Montag, 15. Oktober 2018

Hindunationalismus und Populismus in Indien

Als am 30. Juli 2018 im indischen Bundesstaat Assam das vorläufige Bürgerregister herausgegeben wird, sitzt der Schreck bei vier Millionen Menschen tief. Denn laut diesem Register sind sie illegale BewohnerInnen in Assam und verlieren damit ihre Bürgerrechte in Indien. Eines fällt auf: Es fehlen vor allem die Namen muslimischer Menschen mehrheitlich aus Bangladesch, die zur Zeit des Unabhängigkeitskrieges zwischen Pakistan und Ostpakistan (heutiges Bangladesch), Ende der 1970er Jahre, nach Indien flohen. Zu dieser Zeit hatte sich Indien Ostpakistan als Allianz angeschlossen und Pakistan verlor den Krieg. Die Konsequenz daraus war, dass Millionen von Flüchtlingen aus Bangladesch in das indische Assam flohen und sich ansiedelten.

Das vorläufige Bürgerregister wurde erstellt, um festzulegen, wer im Osten Indiens als Staatsbürger gilt. Das Hauptkriterium für die Registrierung ist der Nachweis, dass die eigene Familie vor dem 25. März 1971 in Assam lebte. Ein Blick auf die Datierung des Bangladesch-Krieges zeigt, dass dieser genau an jenem Tag im März begann und somit die Geflüchteten des Krieges von vorne herein eine schwierigere Voraussetzung hatten, diesen Nachweis zu erbringen. Damit drängt sich der Verdacht auf, dass es sich um eine gezielte Aktion gegen Muslime handelt.

Es ist nicht das erste Mal, dass muslimische BürgerInnen in Indien derartiges erleben. Berichte, dass Minderheiten in Indien alltäglich Nachteile in der Gesellschaft Indiens erleben sind nicht selten zu vernehmen. Der Konflikt zwischen dem mehrheitlich hinduistisch geprägten Land und der muslimischen Minderheit ist weit in die Vergangenheit Indien zurückzuführen und lässt seit der Unabhängigkeit Extreme auf der Bildfläche erscheinen. Als Hindu-Nationalisten, Populisten und Hindu-Fundamentalisten versucht man sie begrifflich aufzufassen (vgl. Wolf, 2008).

Diese Konflikte sorgen für Spannungen in der Gesellschaft und in der Innenpolitik. Indien ist in seiner Außenpolitik stark an der Zusammenarbeit mit der Europäischen Union interessiert und bemüht sich um gute wirtschaftliche Beziehungen und Investitionen aus Deutschland, um die Wirtschaft im Land zu stärken. Für seine wirtschaftlichen Bemühungen wird Indiens Premierminister immer wieder gelobt, allerdings gibt es auch Kritik an seiner politischen Orientierung, denn diese soll die Ungleichheiten in der Gesellschaft weiter bestärken. Diese Innenpolitik in Kombination mit einer wirtschaftlich orientierten Außenpolitik macht Indien zu einem Akteur, der schwierig einzuschätzen ist.

Dieser Beitrag versucht eine Skizzierung des Populismus in Indien und fokussiert sich hierbei auf den extremen Bereich in Form des Hindunationalismus, der heute wieder an Bedeutung gewonnen hat. Hierbei werden die Begriffe Nationalismus und Populismus voneinander abzugrenzen sein, um den Hindunationalismus besser zu verorten. Der Populismus in Indien hat im Laufe der Geschichte unterschiedliche Formen angenommen. Diese Formen werden präsentiert, und ein historischer Rückblick zeigt die Probleme zwischen Hindus und Muslimen im Land an beispielhaften Ereignissen auf. Die Ideologie wird in Bezug auf die Religion und am Prinzip der „Hindutva“ erläutert. Anhand der Hauptorganisation Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) und der lokalen Vereinigung „Shiv Sena“ sollen die Arbeitsweise und die Organisation innerhalb der Hindunationalisten verdeutlicht werden. Den Schluss bildet ein Fazit, sowie der Ausblick, welche Gefahren von dieser Form des Populismus ausgehen und ob der Hindunationalismus als eine Form des Populismus gesehen werden kann.


Populismus oder Nationalismus

Um das Phänomen des Hindunationalismus greifbar zu machen, folgt hier zunächst eine begriffliche Annäherung an den Begriff Nationalismus. Obwohl der Begriff „Nationalismus“ in „Hindunationalismus“ bereits vorkommt, ist eine Definition notwendig, um das Phänomen vom Populismus zu unterscheiden. Zudem werden häufig auch die bereits genannten Begriffe wie Hindu-Fundamentalismus, -Faschismus und -populismus gemeinsam und inflationär verwendet (vgl. Wolf, 2008).
„Nationalismus ist ein politisches Handlungskonzept (Ideologie), das auf das Ziel einer Staatsbildung ausgerichtet ist, und zugleich ein dynamisch-praktisches Prinzip mit den Phänomenen einer wachsenden, politischen Mobilisierung und eines steigenden, politischen Organisationsgrades zur Erreichung dieses Ziels“ (Wieland, 2000, 64). 
Diese erste Definition nach Wieland beinhaltet Elemente, die sich bei den Hindunationalisten wiederfinden. Der seit 2014 amtierende Präsident Narendra Modi beruft sich als ehemaliges Mitglied der hindunationalen Organisation RSS immer wieder auf einen hindunationalen Staat. Diese Variante der Staatsform beruht auf dem Mehrheitsprinzip in ethnischer Form. Das bedeutet, dass die Mehrheit der Bevölkerung - in diesem Fall Hindus - den Ton angeben, und die Minderheiten sollen sich fügen (Jaffrelot, 2017, 188).

