Welzer, Harald (2017), Wir sind die Mehrheit. Für eine offene Gesellschaft, Fischer.
Rezension
Autorin: Anna Bundschuh
Harald Welzer wurde 1958 geboren. Er studierte Soziologie, Literatur und Politische Wissenschaft an der Universität Hannover. 1988 promovierte er in Soziologie, dann habilitierte er sich in Sozialpsychologie und Soziologie. Seit 2012 ist er Professor für Transformationsdesign an der Universität Flensburg und Direktor der Stiftung Futur Zwei in Berlin.
Welzer sieht die Demokratie durch den stattfindenden Wandel der politischen Kultur bedroht. Ihm geht es um Grundfragen von Moral und Haltung. Er wirbt für eine offene Gesellschaft und dafür, Unterstützer dieses Modells zu werden. Sein Ziel ist es, das Bewusstsein für die zahlreichen Errungenschaften unserer demokratischen Gesellschaftsform zu schärfen und zu einer positiven Zukunftsgestaltung zu ermutigen.
Auch zieht er in seinem Buch verschiedene Politiker, nicht nur AfD-Mitglieder, zur Rechenschaft. Aber auch an seiner eigenen Zunft und Person übt er Kritik. Nicht nur in rechtskonservativen Strömungen und Parteien sieht er eine Gefahr, auch die linksliberalen Gruppen und Parteien tragen seiner Meinung nach zur Gefährdung einer offenen Gesellschaft bei.
Er will die Leser aufrütteln und ihnen begreiflich machen, dass unsere hart erkämpfte Demokratie momentan so massiv angegriffen wird wie noch nie in der Nachkriegsgeschichte. Seiner Meinung nach haben wir Bürger und Bürgerinnen die Freiheit, unsere Gesellschaft nach eigenen Vorstellungen mitzugestalten. Dennoch haben wir gerade jetzt auch die Pflicht, aktiv für diese Gesellschaft einzutreten und sie gegen Autoritarismus und Populismus zu verteidigen.
Nicht nur der stattfindende Rechtsruck oder die Intoleranz gegenüber geflüchteten Menschen geben Grund zu handeln. Verbale Entgleisungen, die fast täglich über soziale Medien veröffentlicht und in der TV-Landschaft breitgetreten werden, sind inzwischen salonfähig geworden. Das Gewöhnen an solche Aussagen und die gefährliche Normalisierung dieser Zustände bedrohen, laut Welzer, unsere Gesellschaftsform. Der Autor zeigt, gerade bei diesem Themenschwerpunkt, immer wieder Parallelen zur NS-Zeit auf. Er macht deutlich, wohin eine solche Entwicklung führen kann und schon geführt hat.
Auch die Entpolitisierung, die zum Ideal einer egoistischen Konsumkultur wurde, wird in seinem Buch aufgegriffen. Donald Trumps Wahl zum US-Präsidenten ist die Versinnbildlichung dieser Konsumkultur und des demokratischen Ernstfalls.
Im Laufe des Buches weist der Autor immer wieder darauf hin, wie wichtig es ist, zu erkennen, dass es uns nie besser ging als im Moment. Die offene Gesellschaft hat uns einen gewissen materiellen Wohlstand und zahlreiche Freiheits- und Minderheitsrechte gebracht. Diese Rechte zu verteidigen, sei unsere Pflicht. Aber auch das Bewusstmachen dieses Wohlstandes kann der steigenden Unzufriedenheit der Bürger und Bürgerinnen entgegenwirken.
Trotz allen Werbens für eine offene Gesellschaft übt er auch Kritik an dieser. Sie sei keine perfekte Gesellschaft, in ihr gebe es natürlich auch Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten. Der Grund dafür sei ganz einfach zu erklären: Es gibt keine perfekte Gesellschaft. Dennoch sind wir alle dazu angehalten, „Freunde“ der offenen Gesellschaft zu werden und sie somit voranzubringen. Denn die Weimarer Republik, die er als Beispiel hierfür heranzieht, sei nicht an zu vielen Feinden gescheitert, sondern an zu wenig Freunden dieser Gesellschaftsform.
Harald Welzers Buch „Wir sind die Mehrheit“ ist in dreizehn Kapitel unterteilt, an deren Ende jeweils eine Regel steht, die den Lesern die Kernaussage des Kapitels noch einmal deutlich macht. Das Buch ist verständlich geschrieben und somit nicht nur für Politik-Experten geeignet. Seine Thesen stützt er mit vielen Beispielen und scheut sich auch nicht vor Vergleichen mit Hitler, um die Dringlichkeit seines Anliegens deutlich zu machen.
Sein Ziel, den Leser zum Nachdenken anzuregen und aufzurütteln, erreicht er meiner Meinung nach mit diesem Buch. Er gibt dem Leser gleichzeitig eine Anleitung an die Hand, um die offene Gesellschaft zu unterstützen und voranzubringen. Zum Abschluss seines Buches nennt er zahlreiche Organisationen, die dem Leser als Inspiration dienen sollen, wo und wie man aktiv mitwirken kann. Auch zeigt er damit, dass es viele Gleichgesinnte gibt, die weiterhin ein offenes, demokratisches, freies Land haben und sein wollen.
Meiner Ansicht nach sind die abgedruckten Bilder meist nicht von Bedeutung für den Inhalt des Buches und nehmen zu viel Platz ein. Diesen hätte man nutzen können, um komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge näher zu erläutern. Welzer kratzt oft nur an der Oberfläche und lässt einige Fragen offen. Aber vielleicht strebt er genau diese Offenheit an, denn er fordert ja, dass wir wieder anfangen müssen, mehr eigenständig zu denken, zu hinterfragen und für uns und unsere Wertvorstellungen einzustehen.
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