Mittwoch, 18. Januar 2017

Die freie Gesellschaft in der Krise – Welche Schlüsse die etablierte Politik ziehen sollte

Ein Beitrag von Christian Pauls

Das Jahr 2016, so viel kann man wohl ohne Übertreibung sagen, wird in die Geschichte eingehen. Unklar ist noch, unter welcher Überschrift: „Der Anfang vom Ende der liberalen westlichen Demokratie“ oder „Die Stärkung der Demokratie in der Krise“, dies sind, so muss man wohl befürchten, die Alternativen, die sich auftun. Welcher Ausgang letztlich in den Geschichtsbüchern stehen wird, das haben die demokratischen Politiker und die Gesellschaften in Europa selbst in der Hand.

In vorher nie dagewesener Art und Weise sind die liberalen und freiheitlichen Werte unter Druck, wird gegen Minderheiten verschiedenster Art gehetzt, seien es Muslime, Homosexuelle oder ganz generell das „Establishment“. Die freie Presse steht unter Verdacht und wird als „Lügenpresse“ verunglimpft, im Internet und den sozialen Medien bilden sich Filterblasen, in denen im apokalyptischen Ton aufgewiegelt wird und Verschwörungstheorien zur absoluten Wahrheit erklärt werden. Dies alles mündete in diesem Jahr in zwei politische Erdbeben: Den Brexit und die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten. Diese beiden Ereignisse kann man als vorläufige Endpunkte einer Entwicklung sehen, die sich schon über viele Jahre in den verschiedensten Ausformungen in fast allen westlichen Gesellschaften abgezeichnet hat, lange weitgehend unbemerkt und unterschätzt, wie sich jetzt zeigt (vgl. Holmes 2012, S.43). Bei allen Unterschieden in den einzelnen Ländern werden dennoch einige gemeinsame Punkte sichtbar, die in die Krisenerscheinungen des Jahres 2016 münden.


– Die zunehmende Entfremdung zwischen der Politik und den Bürgern: In einem demokratischen System muss der Souverän, das Wahlvolk, das Vertrauen haben, dass seine Probleme und Bedürfnisse durch die Parteien in den politischen Prozess eingebracht werden und dadurch eine Verbesserung eintritt. Dies ist die zentrale Aufgabe, wird doch durch Wahlen die Macht zwecks Problemlösung an Volksvertreter, die Abgeordneten, delegiert. Man muss jedoch feststellen, dass dieses Vertrauen in die Lösungskompetenz in zunehmendem Maße schwindet. Zugleich entsteht durch intransparente Entscheidungsfindungen der Eindruck, dass diese gänzlich losgelöst vom gesellschaftlichen Diskurs stattfindet, ja schlimmer noch, von finanzstarken Interessenverbänden bestimmt wird (vgl. Crouch 2008, S. 25-30). Das Beispiel der CETA- und TTIP-Verhandlungen wäre hier zu nennen. Aber auch immer wieder geleakte Dokumente einflussreicher Lobbygruppen, in denen eins zu eins ganze Passagen später erlassener Gesetzestexte zu finden sind, führen zu diesem Vertrauensverlust in die etablierte Politik. Der VW-Abgasskandal als eines von vielen Vorkommnissen zeigt dies deutlich. Erst kürzlich musste die SPD eingestehen, für bis zu 7000 Euro exklusive Gespräche mit Parteifunktionären und Ministern zu vermitteln. Ein ähnliches Vorgehen gab es bereits im Jahr 2010, als die NRW-CDU den amtierenden Ministerpräsidenten Rüttgers „vermietete“. Das fatale Bild, dass Geld und nicht der Wettstreit um die beste Lösung für die Bürger im Vordergrund steht, ist inzwischen tief bei vielen Menschen verwurzelt (vgl. DeutschlandTrend Oktober 2016). Letztlich scheint das Vertrauen der Märkte vorrangiges Ziel der Politik zu sein, wenn Angela Merkel von einer „marktkonformen Demokratie“ spricht. Die Demokratie ist in einer Repräsentationskrise (vgl. Blühdorn 2013, S. 12 f.).