Während Wieland von der Organisation der Nationalisten spricht und den Nationalismus als Ideologie sieht, wählt Benjamin de Cleen einen Ansatz, der sich auf die sozialen Auswirkungen fokussiert. „Nationalism is structured around a group constructed in a particular nationalist way" (De Cleen 2017, 344). Der Nationalismus orientiert sich an einer Gruppe, die eine nationalistische Struktur besitzt. Darunter versteht man, dass Werte und Konstrukte wie Staat, Land, Freiheit, Demokratie und Kultur im nationalistischen Denken mit dem Konzept Nationalismus bezogen auf die eigene Nation in Verbindung gesetzt werden (Vgl. De Cleen 2017, 344).

Zu den Konzepten ist ein allgemeiner Ansatz von drei unterschiedlichen Typen des Nationalismus hinzuzufügen. Dazu gehört der „integrierende“ (Wehler 200, 51) Nationalismus, der seine Legitimation darin findet, dass innerhalb eines Staates Revolutionsbewegungen stattfinden und die regierenden Herrscher besiegt werden. Länder wie England und Frankreich kann man hier als Beispiele aus der Vergangenheit heranziehen (vgl. Wehler 2001, 51).

Eine hiervon abweichende Variante stellt der „Einigungsnationalismus“ (Wehler 2001, 51) dar, bei dem aus Staaten oder Teilen von Staaten eine Nation entsteht, die von einem oder mehreren Akteuren als vorgegeben gesehen wird. Ein dritter Typ wird als „sezessionistischer“ Nationalismus bezeichnet, der sich durch Nationalstaaten charakterisiert, die aus großen Reichen hervorgehen. Ein Beispiel sind hier das Zarenreich oder die Österreichisch-ungarische Monarchie und die daraus entstandenen Einzelstaaten (Wehler 2001, 52).

Einen vierten Typ bezeichnet Wehler als „Transfernationalismus“. Diese Form des Nationalismus bezieht sich auf ehemalige Kolonien, die sich aus gemischten ethnischen Gruppierungen zusammensetzen. Diese Form des Nationalismus ist für Indien sehr wohl zutreffend und stellt eine historische Deutung dar. Die Kolonialherrschaft zentralisierte die ethnisch und kulturell heterogenen Gruppierungen, und als die Kolonien unabhängig wurden, bildeten sich daraus Nationalstaaten. Von Transfernationalismus wird hier gesprochen, da sich die Grundgedanken des Nationalismus aus der westlichen Vorstellung auf die östliche Welt übertragen haben (vgl. Wehler 2001, 53).

Wehlers Ansatz betrachtet den Nationalismus vor allem anhand der äußeren Rahmenbedingungen. Diese Rahmenbedingungen beschreiben historische Beispiele und zeigen, welche Ausmaße der Nationalismus annehmen kann. Daher wird hier die Definition um das inklusive und exklusive Prinzip hinter dem Konstrukt Nationalismus ergänzt. Zunächst gehört dazu, dass die einzelnen Nationen nur bestehen können, weil es eine Abgrenzung zu anderen Nationen gibt.

Das Konstrukt des „Nationalismus“ beruft sich auf die „Community“ (De Cleen 2017, 344), die in zwei Aspekten darzustellen ist. Einerseits kann „Community“(ebd.) meinen, dass die Mitglieder sich mit der Nation verbunden fühlen. Andererseits drückt „Community“ aus, dass diese zu der Nation gehört und sozusagen Voraussetzung für die Bildung einer Nation ist. In diesem zweiten Aspekt fehlt die Option, sich zugehörig fühlen zu dürfen. Der Schwerpunkt liegt auf der Exklusion, wenn es um Nationalismus geht.

Die populistische Rhetorik erhält einen nationalistischen Anstrich, wenn es darum geht, wer dazu gehört und wer nicht. Sie werden häufig als die „einfachen Leute“ oder auch „der kleine Mann“ bezeichnet, die der Nation angehören. Migranten und deren Nachkommen, die in vielen Fällen kaum vom Rest der Bevölkerung zu unterscheiden sind, zählen aber dennoch nicht dazu, da sie von Nationalisten nicht als Teil der „Community“ gewertet werden (Vgl. De Cleen, 2017, 349).

Wieland befasst sich mit den Ursachen und Bedingungen, die den Nationalismus begünstigen. Dabei formuliert er zwei Thesen. Erstens, Nationalismus entsteht aufgrund der Modernisierung. Zweitens ist die mangelnde Modernisierung und die daraus resultierende Rückständigkeit verantwortlich für das Entstehen des Nationalismus. In dieser These ist der Ansatz der Deprivation enthalten. In der Rechtsextremismus-Forschung gibt es die Theorie, dass Menschen aufgrund ihrer eigenen Frustration, die durch äußerliche Faktoren hervorgerufen wurde, andere Gruppen herabsetzen. (vgl. ebd.).

Überträgt man diesen Ansatz auf Indien, kann folgendes Bild sichtbar gemacht werden. Die koloniale Besetzung brachte den westlichen Modernisierungsprozess in Gang, gleichzeitig wurde aber die Rückständigkeit in Teilen der Bevölkerung und in weniger urbanen Gegenden mit und nach der Unabhängigkeit größer und die Wahrscheinlichkeit für Ausbeutung ebenfalls verstärkt (vgl. Wieland 2000, 68). Daraus kann dann geschlossen werden, dass Minderheiten in den Fokus geraten, die dann abgewertet werden.

An dieser Stelle greift die populistische Rhetorik, die die entstandene Frustration nutzt und in ihre Strategie einbaut. Diese Strategie ist nach de Cleen als eine Sammlung von Ideen zu verstehen, die ebenso bei politischen Gruppierungen vorkommt, die vorher nicht populistisch waren (vgl. De Cleen 2017, 345). Populisten beanspruchen dabei einen Alleinvertretungsanspruch, das bedeutet, nur sie vertreten das Volk (vgl. Müller, 2016, 129). Da Populisten den Anspruch haben, allein "das Volk" zu repräsentieren, ist eine Opposition, sollten sie in der Regierung sein, nicht vorgesehen.

