Beginn einen Auszug einer Rede des Linke-Politikers Bernd Riexinger an (S. 74):

„Es ist falsch, die Wahlerfolge der AfD allein durch Rassismus und Rechtspopulismus zu erklären. Ihr Aufstieg ist nicht denkbar ohne die soziale Polarisierung, die sich […] dramatisch verschärft hat. Der Mangel an bezahlbaren Wohnungen und guten Jobs, die Reduktion der Demokratie auf die Verwaltung von Sachzwangen ist der Nährboden, auf dem der rechte Kulturkampf gedeihen kann.“ (Bernd Riexinger auf dem marx21-Kongress „Wohin steuert Deutschland?“ vom 06.05.2016)

Schildbach kritisiert an Riexingers Aussage, dass diese in keiner Weise das Problem von Armut als solches aufgreift, sondern Armut ausschließlich als problematischen Auslöser für rechtspopulistischen Erfolg kommuniziert (vgl. S. 74). Laut Riexinger ist also weniger die verschlimmerte soziale Lage für unzählige Menschen eine besorgniserregende Entwicklung, sondern vielmehr das Resultat aus dem aktuellen Sorgenstand, nämlich das vermeintliche Schüren von rechtem Gedankengut.

Riexingers Aussagen stützen sich laut Schildbach auf eine Analyse der Bertelsmann-Stiftung nach der letzten Bundestagswahl. Demnach ist aus den Umfrageergebnissen zu entnehmen, dass es typische AfD-Wähler*innen nicht gibt, sich jedoch viele der Wähler*innen den Personengruppen „Arbeiter_innen“ und „Arbeitslose“ zuordnen lassen. Laut Schildbach werden solche Zahlen gemeinhin als bestätigende Referenz herangezogen, um materielle Deprivation als förderlichen Faktor für rechten Wahlerfolg zu deklarieren (vgl. S. 74).

An diesem Punkt beginnt Schildbach die Mängel an Riexingers Argumentationsstruktur aufzuzeigen. Zum einen weist sie auf die Argumentationslücke hin, dass trotz der empirischen Befunde der Grund des Wahlerfolgs der AfD nicht ausreichend erläutert ist, da „die materielle Deprivation zwar eine Bedingung darstellt“ (S. 75), aber nicht als ausreichender Grund für rechte Politisierung zu akzeptieren ist. Sie erweitert ihre Kritik mit der Frage: „Weswegen verfängt das politische Angebot der AfD anstatt beispielsweise dasjenige der Partei „Die Linke“, die für einen Ausbau des Sozialstaates steht?“ (S. 74f.)

Des Weiteren führt sie aus, dass man entgegen der Darstellung Riexingers nicht einfach von einer automatischen Einflussnahme von Armut auf rechtsgerichtete Wahlen ausgehen kann. In einer Wahlentscheidung spiegelt sich Schildbachs Ansicht nach ein Urteil der Wähler*innen gegenüber der derzeitigen Politik wider. Diese Tatsache ist wiederum den aktuellen politischen Meinungsumfragen zu entnehmen. Sie erkennt in den Wahlentscheidungen von AfD-Anhänger*innen vielmehr eine Unzufriedenheit über Fehlverhalten der etablierten Regierung, statt lediglich Unmut über Armut. (vgl. S. 75)

Riexingers Rede ist nur ein Beispiel von einigen, die die Autorin aufführt, um zu verdeutlichen, wie derzeit eine Verschiebung der Problemanalyse von materieller Deprivation stattfindet. Schildbach beschreibt, wie sich die Politik unentwegt der Fragestellung entzieht „ob die von materieller Deprivation Betroffenen nicht allen Grund dazu haben, sich nicht länger bei den etablierten politischen Kräften aufgehoben zu fühlen“ (S. 76). Die mangelhaften Lebenssituationen der Menschen werden demnach zu einem Problem des Gemeinwesens entfaltet und rein zur Analyse von politischen sowie gesellschaftlichen Konsequenzen herangezogen.