– Die „alternativlose“ etablierte Politik: Ob Euro-Krise oder Flüchtlingsproblem, Bankenrettung oder Sparprogramme in Südeuropa, Sozialabbau oder Freihandelsabkommen – stets verweisen weite Teile der politischen Führung auf die Alternativlosigkeit der Entscheidungen. Auch wenn das Wort „alternativlos“ gerade in Deutschland natürlich untrennbar mit Angela Merkel verbunden ist, zeigt sich beim Betrachten der europäischen Politik doch, dass in vielen Staaten des Kontinents etablierte Parteien nur die Zwänge des Status Quo als Rechtfertigung ihrer Politik heranziehen, anstatt aktiv positive Gegenentwürfe vorlegen. So argumentierten die Brexit-Gegner ausschließlich mit wirtschaftlichen Zwängen für einen Verbleib in der EU. In Südeuropa wird der Sparkurs mit den Zwängen der Globalisierung, der Finanzmärkte und der EU-Institutionen begründet. So lässt sich aber weder Zustimmung noch Zuversicht gewinnen. Auf die Spitze getrieben wurde dies durch sogenannte „Expertenregierungen“ in einigen EU-Krisenstaaten (vgl. Blühdorn 2013, S. 13). Eine Demokratie dagegen lebt von Alternativen und dem Wettstreit darum, welche hiervon gut und welche weniger gut wären. Dadurch werden Diskussionen forciert und im besten Fall steht am Ende ein für große Teile der Menschen tragbarer Kompromiss, der die unterschiedlichen gesellschaftlichen Interessen in Gesetze und Regelungen überführt. Unterbleibt dieser Wettstreit um Positionen jedoch, verliert Demokratie ihren ureigenen Zweck: Wenn man in wichtigen Fragen keine Wahl hat – warum soll man dann wählen gehen? So sank auch über zwanzig Jahre kontinuierlich die Wahlbeteiligung, die etablierten Parteien sind in einer Legitimationskrise (vgl. Blühdorn 2013, S. 12).

– Die Simulation von Politik: An die Stelle echter alternativer Konzepte tritt inzwischen eine Simulation von Politik. Es werden ständig Scheindebatten über vergleichsweise unbedeutende Dinge geführt, die letztlich völlig an dem vorbeigehen, was eine große Zahl an Bürgern umtreibt. In Deutschland kann man z. B. die Pkw-Maut nennen, das Betreuungsgeld, die Mütterrente, den „Veggie-Day“, gendergerechte Sprache, Transgender-Toilletten. Die Liste ließe sich beliebig fortführen. So berechtigt man diese Themen im Einzelnen finden mag, spiegeln sie doch nicht die Herausforderungen wider, die sich der Gesellschaft gerade stellen. Sie werden von der Politik benutzt, um eine vermeintliche Handlungsfähigkeit zu suggerieren. Geschuldet sind sie einem Verständnis von Wahlerfolgen als Ergebnis guter Werbung, nicht fundierter politischer Handlungen. Letztlich tragen sie aber mit dazu bei, dass sich Menschen frustriert von den etablierten Parteien abwenden, die sie als abgehoben empfinden und handlungsunfähig. Dies führt zum nächsten Punkt.

– Die Stunde der Populisten: In die inhaltsleeren Meinungsräume der etablierten Politik dringen die neuen Parteien und Bewegungen nun mit voller Macht ein. Die alternativen Lösungsansätze, die die etablierte Politik immer weniger zu bieten scheint, werden nun mit antipluralistischen Antworten von den Populisten gegeben. Sie nutzen die vorhandenen gesellschaftlichen Probleme, um Stimmung gegen „die da oben“ zu machen. Ob sie dabei sinnvolle Lösungsansätze unterbreiten, scheint vielen Wählern inzwischen egal. So sind beispielsweise die Werte zur Problemlösungskompetenz für die AfD in repräsentativen Umfragen regelmäßig schlecht (vgl. DeutschlandTrend Mai 2016). Offenbar ist der Frust über das „Establishment“ vielerorts so groß, dass der vielzitierte Denkzettel an „die da oben“ den alleinigen Ausschlag für die Wahlentscheidung zu geben scheint.