In Indien ist die Opposition nicht sonderlich gefährdet. Viel mehr sind es Kandidaten der Regierung wie auch der Opposition, die oft eine kriminelle Vergangenheit mitbringen. Dies ist nicht zufällig der Fall, sondern viel mehr geht es darum, dass diese finanziell gut aufgestellt sind und die Möglichkeiten haben, ihre Ziele durchzusetzen. Daneben spielt auch die Korruption eine große Rolle, insbesondere bei der Polizei, die durch den extremen politischen Einfluss auch untätig bleibt (vgl. Betz 2017, 31 und 36). Der Populismus fokussiert sich vor allem auf „das Volk“ und „die Elite“. Hierbei ist wichtig, dass diese beiden Kategorien als Hauptmerkmal des Populismus gesehen werden, sowohl von De Cleen als auch von Müller (vgl. De Cleen 2017, 345; Müller 2016 129).

Jaffrelot und Tillin sehen in Indien am Beispiel des Bundestaates Tamil Nadu zwei weitere Arten des Populismus. Die erste Art ist der „Empowerment Populism“ (Jaffrelot, Tillin 2017,190). Diese Form des Populismus spricht vor allem die Mittelklasse Indiens an, die von der Kongress-Partei außer Acht gelassen werden und sich abgehängt fühlen. Die zweite Art ist der „Protection Populism" oder „Paternalistic Populism“ (Jaffrelot, Tillin 2017, 190). Dieser Populismus, der sich den Armen zuwendet und den Menschen, die keinen Zugang zu Bildung haben. In dieser Form des Populismus nehmen tamilische Eliten die Rolle als Beschützer der Armen an und formieren sich im Gegensatz zur Koalition der „Dravida Munetra Kazhagam“ (zu dt. Drawidische Fortschrittspartei), die sich aus sozialen Koalitionen herausbildete.

Zusammengefasst kann an dieser Stelle gesagt werden, dass Indien vor allem durch seine sozialen Probleme Populisten Möglichkeiten bietet, sich zu etablieren. Nationalismus grenzt sich hierbei vor allem als Ideologie ab, während der Populismus sich als Strategie verhält, die sich an nationalistischer Ideologie bedient. Dennoch hat es in Indien mehrere Formen des Populismus gegeben, diese werden im Folgenden dargestellt. Anschließend folgt eine historische Beleuchtung der Konfliktlinie zwischen Hindus und Muslimen.

Populismus in Indien - Von Indira Gandhi bis Narendra Modi

Der Aufstieg von Populisten in die Regierungen auf der ganzen Welt ist nicht zu verleugnen. Von osteuropäischen Populisten wie Orban und Erdogan, aber auch Trump in den USA, hat die politische Strategie des Populismus auch vor Asien nicht Halt gemacht. Indien als das zweitbevölkerungsreichste Land der Erde hat seit 2014 mit Narendra Modi einen Präsidenten, der immer wieder in der Kritik steht, Minderheiten zu vernachlässigen, und populistische Züge zeigt.

Der Populismus in Indien ist nicht nur ein Phänomen des heutigen Indiens. Seit der Unabhängigkeit gab es immer wieder Regierungen, die populistische Merkmale aufwiesen. Zunächst einmal braucht man eine kurze Definition des Populismus. Eine geläufige Begriffsdefinition von Jan-Werner Müller spricht die anti-elitäre und anti-pluralistische Haltung der Populisten an (vgl. Müller, 2016). Diesem Ansatz stimmen auch Plagemann und Ufen in Bezug auf den indischen Populismus zu, der auch bei Premier Modi unverkennbar ist (vgl. Plagemann, Ufen 2017). Sein Anspruch ist, dass er als Mann aus dem Volk und Sohn eines Teeverkäufers weiß, worauf es ankommt, und er Korruption und die Eliten aufhalten kann mit seiner neuen Macht. Andererseits beruht Müllers Idee auf der des „Volkes“ und dies ist eher ein europäisches Phänomen und in Asien weniger bekannt (vgl. ebd.).

Der Begriff des Populismus findet in Indien vor allem dann Platz, wenn es um die unverantwortliche Verteilung des Staatshaushaltes an die große Vielfalt der Bevölkerungsgruppen geht und den damit einhergehenden sozialen Schichten. Auch in Indien setzt man auf direkten personalisierten Kontakt und knüpft an Tradition und Kultur, um seine Macht durchzusetzen (vgl. Jaffrelot und Tillin, 2017,179).

Jaffrelot und Tillin beschreiben drei große Stränge des Populismus in Indien und teilen diese ein in unterschiedliche Kategorien (Jaffrelot, Tillin 2017, 181). Der erste Strang geht von 1960-1970. Zu dieser Zeit war Indira Gandhi an der Macht, die sich vor allem den Armen zuwendete und sich dabei über die „traditionellen Bosse“ ( Jaffrelot, Tillin,2017 ) hinwegsetzte, um die Wahlen innerhalb der Kongress-Partei zu gewinnen (vgl. ebd., 181) Indira Gandhi, die bis auf eine kurze Unterbrechung von 1966 bis zu ihrer Ermordung 1984 das Land regierte, umgab sich selbst mit einem kleinen Kreis von Vertrauten und traf nahezu alle Entscheidungen mithilfe dieser wenigen Vertrauten. Modis Regierung wird eine ähnliche Vorgangsweise unterstellt (vgl. Harriss, 2015, 712).

Während der kurzen Unterbrechung von Indira Gandhis Präsidentschaft tauchte Charan Singh auf, der eine komplette Umorientierung von Indiens Prioritäten sah und sich von der urbanen Industrieentwicklung hin zur Agrarkultur orientierte. Dazu forderte er in seiner direkten Rhetorik, dass die Söhne von Landwirten in der Politik mitwirken sollten, denn nur sie könnten verstehen, was landwirtschaftliche Arbeit bedeute (vgl. Jaffrelot, Tillin 2017, 182).