Wenn sich nun nicht nur Politik, sondern ebenfalls Wissenschaft und Presse diesen Blickwinkel aneignen und die gezielten Probleme der Menschen aus den Augen verlieren, entsteht laut Schildbach das Kernproblem der rechten Zugewinne (vgl. S. 76f.).

Im weiteren Verlauf ihrer Argumentation hinterfragt sie zudem die politische Aufklärungstätigkeit der Partei AfD im Zusammenhang mit Armut. Genau hier zeigt sich ein entscheidender Unterschied zur kommunikativen Richtung, welcher sich Herr Riexinger bediente. Dem Parteiprogramm der AfD ist zu entnehmen, dass sie schwierige Lebenslagen der Menschen in Form von Armut anerkennt und der bisherigen Regierung fälschliches oder unzureichendes Handeln vorwirft. Jedoch bezieht sich die AfD nicht auf die Armut per se, sondern stellt materielle Sorgen konstant in direkten Zusammenhang mit der „Flüchtlingskrise“. (vgl. S. 79)

Die AfD suggeriert laut Autorin das fälschliche Bild, dass die Sozialstaatsausgaben zu einem großen Teil für die Einwanderungspolitik verwendet werden und somit nicht genügend Mittel für das „Wohlergehen des deutschen Volkes“ (S. 80) übrigbleiben. Dem Empfinden der AfD und deren Wähler*innen nach, haben vermeintlich „volksfremde“ Menschen grundsätzlich kein Anrecht auf Unterstützung, da dies die Armut auf „deutschem Boden“ fördert (vgl. S. 81).

In diesem Punkt zeigt Schildbach, welche Beweggründe sich durch diese Art von Propaganda für rechte Wähler*innen ergeben könnten, wie beispielsweise deren Einstellung, dass man um sein „Recht auf materielles Auskommen von einer vermeintlich volksfremden Regierung betrogen“ (S. 81) wird. Diese Denkweise stellt Schildbach als fundamentale Voraussetzung dar, um sich in einer Wahl für rechtspopulistische Parteien zu entscheiden.

Daraus folgend übersieht die allgemein vorherrschende Deutung, dass materielle Deprivation zu rechten Stimmen führt, folgenden Punkt: Rechte Wähler*innen fühlen sich von rechtspopulistischen Parteien als Deutsche angesprochen, die sich in ihren Grundrechten durch unsere herrschende Regierung beeinträchtig sehen (vgl. S. 83).

In ihrem abschließenden Argumentationsschritt schlussfolgert Schildbach, dass Armut erst dann als Ursache für rechte Bewegungen angesehen werden kann, wenn sie aus nationaler Perspektive verstanden wird. Hieraus ergibt sich eine essentielle Aufgabe, um Rechtspopulismus entgegenzuwirken. Nämlich genau diese nationale Interpretation von Armut als Gefahr für Staat und Gesellschaft inhaltlich anzufechten und öffentlich zurückzuweisen (vgl. S. 83).

Um rechte Argumente zu widerlegen, liegt es nun an der Politik und Wissenschaft, eigene rechtspopulistische sowie nationale Perspektiven selbstkritisch zu betrachten. Erst wenn sich wieder tatsächlich den Belangen der sozial schwachen Bevölkerung zugewandt wird, kann die Ursache für zunehmend prekäre Lebensumstände in der Bevölkerung gelüftet werden.

Letztendlich mündet die Argumentation in folgende Schlussfolgerung: Die bloße Zerlegung von rechtsextremen Argumenten reicht nicht aus. Das grundsätzliche Streben soll darin liegen, den Menschen mit ernstgemeintem Verständnis für ihre Sorgen zu begegnen, indem nicht nur alternative Argumente zu rechten Standpunkten geboten werden, sondern unvoreingenommene Aufklärung gereicht wird (vgl. S. 85).

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