– Die Aufspreizung der Gesellschaft in „oben“ und „unten“: Den Nährboden für diese Entwicklung bildet schließlich die zunehmend ungleiche Verteilung von (Aufstiegs-) Chancen in den westlichen Gesellschaften. Seit gut drei Jahrzehnten verteilt sich das Einkommen und Vermögen immer ungleicher in der Gesellschaft. Steuern wurden gesenkt und die Regulierung der Wirtschaft eingeschränkt, alles mit dem Ziel, Wachstum zu generieren. Der Sozialstaat wurde zurückgebaut, staatliches Vermögen privatisiert. In der Folge verschuldeten sich die Staaten zunehmend, um die fehlenden Einnahmen zu kompensieren und schließlich auch, um den vom Finanzkapitalismus verursachten Schaden in der großen Wirtschaftskrise 2008 abzufedern. Versuche, diese Entwicklung durch wirksame Besteuerung von Unternehmen und Kapitalerträgen rückgängig zu machen, werden effektiv verhindert – die Drohung, ansonsten die Arbeitsplätze und Konzernzentralen in andere Länder zu verlagern, schreckt die Politik. Anstatt vereint zu handeln, blockieren sich die Staaten im Namen des „Steuerwettbewerbs“ selbst. So zahlen die Bürger und kleine Betriebe Steuern, während multinationale Konzerne ihre Gewinne in Steueroasen transportieren. Ob in Krankenhäusern, Schulen oder anderen Teilen der öffentlichen Infrastruktur, überall im direkten Lebensumfeld der Menschen sind Verschlechterungen in Folge der finanziell geschwächten öffentlichen Hand sichtbar. Angst vor Arbeitsplatzverlust, schlechte Löhne und befristete Beschäftigung betreffen viele, ist man nicht selbst tangiert, so wird man im Bekanntenkreis doch fündig. Dies alles führt dazu, dass die Abstiegsangst in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist (vgl. Streeck 2013, S.86-90; Crouch 2008, S. 14-20; Habermas 2013, S. 75-77).

Die simplen Botschaften der Einen – Die fehlenden Botschaften der Anderen

Angst sei ein schlechter Ratgeber, sagt der Volksmund. Und tatsächlich begünstigt sie irrationale Entscheidungen, die sogar den eigenen Interessen zuwiderlaufen. Wie soll man sonst verstehen, dass sozial Abgehängte in Scharen einen Milliardär zum Präsidenten wählen, der bei der Steuer trickst? Oder Arbeitslose eine Partei, die AfD, welche Sozialleistungen kürzen und die Arbeitslosenversicherung privatisieren will? Und die etablierte Politik? Die Probleme werden von dieser nicht einer Lösung (oder Verbesserung) zugeführt, sondern als schicksalhaftes Ereignis hingenommen. Sie begründet die Situation schließlich mit der Alternativlosigkeit durch die Globalisierung, die selbst auch alternativlos ist. Gleichzeitig wurden jene Finanzmärkte, die die Politik einst deregulierte und die unvorstellbare Gewinne anhäuften, mit Steuergeldern gerettet. Bei vielen Bürgern entsteht das diffuse Gefühl, etwas muss sich ändern und alles sei besser als ein „weiter so“. Die Populisten kleiden dies in simple Botschaften: Der Profit landet bei denen da oben, die Verluste bei euch da unten. Der Rechtspopulismus bringt außerdem noch eine zweite, ergänzende Deutung ins Spiel: Euch geht es schlecht wegen den vielen Fremden. Ihr findet keine bezahlbare Wohnung, weil die Flüchtlinge da sind. Ihr habt keinen Arbeitsplatz, weil die Ausländer euch die Jobs stehlen. Euch kürzt man die Leistungen, während die Flüchtlinge alles umsonst bekommen. Auf perfide Art wird also beides verknüpft, die sozialen Probleme und die Abstiegsangst mit den kulturellen Ängsten vor gesellschaftlicher Veränderung. Minderheiten werden auf geradezu klassische Art als Sündenböcke für teils reale Probleme, teils irrationale Ängste gebrandmarkt.