Aber ob Singh tatsächlich an den einfachen Leuten aus der Landwirtschaft interessiert war, wurde immer wieder infragegestellt. Es heißt, die Unterstützung hätten vor allem die reichen Landwirte erhalten. Denn die inneren Konflikte innerhalb der Bauern, zwischen den sogenannten „Landlords“ ( Jaffrelot, Tillin 2017) und den Kleinbauern, die massiver Ausbeutung ausgesetzt waren und bis heute sind, ignorierte er gekonnt und versuchte schließlich eine Art gemeinsame Identität zu formen und dabei die Kasten zu subsumieren (Vgl Jaffrelot, Tillin 2017; Sharma,2014).

Seine politische Strategie machte sich eine „Wir-Identität“ zunutze. Die gesellschaftliche Repräsentation durch seine Gegenspielerin Indira Gandhi zweifelte er an und nutzte die Kolonialisierung Indiens, um seine politischen Gegner mit den Kolonialherren gleichzusetzen und sie zu Verrätern gegenüber den Indern zu erklären (Vgl. Jaffrelot, Tillin,2017). Diese Demoralisierung der politischen Gegner ist ebenfalls eine beliebte Strategie der Populisten, dazu gehört in der Folge der populistischen Strategie auch das Festhalten an Legenden und Verschwörungstheorien.

Der zweite Strang ist die Form des Populismus in Form des Hindunationalismus. Jaffrelot und Tillin zählen den Hindunationalismus als Populismus. Dieser hat zum Charakteristikum die Zuordnung zur hinduistischen Religion. Diese Form des Populismus bildet den Schwerpunkt des Beitrages. Daher werden hier nur einleitende Worte gewählt. Wenn es um den Hindunationalismus geht, so sollte die aktuelle indische Regierung nicht unerwähnt bleiben.

2014 gewinnt Narendra Modi an der Spitze der Partei BJP (Bharatiya Janata Party) und ihrem Verbündeten der National die Landeswahlen und wird damit zum Hoffnungsträger vieler Menschen (Vgl. Wagner, 2014). Der einfache Mann, dessen Eltern Teeverkäufer waren, ist nun Premierminister des Landes. Modis Vergangenheit und seine Rolle als Chief Minister im Bundesstaat Gujarat haben ihm keinen Nachteil eingebracht (Vgl. Jaffrelot, Tifflin, 2017). Modi, dessen Devise in die Worte: „Wachstum, Arbeit, Inflations (bekämpfung“) zusammengefasst werden kann, hat damit die Wähler erreicht, die sich sonst nicht gehört fühlten. (Wagner, 2014) Dass dabei die sozialen Aspekte in den Hintergrund geraten, scheint in Modis Programm keine Rolle zu spielen. Sein persönliches Auftreten, aber auch die Unterstützung durch die RSS und deren Erfahrungen in bereits vorhandenen organisatorische Strukturen vervollständigen seinen Erfolg.

In einem dritten Strang wird Populismus als regionales Phänomen wahrgenommen Diese Untersuchungen richten ihren Blick auf die Bundesstaaten Tamil Nadu und Andra Pradesh. Diese Form des Populismus ist insofern besonders, als sich hier Populismus und Popkultur verbinden. Schauspieler, die zu Politikern werden und sich dann als regionale Identitäten gegen die Verbündeten aus dem Kongress wehren. Sie sprechen den „kleinen Mann“ an, der von den Eliten betrogen wird. Die reichen Schauspieler hingegen sind spendabel und ihre Beliebtheit ist besonders unter den Ärmsten am größten. Es ist die Kombination aus einer Art Fankult und Politik (Vgl. Jaffrelot, Tillin 2017,188).

Meilensteine der Vergangenheit - vom Mogulreich über die Unabhängigkeit bis ins 21. Jahrhundert

Die Geschichte des Landes trägt ihre Erklärungen dazu bei, wenn es um die hindunationalistischen Bewegungen und deren Radikalisierung geht. Dieser Teil des Beitrags soll vor allem die Konflikte zwischen Hindus und Muslimen aufzeigen. In diesem Kontext kann der historische Einfluss im späteren Mittelalter mit der Mogulherrschaft beginnen. Im 8. Jahrhundert eroberten muslimische Herrscher, sogenannte „Mogulen“ (Lehmann, 2014, 20) große Teile des Nordens. In den späteren Jahrhunderten wurden diese Teile muslimisch geprägt regiert. Nur im Süden gab es hinduistische Könige (Vgl. ebd.). Bis heute argumentieren Hindunationalisten damit, dass diese muslimische „Fremdherrschaft“( Eckert, 2002) aus dem Mittelalter bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts eine akute Bedrohung sei und die Hindus sich davor schützen müssen (Vgl.Eckert,2002).

Während der Kolonialzeit waren die Briten für die Hindus zunächst einmal Befreier aus der Herrschaft der Mogulen. Auf der anderen Seite war die Macht der Mogulen nicht mehr sicher. Diese Verschiebungen und später auch das Sympathisieren mancher Mitglieder beider Religionsgemeinschaften mit den Briten sorgte immer wieder für Unruhen (Vgl. Delfs, 2008, 38).

Mit der Unabhängigkeit Indiens brach nicht nur das Ende der kolonialen Herrschaft an, ebenso stand man vor der Aufgabe, das Land mit neuen Grenzen zu versehen. Eine Folge ist die Entstehung des Landes Pakistan, dass aus Forderungen der muslimischen Bevölkerung entstand, die sich einen eigenen Staat wünschten, da sie nach ihrer Sicht mit Gandhis eher hinduistisch geprägten Unabhängigkeitsbewegung nicht einverstanden waren (Vgl. Juergensmeyer, 2017 S.176).

Gandhi, der die Teilung des Landes unbedingt vermeiden wollte, protestierte hier vergebens. Das Land wurde geteilt und einige Hindunationalisten fühlten sich durch Gandhis Proteste ebenfalls verraten und so wurde Gandhi im Jahr 1948 durch ein Mitglied der RSS ermordet (Vgl. ebd.). Die Teilung Indiens war nicht der erste Konflikt zwischen Hindus und Muslimen. Delfs spricht von drei großen Wellen der Unruhe.

