Dieser Beitrag stellt einige Erkenntnisse meiner Seminararbeit über den Wandel des französischen Parteiensystems vor. Über Jahrzehnte hinweg war das Parteiensystem der V. französischen Republik von einer starken bipolaren Rechts-Links-Logik geprägt. Das politische Spektrum ließ sich dabei in vier grobe Gruppierungen unterteilen: Linkssozialisten und Kommunisten (Linksfront), Sozialisten und Linksliberale (Parti socialiste), dann die gemäßigte Rechte um die rechtsliberalen und konservativen UDI und Les Républicains und schließlich der rechtspopulistische Rassemblement National (früher: Front National).
Infolge des Mehrheitswahlrechts dominierten die zwei gemäßigten Großparteien des linken und rechten Lagers (PS und LR) die Institutionen. Kleinere Parteien konnten sich durch Bündnisse mit ihnen an der Macht beteiligen. Das Zentrum um die Partei MoDem spielte eine eher untergeordnete Rolle (vgl. Höhne 2015: 41; Kimmel 2017: 328; Ruß-Sattar & Jakob 2018: 5).
Diese Grundstruktur in einem „semipräsidentiellen System“, in dem das Staatsoberhaupt die Richtlinien der Politik bestimmt, sorgte nach relativer Instabilität in der IV. Republik für stabile Mehrheiten und regelmäßige Machtwechsel zwischen den beiden politischen Lagern. Ferner konnten durch das Wahlsystem extreme Kräfte erfolgreich in Schach gehalten werden. So sorgte auch das Erreichen der Stichwahl von Jean-Marie Le Pen (FN) im Jahr 2002 nicht dafür, dass die bipolare Struktur aufgebrochen wurde, da bei der nachfolgenden Parlamentswahl kein Kandidat der Rechtsextremen in die Nationalversammlung einzog. Man spricht hier auch von einer „republikanischen Front“, die den Einfluss rechtsextremer Kräfte einhegt (vgl. Kimmel 2017: 329-33).
Das Erdbeben 2017
Wahlergebnisse nach https://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4sidentschaftswahl_in_Frankreich_2017
Diese Bipolarität wurde mit der Wahl Macrons im Jahre 2017 aufgebrochen, was einem politischen Erdbeben gleichkam (vgl. Martin 2017). Obwohl schon vorher andere Parteien versucht hatten, das politische Zentrum zu besetzen und mit der Rechts-Links-Logik zu brechen, war die Situation im Jahr 2017 nach Evans & Ivaldi (2018: 20) aus drei Gründen besonders günstig:
- Eine starke, radikale Wählerschaft (sowohl die linksextreme Partei LFi als auch der rechtspopulistische FN schnitten rekordverdächtig gut ab,
- eine glaubwürdige zentristische Alternative unter Macron, der auch davon profitierte, dass das politische Zentrum überhaupt erst frei wurde ("Da mit Fillon ein Vertreter der ausgesprochen konservativen Orientierung der Republikaner und mit Hamon ein Exponent des linken Flügels der sozialistischen Partei kandidierten, wurde die politische Mitte für Macrons Kandidatur frei", Kimmel 2017: 340),
- eine erhöhte Fragmentierung des Parteiensystems.
Dem sind weitere Gründe hinzuzufügen:
- Ein mehr und mehr salonfähig gewordener Front National, der unter Marine Le Pen seit 2011 erfolgreich "entdämonisiert" wird,
- eine bemerkenswerte Unzufriedenheit mit den Kandidaten der "Regierungsparteien" (innerhalb der PS war man mit dem Kandidaten Hamon gar so unzufrieden, dass einige Wahlwerbung für Macron machten (vgl. Martin 2017: 251),
- ein immer stärker werdender Konflikt rund um das Thema Globalisierung, auf den ich nun etwas näher eingehen möchte.
Dieser Konflikt wurde nämlich von den erfolgreichsten Parteien (LREM, RN, LFi) am deutlichsten integriert, während die "Regierungsparteien" sich hierzu gespalten zeigten. Während Macron die "Gewinner" der Globalisierung für sich gewinnen konnte, ein klares Ja zur europäischen Integration hat, kulturliberale Werte vertritt und sich durch eine liberale Wirtschaftspolitik auszeichnet (vgl. Algan et al. 2018: 2ff; Holzer 2018: 121; Kallinich 2020: 23f), attackieren Mélenchon (LFi) und Le Pen (RN) den gegenwärtigen Kurs von linker bzw. rechter Seite.
Dies lässt sich an Le Pens hartem Kurs beim Thema Migration, ihrer Ablehnung des Multikulturalismus, einem starken EU-Skeptizismus bis hin zum lange Jahre angestrebten ‚Frexit‘, einem großen Misstrauen ihrer Wähler gegenüber dem politischen System (vgl. Algan et al. 2018: 19.32; Durovic 2019: 1491f) und dem geforderten Wirtschaftsprotektionismus zeigen.