Die soziokulturelle Komponente der rechtspopulistischen Erfolge kann keineswegs negiert werden. Natürlich gibt es eine um sich greifende Angst vor fremden Kulturen und Religionen, vor dem Verlust der eigenen Werte und Traditionen, kurz: Davor, sich fremd im eigenen Land zu fühlen. Diese soziokulturelle Komponente kommt meines Erachtens jedoch erst dadurch zum Tragen, dass die etablierte Politik es nicht vermag, ein Gefühl der gesellschaftlichen Sicherheit im Sinne von sozialer Gerechtigkeit zu vermitteln. Wo sozialer Aufstieg nicht gelingt, kann auch Integration nur schwer gelingen. So entstehen auch reale Probleme, von Kriminalität bis gesellschaftlicher Segregation, man denke an die Banlieues in Frankreich, aber auch sogenannte Problemviertel in Deutschland. Ein weiterer Faktor kommt hinzu: Der obere Teil der Gesellschaft, das progressive Bürgertum, zieht zunehmend in Szeneviertel der Innenstädte (Gentrifizierung), wodurch die Mietpreise selbst in ehemaligen Arbeitervierteln rapide steigen. Sie selbst sind dort von den sozialen Spannungen nicht betroffen und blicken teils mit Verachtung auf die unteren Schichten. Sie kapseln sich dort von der Unter- und unteren Mittelschicht ab, die ihrerseits an den Stadtrand gedrängt wird und dort mit den Migranten (-nachkommen) um den knapper werdenden bezahlbaren Wohnraum konkurriert. Angehörige der Mittelschicht, die im Umland, in Kleinstädten oder auf dem Land wohnen, sind objektiv von diesen Problemen nicht tangiert, doch durch, teils alarmistische, Medienberichte verunsichert, steigt subjektiv die Befürchtung, ähnliches zu erleben – zumal durch den großen Flüchtlingszuzug im vergangenen Jahr. Es zeigt sich also, wie auch hier reales staatliches Versagen in der sozialen Frage mit dem Unvermögen, ein Gefühl gesellschaftlicher Sicherheit zu vermitteln letztlich zu populistischen Wahlerfolgen beiträgt (vgl. Hillebrand 2015, S. 107-120). Bis in die Neunziger Jahre gab es trotz Millionen Einwanderern in der Bundesrepublik keine erfolgreiche fremdenfeindliche Partei, gerade weil eben eine als gerecht empfundene Gesellschaft mit guten Zukunftsperspektiven für sich und die eigenen Kinder Angst vor Fremden verhindert.

Die Diskursverweigerung der etablierten Politik

Was ist die Strategie der demokratischen Parteien in Deutschland angesichts all dieser historischen Umwälzungen in der Gesellschaft? Bundeskanzlerin Merkel fokussierte sich in ihrer Regierungserklärung, nachdem sie ihre erneute Kandidatur zur Bundestagswahl bekannt gab, auf die Herausforderungen durch die Digitalisierung. Zweifelsohne ein ungeheuer wichtiges Thema. Aber gänzlich ungeeignet, um einem immer populistischeren Diskurs entgegenzuwirken. Gleichzeitig wird permanent, fast panisch das „Flüchtlingsthema“ diskutiert, obwohl die Zahlen längst schon deutlich zurückgegangen sind. In mehrfacher Hinsicht ist dies fatal: Erstens wird durch die ständige Thematisierung in der Bevölkerung der Eindruck erweckt, das Problem sei nach wie vor in der gleichen Schärfe vorhanden wie vergangenes Jahr. Zweitens entsteht das Bild einer handlungsunfähigen Politik, denn wo diskutiert wird, ist anscheinend nicht gehandelt worden, obwohl objektiv längst zahlreiche Maßnahmen ergriffen wurden, die auch wirken. Drittens lässt man sich die politische Agenda von den Populisten diktieren, die einen, egal was man beschließt, doch immer noch weiter rechts „überholen“ können. Viertens beseitigt man nicht die Ursachen der populistischen Wahlerfolge, sondern doktert an den Symptomen des Unmuts herum. Und am verheerendsten ist, fünftens, dass der dringend notwendige breite gesellschaftliche Diskurs über die Fragen der Zeit aufgrund dieser monothematischen Verengung nicht stattfindet. Hier zeigt sich einmal mehr die Wirkung der seit vielen Jahren fortschreitenden Inszenierung von Politik durch Werbeagenturen, die tiefergehende Debatten aber nicht mehr zulässt und die Person in den Mittelpunkt rückt (vgl. Crouch 2008, S. 36-41).