Die erste ist das Scheitern der „Khilfatkampagne“ (Delfs, 2008,14) von 1923- 27 gegen die Kolonialherrschaft der Briten. Hierbei versuchten Muslime und Hindus gemeinsam gegen die britische Kolonialherrschaft vorgehen. Dies endete jedoch in Unruhen und Streitigkeiten untereinander. Die zweite Welle ist die bereits genannte Teilung Indiens im Zuge der Unabhängigkeit, bei der eine Millionen Menschen starben. Als dritte Welle ist die der Ayodhya Bewegung zwischen 1989- 1993 erkennbar.

Die Unruhen, die die zentrale Regierung im Land zeitweilig fast außer Gefecht setzten, entstanden, als am 6. Dezember 1992 nationale Hindus die Babri Moschee stürmten, um sie vollständig zu zerstören. Die Begründung lautete, dass nach dem religiösen Hinduismus die Gottheit Ram in Ayodhya geboren sei und man daher dort einen Tempel bauen müsse und das genau an der Stelle, wo die Moschee stand. Die zu den Zeiten der Mogulherrschaft gebaute Moschee, ist für Hindunationalisten ein Zeichen der bereits erwähnten Fremdherrschaft (Vgl. Schied, 1993). Auch mehr als 25 Jahre danach ist aktuell noch immer keine große Veränderung in Sicht, beide Parteien kämpfen vor Gericht um Ayodhya. Erschwert wird dies durch Ansprüche von buddhistischen Gruppierungen, die ebenfalls ein religiöses Heiligtum in Ayodhya vermuten.

Der letzte große Konflikt mit vielen Toten brach im Jahre 2002 im Bundesstaat Gujarat aus, als ein Zug mit sogenannten „Freiwilligen“ der VHP ( Vishwa Hindu Parishad zu dt. Welthindurat) bei einem Feuer im Zug umkamen (Vgl. Eckert, 2002). Ob das Feuer von außen gelegt wurde oder von einem „muslimischen Mob“, wie Delfs schreibt, ist ein Streitpunkt, der nicht mehr nachweisbar ist (Delfs, 2008 S.13). Eindeutig ist man sich in der Literatur darüber, dass die danach stattfindenden fast zweimonatigen Auseinandersetzungen, bei denen radikale Hindus viele muslimische Mitbürger/-innen grausam ermordeten und vergewaltigten ohne Konsequenzen für die Hindunationalisten blieben (Vgl.ebd.; Howard,2016).

Dieses radikale Vorgehen ohne polizeiliches Eingreifen und auch die Stille der Politik in Gujarats Regierung lässt die Interpretation zu, dass die gezielte Gewalt nicht unerwünscht und vermutlich sogar befürwortet wurde. Ein Vorfall, der sich in diesem Jahr ereignete, lässt Modis Regierung um die BJP wieder in sehr schlechtem Licht erscheinen. Die achtjährige Asifa wird vergewaltigt und ermordet. Indiens Rate bei Sexualverbrechen liegt hoch und in den letzten Jahren sorgen vor allem soziale Medien dafür, dass die Vergehen weltweit bekannt werden.

Dieser Fall führt nicht nur durch seine Grausamkeit zu landesweiten Protesten, die seit der Vergewaltigung einer jungen Frau im Jahr 2013 immer wieder zu sehen sind, sondern wird zum Politikum, als klar wird, dass Asifa Muslimin ist und ihre Peiniger Hindus und Hindunationale sich mit den Tätern solidarisieren. An Protesten nehmen auch zwei Abgeordnete der BJP teil und Modi äußert sich erst zum Ende der Woche (Vgl. ebd.). Hieran wird deutlich, wie soziale Probleme in religiöse Kontexte gesetzt werden und sich dann entladen. Die Feindschaft zwischen Hindus und Muslimen wird von beiden Seiten gekonnt verwendet, um eine starke Einigung nach innen zu erzielen (Vgl. Eckert, 2002).

Die Ideologie und die Organisation der Hindunationalisten 

"Hindutva" und Vinayak Damodar Savarkar 

Die Organisationen orientieren sich an der Ideologie „Hindutva“. Daher ist es wichtig diese Ideologie zu beleuchten und ihre Ansätze zu verstehen, bevor die Organisationen näher beschrieben werden. Die „Hindutva“ ist die grundlegende Ideologie, die tief die Ablehnung von Minderheiten wie Christen und Muslime beeinhaltet und die Lebensweise der Menschen bestimmt. Der Begriff der Hindutva taucht erstmals bei Vinayak Damodar Savarkar in seinem Buch: „Hindutva. Who is a Hindu?“ aus dem Jahr 1923 auf. Dieser spricht, wenn es um den Begriff Hindutva geht nicht nur über die Religion. Vielmehr sei es die Gesamtheit der Hindus und ihres Landes (Six 2001,54).

Delfs fügt dem hinzu, dass alles was auf dem indischen Subkontinent seinen Ursprung hat ebenso zur Hindutva gehört. Das Prinzip konstruiert eine Hindukultur, die die geographische Lage, ein dazugehöriges Vaterland, eine gemeinsame“ rassische“ Abstimmung mit dem Hinduismus als Religion, dem dazugehörigen Heiligen Land und zu guter Letzt die Sprachen Hindi und Sanskrit in sich vereint (Vgl. Delfs 2008, 32). Savarkars Ideologie war ursprünglich der Befreiung aus der britischen Kolonialherrschaft zugedacht. Hinzu kommt auch seine anti-islamische Haltung, die er im weiteren Lauf entwickelte, da er Muslime für zwangskonvertierte Hindus hielt und sie erlösen wollte (Vgl. Schied 1993, 38). Hier lässt sich die eingangs genannte Charakteristika des Extremismus erkennen (Vgl. Müller, 2016).