Mélenchons Partei zeichnet sich durch ihren Euroskeptizismus, ihre globalisierungskritische Einstellung und das ebenfalls relativ starke Misstrauen ihrer Wähler gegenüber dem politischen System (vgl. Algan et al. 2018: 32) aus, gründet aber nicht in einer generellen Ablehnung der Globalisierung, sondern in ihrer neoliberalen Ausprägung (vgl. Martin 2017: 261-63).
Weiter lässt sich festhalten, dass sich diese Konfliktlinie mitten durch die Mitte-Rechts- und Mitte-Links-Parteien zieht (vgl. Grillmayer 2017: 211). Auf linker und rechter Seite lassen sich jeweils Befürworter und Ablehner der Globalisierung in ihrer gegenwärtigen Ausprägung ausmachen. Die klassischen Volksparteien weisen bei diesem Konflikt also Elemente beider Pole auf.
Dies lässt folgende Schlussfolgerung zu: Die neue Konfliktlinie rund um die Globalisierung (Offenheit vs. Geschlossenheit) verläuft entgegen der Rechts-Links-Logik und trennt nicht das linke vom rechten Lager, sondern die Mitte von den Extremen (vgl. Pütz 2017: 206-08). Auf Seite der Rechtspopulisten liegt die Vermutung nahe, dass die Probleme der Globalisierung durch den Rückzug ins Nationale gelöst werden sollen, auf Seite der Linksextremen hingegen durch eine Demokratisierung und Neuordnung der Institutionen jenseits einer neoliberalen Grundordnung (vgl. Martin 2017: 257-63). Die folgende Grafik (eigene Darstellung) macht diese Entwicklung deutlich:
Die Präsidentschaftwahl 2022 konnte diese Entwicklung eindrucksvoll bestätigen:
Wahlergebnisse nach: https://de.wikipedia.org/wiki/Pr%C3%A4sidentschaftswahl_in_Frankreich_2022
RN und LFi konnten ihre Ergebnisse sogar weiter verbessern, während die traditionellen Regierungsparteien in der Bedeutungslosigkeit versunken sind. Die große Frage, die sich damit für die Präsidentschaftswahl 2027 stellt, lautet: Was wird passieren, wenn mit Macron die einzige Alternative des politischen Zentrums wegfällt, da er dann bereits zwei Legislaturperioden im Amt war? Eine rechtspopulistische Regierung unter Marine Le Pen scheint realistischer denn je - die republikanische Front in Frankreich wackelt erheblich. Die Folgen für Deutschland und die EU wären gravierend...
Literatur
- Algan et al. (2018): The rise of populism and the collapse of the left-right paradigm: Lessons from the 2017 French presidential election. In: Cepremap Working Papers (Docweb) 1805.
- Durovic, Anja (2019): The French elections of 2017: shaking the disease? In: West European Politics. Volume 42,7. S. 1487-1503.
- Evans, Jocelyn & Ivaldi, Gilles (2018): The 2017 French Presidential Elections.: A Political Reformation?. Palgrave; Springer International Publishing, 2018, 978-3-319-68326-3.10.1007/978-3-319-68327-0.halshs-01697559.
- Grillmayer, Dominik (2017): Das Wahljahr 2017. In: Bürger & Staat. Frankreich. Heft 4-2017, 67. Jahrgang. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Ulm:
- Süddeutsche Verlagsgesellschaft. S. 210-15.
- Holzer, Birgit (2018): Understanding the Macron Phenomenon - The Causes and Consequences of an Unprecedented Political Rise. In: Echle, Christian et al. (Hg.): Panorama. Insights into Asian and European Affairs. Singapore: Konrad-Adenauer- Stiftung. S. 113-22.
- Höhne, Roland (2015): Parteiensystem im Umbruch. In: Rill, Richard (Hg.): Frankreich im Umbruch. Argumente und Materialien zum Zeitgeschehen, 100. München: Hanns Seidel Stiftung; Akademie für Politik und Zeitgeschehen. S. 41-48.
- Kallinich, Daniela (2020): Zwischen Polarisierung und Moderation. Frankreichs Präsident Macon und sein Dritter Weg auf dem Prüfstand. Brüssel: Friedrich-Naumann-Stiftung.
- Kimmel, Adolf (2017): Die französischen Wahlen 2017 und die Entwicklung des
- Parteiensystems. In: Zeitschrift für Politik. Vol. 64, No. 3. Baden-Baden: Nomos
- Verlag. S. 328-49.
- Martin, Pierre (2017): Un séisme politique. L’élection présidentielle de 2017. Commentaire 158: 249–264.
- Pütz, Christine (2017): Frankreichs Parteiensystem im Wandel. In: Bürger & Staat. Frankreich. Heft 4-2017, 67. Jahrgang. Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg. Ulm: Süddeutsche Verlagsgesellschaft. S. 204-09.
- Ruß-Sattar, S., & Jakob, S. (2018): Unruhe im System: seit Macrons Wahl wandelt sich die französische Parteienlandschaft. (DGAP-Analyse, 2). Berlin: Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik e.V.. Online verfügbar unter: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-58156-7. Abgerufen am: 24.02.22.
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