Unser gesamtes politisches System gerät in eine Schieflage, wenn die Parteien die gesellschaftlichen Diskurse nicht abbilden und so in den politischen Prozess einbringen, also „bottom-up“ agieren. Dafür müssten sie inhaltliche Antworten auf die Fragen der Menschen geben. Nur dann können die Bürger über Wahlen echten Einfluss auf Entscheidungen nehmen, indem sie zeitlich befristet die Macht erteilen (vgl. Blühdorn 2013, S. 17). Im Grundgesetz heißt es in Artikel 21: „Die Parteien wirken bei der politischen Willensbildung des Volkes mit.“ Dies ist jedoch nicht nur ihr Recht, es nimmt sie auch in die Pflicht. Die demokratischen Parteien versagen im Moment dabei, diese politische Willensbildung des Volkes in ausreichendem Maße zu unterstützen. Das sinkende Vertrauen in Parteien im Allgemeinen und ihre Handlungsfähigkeit im Besonderen sind dafür ein besorgniserregendes Zeichen (vgl. Merkel 2015, S. 58 f.).

Was also kann die Lösung gegen die zunehmenden Wahlerfolge populistischer und antipluralistischer Parteien sein? Zuallererst kontroverser Diskurs, in den demokratischen Parteien und zwischen ihnen. Alternativlosigkeit darf es in einer Demokratie nicht geben, sie grenzt an Arroganz der eigenen Meinung und ist eine Steilvorlage für populistische Parolen. Prinzipiell ist nichts alternativlos, mit Ausnahme der Grundrechte unserer Verfassung. Ansonsten gibt es immer Alternativen, zwischen denen man wählen kann. Die Aufgabe der Parteien ist es, für die eigenen Alternativen Mehrheiten zu gewinnen. Natürlich ist der Euro nicht alternativlos, seine Abschaffung hat aber Konsequenzen. Diese Konsequenzen müssen diskutiert, die eigene Position anhand dessen erarbeitet und anschließend zur Wahl gestellt werden. Dabei ist Transparenz entscheidend, Hinterzimmergespräche mit Verbänden gleich welcher Couleur darf es keinesfalls geben, erwecken sie doch den Eindruck von Mauschelei der so genannten gesellschaftlichen Eliten, unabhängig davon, ob dies tatsächlich zutrifft oder nicht. Natürlich darf und muss jede gesellschaftliche Gruppe ihre Sichtweise einbringen, aber nur mit offenem Visier, also transparent und für jedermann sichtbar.

Mehr Demokratie wagen!

Parteien müssen daran arbeiten, wieder als Ort lebendiger gesellschaftlicher Diskussionen und Möglichkeit für Bürger, Einfluss zu nehmen, wahrgenommen zu werden. Aus der Psychologie weiß man um die ungeheure Bedeutung der Selbstwirksamkeit für das menschliche Handeln, also des Glaubens daran, durch das eigene Wirken etwas zu bewegen. Fehlt dieser Glauben, kommt es zu Resignation, dann Frustration und schließlich Wut, die in irrationale Handlungen münden kann (vgl. Holmes 2012, S. 53 f.). Die über viele Jahre dramatisch sinkende Wahlbeteiligung, die jüngst wieder deutlich ansteigt und zu großen Zugewinnen für populistische Parteien führt, könnte sich damit erklären lassen. Legitimationskrise und Repräsentationskrise sind zwei Seiten der selben Medaille: Weil sich große Teile der Bürger nicht mehr vertreten fühlten, sank die Wahlbeteiligung, wodurch sie tatsächlich nicht mehr in den demokratischen Institutionen vertreten waren. Gerade in den unteren Einkommensschichten sank die Wahlbeteiligung dramatisch (vgl. Merkel 2015, S. 50 ff.). Die Parteien hatten damit, abgesehen von Lippenbekenntnissen, wie schlimm das sei, tatsächlich relativ wenige Probleme. Schließlich sicherte eine geringe Wahlbeteiligung letztlich ihre Macht, die Bürger, die resignierten, „störten“ nicht beim Regieren (vgl. Blühdorn 2013, S. 14). Angela Merkel machte daraus sogar eine Wahlstrategie, die „asymmetrische Demobilisierung“. Wie kurzsichtig das war, zeigt sich nun, wo die Wut große Teile dieser Menschen zurück an die Wahlurne treibt, mobilisiert durch den Wunsch, es „dem Establishment“ zu zeigen. So sind AfD-Wähler zu großen Teilen vorige Nichtwähler, Arbeiter, niedere Angestellte und Arbeitslose machen einen erheblichen Teil der Wählerschaft aus. Dies war auch beim Brexit und der Trump-Wahl zu beobachten.