Savarkar definierte hierzu drei Faktoren, wie die Angehörigen der Hindunation in der Ursprungsform zu sehen seien. „ A Hindu is primarily a citizen either in himself or through his forefather of Hindustan and claims then land as his motherland“( Six 2001,55). Er schloss dieses Kriterium jedoch auf der kulturellen Ebene wieder aus beziehungsweise schränkte es ein, indem er nur aus dem Sanskrit abgeleitete Dinge als kulturelles Gut bezeichnete und diese sollten zudem aus der Zeit stammen, indem Sanskrit als Sprache gesprochen wurde (Vgl. Six 2001,55). Die Religionszugehörigkeit als Kriterium, betreibt somit eine aktive Ausgrenzung und reicht bei den Hindunationalisten bis weit in die Vergangenheit.

Dabei berufen sie sich auf die Geschichte des indo-germanischen Stammes der „Arier“. Diese kamen aus Zentralasien und waren dann nach Nordindien eingewandert während ein anderer Teil nach Europa auswanderte. Diese „Arier“ hatten dann die Hochkultur Indus zerschlagen und im Anschluss die herrschende Bevölkerung erschaffen, die sich als Elite sah. Diese Verwendung zeigt deutlich die Mittel, derer sich die Nationalisten zu Nutze machen. In diesem Fall wird auf eine weitreichende Geschichte zurückgegriffen, um die Glaubwürdigkeit zu steigern (Vgl. Wieland 2000,133). 

Der Hinduismus im Hindunationalismus

Bislang wurde der Hindunationalismus vor allem aus politischer und historischer Sicht beleuchtet. Dazu wurden die Begriffe Nationalismus und Populismus erfasst und versucht diese Begriffe voneinander zu trennen. In diesem Teil wird ein Blick auf die religiösen Bedingungen gegeben. Der Zensus von 2011 zeigt, dass die Mehrheit der Menschen im Land hinduistischen Glaubens ist. Diese klare Mehrheit ist wie erwähnt eine der Hauptargumente für das Vorgehen von radikalen Hindus.

Hindunationalisten argumentieren oft, dass der Hinduismus keine Religion sei, sondern viel mehr eine Lebensweise, dadurch lassen sich andere Formen gut integrieren und somit repräsentieren sie alle Bürger Indiens. Gleichzeitig wird der Bürger durch seine Religionszugehörigkeit, als Bürger bestimmt. Das bedeutet, dass Sikhs, Buddhisten und Jains zu Indiens Bevölkerung zählen, weil sie heilige Stätten auf indischem Grund haben. Hingegen werden Christen und Muslime nach dieser Denkart ausgeschlossen (Vgl. Eckert 2002).

Das Problem, das der Hinduismus vieles bedeuten kann, sieht auch Juergensmeyer in seinen Ausführungen. Mit Hinduismus können die religiösen Glaubenssätze und Praktiken als akzeptierter Ritus gemeint sein, oder die kulturelle Einheit Indiens in seiner traditionellen Form. Dies galt vor allem zu Zeiten vor der Unabhängigkeit, als es noch keine Unterscheidung zwischen der Religion und dem gesellschaftlichen Regelwerk gab. Etymologisch gesehen sind die Wörter Indien und Hindu ebenfalls verwandt. (Vgl. Juergensmeyer 2009,173). Diese Ungenauigkeit in der Begrifflichkeit lässt den Hindunationalisten daher viel Raum für unterschiedliche Erklärungen.

Ein weiterer Argumentationsstrang betrifft Muslime, die als Feindbild gesehen werden. Die Hindus müssen sich gegen Muslime verteidigen, da der Hinduismus mit seinem Wesen der Toleranz sich gegenüber dem Islam nicht behaupten kann. Der Islam wird in der hindunationalen Sichtweise als missionierende und stark gewaltbereite Religion gesehen. Dies sei gefährlich und auch wenn man Gewalt ablehnt, soll der Hindunationalismus die Möglichkeit und das Recht auf „Notwehr“ behalten können. (Vgl. Eckert 2002) Diese Art der Argumentation erinnert an den europäischen Geert Wilders, der in den Niederlanden liberale Ansichten mit Kritik am Islam verbindet (Vgl. Vossen 2015, 53).

Neben diesen Argumenten gibt es nach Zúquete zwei Dimensionen zwischen Populismus und Religion. Dies ist erstens Religion als offene Dimension; hier bedeutet Religion, dass die Populisten sich als alleinige Repräsentanten der Religion und Gottes sehen. Die zweite Dimension stellt die gegenteilige Sichtweise zur ersten Dimension dar. Diese sieht Religion als Rahmenbedingung und gleichzeitig als Voraussetzung für den Populismus. In diesem Fall tritt die Religion als Lösung für alle politischen Probleme auf und die gegnerische Politik, kann nur mithilfe der Religion bestritten werden (Vgl. Zúquete 2017,445,446).

Diese Argumentation verknüpft Müller in seinen Ausführungen auch mit Extremismus und Terrorismus, da Terroristen im Gegensatz zu Populisten häufig eine Art Erlöser spielen und die eigene Gesellschaft mit allen Mitteln befreien wollen (Vgl. Müller 2016, 27). Im Hindunationalismus ist eher die zweite Dimension sichtbar. Die Lösung aller politischen Probleme im Rahmen einer hinduistischen Kultur ist sichtbar in der Organisationsstruktur, die vielfältig aufgebaut ist. Es gibt mehrere Vereinigungen und nichts ist dem Zufall überlassen, sowohl in ideologischer als auch in struktureller Sicht.

All diese Gruppierungen vorzustellen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Daher werden im Folgenden die hindunationale Organisation RSS und die lokale Organisation Shiv Sena vorgestellt und ihre Arbeitsweisen erläutert. Somit wird ein Überblick in die landesweite als auch in die regionale Arbeit der Hindunationalisten gewährt. 

Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) 

Auf die ideologische Basis der Hindutva berufen sich heute noch viele Mitglieder. Keshav Baliram Hedgewar nutzte bei der Gründung der RSS im Jahr 1925 in den Bundesstaaten Maharshtra und Madya Pradesh einen zusätzlichen Ansatz. Das Auffällige an Hedgewar ist, dass er keinen religiösen Zugang wählte, sondern sich an einem politisch-historischen Kult um den Anführer Shivajii Maharaj richtete. Dieser galt als Anführer der Marathen im 18. Jahrhundert, die sich gegen das Mogulreich behaupten konnten und später auch gegen die Anfänge der britischen Kolonie.

In der RSS-Ideologie findet Shivajii nicht als Anführer seinen Weg, sondern als erfolgreicher Wegebereiter des Hinduismus in Indien nach dem Mogulreich. Daher gilt er als Gegenspieler des muslimischen Anführers Aurangzeb, der das Mogulreich führte (Vgl. Six 2000,52; Juergensmeyer 2009, 176). Die RSS war keineswegs die Gründung verarmter Menschen. Sie hat eine bestimmte Klientel, die sich im Kastensystem gesehen, den Bramahnen, also der obersten Schicht zuordnen lassen.

Zudem waren es Kongress-Abgeordnete, die zu dieser Zeit mit der Bewegung Gandhis nicht einverstanden waren. Sie sahen darin keine gewinnbringende Führung und Hedgewar vertrat dies mit dem Argument, dass die Bewegung Gandhis auf Jugendliche keine Anziehungskraft habe. Savarkar, dessen Ideologie sich im Laufe der Zeit durchsetzte, sorgte seinerzeit für eine Debatte mit Gandhi, der die Gewalt in Savarkars Ideologie ablehnte. Hedgewar hielt die Gewaltbereitschaft in Savarkars Ideologie für richtig und wichtig, denn nach seinen Vorstellungen, konnte man die Hindus nur einen, indem man sich den gleichen Methoden und Handlungen hingab, die die Briten und Muslime so erfolgreich gemacht hatten. (Vgl. Six,2001 55)

Daher rief der RSS alle Hindus auf „die Unterschiede auszumerzen“ (Juergensmeyer 2009,177) Sie schlossen sich Nehrus und Gandhis Bewegung an, folgten ihm jedoch nicht lange, da dieser einen säkularen Staat förderte. Indiens Säkularismus ist in der Verfassung in den Artikeln 27 und 28 festgeschrieben. Zudem sieht die gesetzliche Grundlage im modernen Indien die Religionsfreiheit in Artikel 25 und den Minderheitenschutz in Artikel 29 und 30. (Vgl. Eckert, 2002) Gandhis Vorstellung von Säkularismus war, die Gleichberechtigung aller Religionen.

An dieser Stelle setzen die Schwierigkeiten an, denn trotz der gesetzlichen Grundlage fühlen sich sowohl Hindus als auch Muslime benachteiligt. Dies sieht in den Standpunkten folgendermaßen aus: Die Hindunationalisten sehen ein zu großes Entgegenkommen gegenüber den Minderheiten und daraus eine Benachteiligung für die Mehrheit der Hindus im Land. Auf der anderen Seite fühlen sich die Minderheiten durch die Mehrheit ausgegrenzt und benachteiligt, da mehr Gesetze auftauchen, die sie einschränken. Beispielsweise verbieten einige Bundesstaaten den Verkauf von Rindfleisch, da die Rinder im Hinduismus heilig sind. Diese Einschränkungen werden seit dem Erstarken der BJP und dem Beginn der Amtszeit von Modi wieder mehr. (Vgl. Juergensmeyer 2009,178)

Die RSS gliedert sich in viele unterschiedliche Unterorganisationen auf und ist vor allem bekannt für ihre Struktur und die Ordnung. Narendra Modis Erfolg wird der RSS in großen Teilen zugeschrieben, da diese viele seiner Wahlkampfauftritte organisierten und beispielsweise auch Wahlkampf organisierten, wie man ihn bisher nur aus den USA kennt. Diese Art der Unterstützung zeigt, inwiefern sich die RSS der BJP als politisch verlängerter Arm bedient.

Juergensmeyer betont, dass das Netzwerk bestehend aus „mehreren Tausend Pracharaks, geschulten unverheirateten Vollzeitaktivisten“ (Juergensmeyer 2009,180) der Partei zur Verfügung stand. Bei seinem Amtsantritt zeigte Modi deutlich, zu wem er sich, was den Glauben betrifft, bekennt. Er bleibt traditionellen hinduistischen Ritualen treu und besucht vorwiegend Tempel,wenn er sich im Ausland aufhält, um auch in der indischen Diaspora-Bevölkerung seinen Standpunkt deutlich zu machen (Vgl. Jaffrelot, Tillin 2018, 188) Die Ideolgie der RSS beruft sich auf ein „goldenes Zeitalter“ in der Geschichte. Die Gegenwart steht ihr gegenüber, die als zerfallen gewertet wird, und dieser Zustand sei den Muslimen geschuldet, aber auch der Globalisierung. 

Die Shiv Sena in Maharashtra

Die Shiv Sena ist eine hindunationalistische Bewegung und lässt sich im Bundesstaat Maharashtra nahe Mumbai verorten. Gegründet wurde sie 1966. Shiv Sena gilt als radikal und ist weit im extremen Bereich angesiedelt. In der Gruppierung setzt man auf eine familiäre Struktur nach dem traditionellen und konservativen Verständnis, dass der Mann in einer Familie die Entscheidungen trifft. Die Hierarchie spielt eine wichtige Rolle; bei sämtlichen Begrüßungen und Veranstaltungen wird akribisch Wert gelegt auf Rituale und diese werden mit großer Sorgfalt eingehalten (Eckert 2004,51,53).

Ihr Anführer Bal Thackeray und mittlerweile sein Sohn sind vor allem durch charismatische Reden bekannt. Shiv Sena veranstaltet Feste und übernimmt die Kosten hierfür und gehört damit in seiner aktiven Gegend zum festen Bestandteil der Menschen. Die urbanen Traditionen und Praktiken bleiben ihrer Erscheinungsform gleich, doch die Werte und die kulturelle Prägung dahinter werden umgewandelt. Das bedeutet sie werden mit nationalem und regionalem Patriotismus neu besetzt (Vgl. Eckert 2004,52)

Während die RSS ihre Gewaltbereitschaft immer wieder schleierhaft zurückhält, macht Shiv Sena kein Geheimnis aus ihrer Befürwortung zur Gewalt. Der Gründer Bal Thackeray sieht in Gewalt ein legitimes Mittel, um Ziele zu erreichen. Die BJP und auch der RSS sehen in Shiv Sena eine Bewegung der unteren Schichten und Verbindungen gab es in weiter Vergangenheit.

Thackeray veröffentliche 1991 ein Manifest, dass nach Six das „radikalste und gewaltgeladenste Manifest, das je in Indien veröffentlicht wurde.“ Denn in diesem sieht Thackeray in Gandhis Mörder einen Helden, der die Nation gerettet und zudem Muslime stark diskrediert. (Vgl. Six 2001,69) Die Strukturen bei Shiv Sena sind, auch wenn nach außen hin viele Regeln proklamiert werden, intern nicht groß geregelt. Der Aufstieg innerhalb kann nicht durch Fleiß erreicht werden, sondern durch das Privileg von Thackeray entdeckt zu werden.

Doch wodurch legitimiert sich Thackeray? Auf der einen Seite ist die Macht legitimiert durch seine Anhänger und auf der anderen Seite steht ihm diese Macht zu, da er sich selbstlos und durch sein Charisma diese Art der Gefolgschaft verdient hat (Eckert 2004,56). Eckert hält fest, dass die parteiinterne Zukunft durch die diktatorischen Strukturen weiterlebt. Diese Diktatur wird von den Mitgliedern aus zwei Gründen als legitim angesehen. Erstens seien die Minister der Shiv Sena nicht so korrupt und die antidemokratischen Strukturen verhindern Korruption.

Die Entscheidungsrichtlinien sind klar vorgegeben nach denen gehandelt wird. Die Zweifel und die negativen Bilder gegenüber der Demokratie, daher kann es nach Shiv Sena nur noch die Möglichkeit, der einer Diktatur geben, die alles rettet. (Vgl. Eckert, 2004, 64, 65) In den regionalen Wahlen 2017 im Bundesstaat Maharashtra konnte die Shiv Sena sich gegen die BJP nicht durchsetzen. Die starke Radikalisierung machte sich somit im vergangenen Wahlergebnis sichtbar.

Zusammenfassung

In Indien finden sich unterschiedliche populistische Regierungsformen. Diese Bewegungen und Regierungen sind seit den 1960er Jahren aktiv. Mit Indira Gandhi, die über einen sehr personalisierten Stil ihre Gegner demoralisierte und letztendlich selbst dadurch in den Fokus geriet, über Charan Singh, der als Populist sich dem landwirtschaftlichen Sektor zuwendete, bis hin zu lokalen Beispielen wie der Shiv Sena im Bundesstaat Maharashtra und der Kombination aus Popkultur und Populismus in Tamil Nadu.

Der Hindunationalismus stellt in Indien eine extreme politische Form dar, dessen Ursprung weit in der Vergangenheit liegt. Dabei bedient sich der Hindunationalismus an dem Konzept des Nationalismus nach westlichem Konzept und fokussiert sich zusätzlich auf religiöse Interpretationen. Die Legitimierung der Hindunationalisten findet sich sowohl in der Geschichte Indiens als auch in der Religion. Hinzu kommen gesellschaftliche und soziale Probleme wie Korruption, Eliten und Minderheiten, die nicht über die Mittel verfügen, sich durchzusetzen.

Gemeinsam hat der Hindunationalismus mit den populistischen Formen, dass beide jeweils einen gemeinsamen Feind haben. Während die Populisten auf die Eliten als Feindbild setzen und sich die Frustration der Menschen zunutzemachen, sehen Hindunationalisten andere religiöse Minderheiten als ihr Feindbild an, aber auch der Fortschritt ist ihnen ein Dorn im Auge.

Als Narendra Modi im Jahr 2014 die Wahl zum Premierminister gewann, hatten viele Menschen große Hoffnungen in ihn gesetzt. Nach fast vier Jahren Amtszeit hat Modi vermehrt mit Kritik zu kämpfen. Denn unter seiner Präsidentschaft ist das Land in seiner Wirtschaft gewachsen, doch die Feindseligkeiten innerhalb der Bevölkerung haben zugenommen.

Einige kritische Stellen sind beispielsweise seine frühere Rolle als Chief Minister in Gujarat, bei der er untätig blieb, als die Gewalt gegen Muslime in Gujarat ausbrach. Ebenso sein verspätetes Statement im Fall der ermordeten Asifa. Narendra Modi hatte in seinem Wahlkampf versprochen, in Indien „zuerst Toiletten und dann Tempel“ (Wagner, 2014) zu bauen. Die Ärmsten hatten ihre Hoffnungen in Aussagen wie diese gelegt.

Modi scheint davon nicht viel wissen zu wollen, viel mehr geht er sämtlichen Problemen aus dem Weg oder findet schnell Schuldige dafür. Diese sind die Schwachen selbst oder Menschen anderer Religionszugehörigkeit. Narendra Modis Herausforderung zum Beginn der Amtszeit gestaltete sich vor allem in der Balance zwischen wirtschaftlichem Wachstum des Landes und seiner Politik, die sich auf hindunationale Strukturen beruft. Diese Waage befindet sich im Ungleichgewicht und neigt sich nach vier Jahren in die hindunationalistische Richtung und scheint dort zu verharren.

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