Am 9. Juni 2024 ist Europawahl. Damit steht uns eine sehr große und bedeutende Wahl bevor. Das heißt, die Unionsbürger:innen dürfen wieder wählen, wer sie im Europaparlament vertritt. Doch was diese Vertreter dann mit ihrem Mandat tun, ist nicht immer durchsichtig. In diesem Beitrag wird der Werdegang der AfD im Europaparlament genauer betrachtet. Bei der Recherche war für mich überraschend, wie schwierig es war, Informationen über ihre parlamentarischen Arbeit zu erhalten, denn die AfD fiel in den letzten Jahren in Europa weniger für ihr Abstimmungsverhalten oder ihre inhaltlichen Vorschläge, sondern viel mehr für ihre personellen Veränderungen auf.
Die Europawahl 2014 war für die AfD ein Erfolg, denn sie zog das erste Mal in ein Parlament ein. Mit einem Ergebnis von 7,1% schafften es sieben AfD-Abgeordnete ins Parlament: Hans-Olaf Henkel, Bernd Kölmel, Bernd Lucke, Marcus Pretzell, Joachim Starbatty, Ulrike Trebesius und Beatrix von Storch. Sie wurden vom Spitzenkandidaten Lucke angeführt und zunächst in die Fraktion der "Europäischen Konservativen und Reformer" (EKR) aufgenommen. Die EKR ist zwar EU-kritisch, jedoch nicht offen rechtsextrem (vgl. Jankowski, Lewandowsky 2018, S. 570). Zu großen Teilen besteht sie aus Vertretern der britischen Konservativen (vgl. Decker 2022, S.135).
Die AfD-Delegation wurde nach dem AfD-Parteitag 2015 jedoch von starker Zerrüttung getroffen. Nachdem Bernd Lucke nicht erneut zum AfD-Bundesvorsitzenden gewählt wurde und der Vorsitz von Frauke Petry und Jörg Meuthen besetzt wurde, gründete Lucke eine neue Partei "Allianz für Fortschritt und Aufbruch" (ALFA), später "Liberal-Konservative Reformer" (LKR), dann „Wir Bürger“. Die AfD-Europaabgeordneten schlossen sich zum größten Teil Lucke an und wechselten mit ihm in die neue Partei. Nur Beatrix von Storch und Marcus Pretzell blieben bei der AfD und zunächst auch in der Fraktion EKR (vgl. Jankowski, Lewandowsky, S. 570).
Doch im Frühjahr 2016 wurde Pretzell aus der Fraktion ausgeschlossen und schloss sich dann der Fraktion "Europa der Nationen und der Freiheit" an, welche hauptsächlich aus Abgeordneten des französischen Front National und der niederlänsichen Partij voor de Vrijheid besteht. Beatrix von Storch wechselte schließlich in die Fraktion "Europa der Freiheit und der Direkten Demokratie" (EFDD), welche vor allem aus Abgeordneten der Partei UKIP besteht. Die Gemeinschaft der AfD im Europaparlament 2014-2019 ist also komplett auseinandergebrochen.
Jankowski und Lewandowsky untersuchten das Abstimmungsverhalten der AfD-Abgeordneten in dieser Legislaturperiode. Dabei war auffällig, dass sowohl von Storch als auch Pretzell nach ihren Wechseln in andere Fraktionen deutlich stärker ins anti-europäische Lager gewandert sind. Da die EFDD und ENF sehr anti-europäisch sind, ist dies nicht sehr überraschend (vgl. Jankowski & Lewandowsky 2018, S. 582). Des weiteren positionierten sie sich nach dem Eintritt in die neuen Fraktionen ökonomisch linker als zuvor (vgl. Jankowski & Lewandowsky 2018, S. 583).
Diese Veränderungen im Abstimmungsverhalten traten erst nach dem Eintritt in die neuen Fraktionen und noch nicht nach dem Bruch der AfD auf (vgl. Jankowski & Lewandowsky 2018, S. 582). Somit ist davon auszugehen, dass die neuen Fraktionen einen großen Einfluss auf das Abstimmungsverhalten der Mitglieder haben, und es zeigt deutlich die Fraktionsdisziplin auf, unter dem die Abgeordneten in Parlamenten stehen. Alle Abgeordneten um Bernd Lucke, welche schließlich die AfD verließen und sich der ALFA bzw. LKR anschlossen, veränderten ihr Abstimmungsverhalten leicht in eine pro-europäische Richtung (vgl. Jankowski & Lewandowsky 2018, S. 582).
Nach dem Zerfall der AfD in der Legislaturperiode 2014-2019 bekam sie durch die Europawahl 2019 eine neue Chance. Wieder wurde die AfD in das Europaparlament gewählt und durfte dieses mal mit einem Ergebnis von 11,0% sogar elf Abgeordnete nach Brüssel schicken. Die Abgeordneten waren Christine Anderson, Gunnar Beck, Markus Buchheit, Nicolaus Fest, Maximilian Krah, Joachim Kuhs, Sylvia Limmer, Guido Reil, Bernhard Zimniok, Lars Patrik Berg und Jörg Meuthen. Sie schlossen sich der neu gegründeten Fraktion „Identität und Demokratie“ (ID) an, welche vor allem aus Abgeordneten der Lega Nord (LN) und Rassemblement National (RN) besteht und als stark rechtspopulistisch eingeordnet werden kann. Damit passt die Fraktion ID deutlich besser zum Auftreten der AfD im Bund als die EKR, welcher sie sich 2014 angeschlossen und die sie dann verlassen hatten.
Da von Storch und Pretzell nicht noch einmal ins Europaparlament einzogen, hat sich die AfD-Delegation im Europaparlament komplett erneuert. Kein AfD-Mitglied war in beiden Legislaturperioden Teil des Europaparlaments. Auch in den folgenden Jahren war auffällig, dass es eine stetige Fluidität innerhalb der Delegation der AfD gab. Die Partei war in dem Zeitraum nämlich erneut von starken Machtkämpfen geprägt.
So wechselten auch die Vorsitzenden der Delegation mehrmals. Bis Februar 2022 war Jörg Meuthen der Vorsitzende, welcher dann aber aus der Partei austrat und von Nicolaus Fest abgelöst wurde. Dieser blieb ebenfalls nur ein Jahr auf dem Posten des Vorsitzenden, bis zum Februar 2023, und verließ dann die Partei ebenfalls. Zu seinem Austritt sagte er der Presse, dass er kein Vertrauen mehr in die Delegation gehabt habe. Genau genommen beschuldigte er seinen Abgeordnetenkollegen Maximilian Krah, der für seine TikTok-Auftritte bekannt ist, die Vergabe eines PR-Auftrages manipuliert zu haben. Daraus entstand nicht nur ein Streit in der AfD-Gruppe, sondern die ID entschied außerdem, Krah für drei Monate aus der Fraktion auszuschließen (vgl. Spiegel 2023). Die AfD-Delegation hatte zuvor einstimmig beschlossen, die Suspendierung zu beantragen (vgl. Identität & Demokratie 2022).
Trotz dieser Entscheidung der Fraktion war es schließlich Fest, der die Partei verließ, und nicht Krah. Ganz freiwillig sei dieser Austritt jedoch nicht gewesen. Wenn Fest nicht freiwillig aus der Partei ausgetreten wäre, hätte ihm ein Ausschlussverfahren gedroht (vgl. Gareth 2023). Neben Fest und Meuthen trat auch der Abgeordnete Berg aus der Partei aus, womit gesagt werden kann, dass über ein Viertel der für die AfD in das Europaparlament gewählten Abgeordneten noch während der Amtszeit die Partei verlassen hat.
Für die kommende Europawahl 2024 ist eben dieser Maximilian Krah der Spitzenkandidat, der von seiner Fraktion für 3 Monate ausgeschlossen worden war, aber scheinbar die Gunst seiner Partei wiedererlangt hat. Für Außenstehende ist es unmöglich nachzuvollziehen, was wirklich hinter den Kulissen der AfD-Delegation passiert ist und immer noch passiert, wer bei den Meinungsverschiedenheiten Recht und wer Unrecht hat. Dennoch wird aus den öffentlichen Vorfällen deutlich, dass die Delegation äußerst uneins ist, obwohl sie selbst vor den Austritten aus nur elf Mitgliedern bestand.
Streit und Machtkämpfe dominieren die Tagesordnung, was die parlamentarische Arbeit stark behindert. Ob bei den Vorfällen überhaupt die Kapazität bleibt, sich mit politischen Inhalten zu beschäftigen oder die Aufmerksamkeit der Abgeordneten eher auf ihren Intrigen liegt, ist unklar.
Literatur
- Frank Decker u.a. (Hrsg.) (2022): Aufstand der Außenseiter. Die Herausforderung der europäischen Politik durch den neuen Populismus, Nomos
- J. Gareth (2023): Unbeglichene Rechnungen in der AfD, 20.04.2023, https://taz.de/Nicolaus-Fest-droht-Parteiausschluss/!5929313/, letzter Zugriff: 09.11.2023
- Identität & Demokratie (2022): Suspendierung von dr- Maximilian Krah, MdEP, https://de.idgroup.eu/suspendierung_von_dr_maximilian_krah_mdep, letzter Zugriff: 09.11.2023
- Jankowski, Michael, Lewandowsky, Marcel (2018): Die AfD im achten Europäischen Parlament: Eine Analyse der Positionsverschiebung basierend auf namentlichen Abstimmungen von 2014–2016. Z Vgl Polit Wiss 12, 567–589
- Spiegel (2023): EU-Delegationsleiter Fest tritt zurück, https://www.spiegel.de/politik/deutschland/im-eu-parlament-ruecktritt-von-afd-delegationsleiter-nicolaus-fest-a-61ca82e2-e5fc-4bba-ab23-539977de1022, letzter Zugriff: 09.11.2023
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