Dass Bürgernähe, Offenheit und Transparenz Parteien beleben können, zeigt jüngst das Beispiel Frankreich: Durch die für alle Franzosen offene Wahl bei der Kandidatenkür der konservativen Partei fand eine Belebung statt, die über vier Millionen Menschen an die Wahlurnen gebracht hat. Natürlich muss man abwarten, ob diese Bürgernähe auch konsequent in der weiteren Parteiarbeit fortgeführt wird. Dennoch zeigt es, wie positiv dieser Ansatz wirken kann, um etablierte Parteien wieder an der Basis zu verankern.

Zusammenfassend kann man den Parteien also raten, wieder große Gesellschaftsbilder zu entwickeln, Visionen, wenn man so will, die den Menschen sowohl überzeugende Lösungsansätze als auch eine positive Zukunftsperspektive anbieten. Diese müssen im konstruktiven Streit, bürgernah, offen und transparent erarbeitet werden und die Kontroversität in der Gesellschaft darstellen, sich also substantiell voneinander unterscheiden. Dem Bürger bietet sich dadurch die Möglichkeit, durch seine Wahl wieder spürbar Einfluss auf die eigene Zukunft zu nehmen und Selbstwirksamkeit zu erfahren. Nur dadurch verlieren Populisten ihr einziges Argument: Nur wir hören euch zu und vertreten euch da unten gegen die losgelösten Eliten. Die Ausgrenzung aller „Protestwähler“ als rechtsradikal, das Kopieren populistischer Parolen oder eine vermeintliche „Politik der Mitte“, die in Wahrheit inhaltsleere Worthülse ist und darauf abzielt, keine Meinung zu äußern, um nur niemandem auf die Füße zu treten, wird dagegen zwangsläufig scheitern. Das Beispiel Österreich, wo eine jahrzehntelange Große Koalition dazu führte, dass beinahe fünfzig Prozent einen Rechtspopulisten zum Bundespräsidenten wählten, kann als Beleg dienen. Zu spät zum Gegensteuern ist es nicht. Die Parteien müssen diese Chance aber nutzen – vielleicht ist es die letzte für die freiheitliche Demokratie in Deutschland und Europa.

Literatur:

Blühdorn, Ingulfur: Simulative Demokratie. Neue Politik nach der postdemokratischen Wende. Frankfurt/Main 2013

Crouch, Colin: Postdemokratie. Frankfurt/Main 2008

Habermas, Jürgen: Demokratie oder Kapitalismus? Vom Elend der nationalstaatlichen Fragmentierung in einer kapitalistisch integrierten Weltgesellschaft, in: Blätter für deutsche und internationale Politik. Heft 5/2013

Hillebrand, Ernst (Hg.): Rechtspopulismus in Europa. Gefahr für die Demokratie? Bonn 2015

Holmes, Stephen: Die globale Demokratieverdrossenheit, in: Blätter für deutsche und internationale Politik. Heft 11/2012

Merkel, Wolfgang (Hg.): Demokratie und Krise. Wiesbaden 2015

Streeck, Wolfgang: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus. Frankfurt/Main 2013

Internetquellen:

DeutschlandTrend Mai 2016: http://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/2016/mai/ (abgerufen am 9.Dezember 2016)

DeutschlandTrend Oktober 2016: http://www.infratest-dimap.de/umfragen-analysen/bundesweit/ard-deutschlandtrend/2016/oktober/ (abgerufen am 9. Dezember 2016)

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen