Sonntag, 5. März 2017

Polen auf dem "rechten" Weg? - Rechtspopulismus in Polen

Es ist noch früh am Morgen, als um 6:05 Uhr am Krakauer Hauptbahnhof der erste Hochgeschwindigkeitszug Polens in die Dunkelheit aufbricht und seine Fahrt nach Warschau beginnt. Mit dieser Fahrt beginnt am 14. Dezember 2014 in Polen ein neues Zeitalter. Von nun an sollen moderne, komfortable und gut ausgestattete Züge die polnischen Großstädte miteinander verbinden. Knotenpunkt ist die polnische Hauptstadt Warschau. Eine moderne Metropole, die wie die vielen anderen Städte einen enormen Wandel seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes im Jahr 1989 vollzogen hat.

Nach der Umgestaltung Polens hin zu einem demokratischen Rechtsstaat, der Etablierung einer marktwirtschaftlichen Wirtschaftsordnung und dem Beitritt zum westlichen Verteidigungsbündnis NATO und der Mitgliedschaft in der Europäischen Union ist auch dieser Aufbau eines Hochgeschwindigkeitsnetzes ein weiterer Schritt in die Zukunft. Er steht beispielhaft für die vielen Veränderungen, die das Land in den vergangenen drei Jahrzehnten durchlebt hat. Polen hat im Vergleich zu anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks seit Beginn der Transformationsphase eine gute wirtschaftliche Entwicklung. Hohe Wachstumsraten und sinkende Arbeitslosigkeit kennzeichnen das Land (vgl. Markowski 2017, S. 4).

Mittlerweile rast Polens neuer Hochgeschwindigkeitszug mindestens einmal täglich von Krakau gen Norden. Mit 200 Sachen vorbei an ländlichen Regionen mit kleinen Dörfern, großen Feldern und Wäldern. Nach rund zwei Stunden ist Warschau erreicht. Jede Menge Menschen, Werbebanner zahlreicher Unternehmen, Geschäfte, Cafés und Hochhäuser mit Glasfassaden, in denen sich das moderne Polen widerspiegelt.

Ein paar Straßen weiter befindet sich das Regierungsviertel. Seit den Parlamentswahlen im Herbst 2015 scheint die nationalkonservative Regierung hier die Zeit zurückzudrehen. Es war eine besondere Wahl. Zum ersten Mal seit 1989 erreicht in Polen eine Partei die absolute Mehrheit im Sejm, der ersten Kammer des polnischen Parlaments. 37,6% der Stimmen fielen auf die nationalkonservative und rechtspopulistische Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS), die seitdem die Regierung stellt (mehr zur Parlamentswahl 2015). Unter Ministerpräsidentin Beata Szydło und Parteiführer Jarosław Kaczyński erlebt Polen einen enormen Rechtsruck. Aber wie lässt sich der Erfolg der PiS erklären, wo Polen doch gerade Fahrt aufnimmt?


Polen – eine gespaltene Nation 

Wahlversprechen wie das Absenken des Renteneintrittsalters, die Anhebung des Mindestlohns und die Einführung des Kindergeldes „500 Plus“, wodurch eine Familie ab dem zweiten Kind rund 120 Euro monatlich pro Kind bekommt, dürften zum Wahlerfolg der PiS beigetragen haben. Ebenso gaben viele Protestwähler der PiS ihre Stimme, weil sie das Vertrauen in die vorherige Regierung, einer Koalition der liberal-konservativen Platforma Obywatelska (PO) und der konservativen Bauernpartei (PSL) verloren haben, die insgesamt acht Jahre lang an der Macht war (vgl. Markowski 2017, S. 5).

Doch gegen die neue Regierung gibt es auch zahlreiche Proteste. Kurz nachdem die PiS-Regierung ihre Arbeit aufgenommen hat, wurde das Entscheidungsverfahren des Verfassungsgerichts geändert. Verfassungsrichter können ihre Entscheidungen von nun an nur noch mit einer Zweidrittelmehrheit treffen anstatt wie zuvor mit einer einfachen Mehrheit, was die Tätigkeit des Verfassungsgerichts erschwert. Wenige Zeit später verabschiedet das Parlament ein neues Mediengesetz, wodurch die öffentlich-rechtlichen Medien stärker unter die Kontrolle der Regierung fallen. Vor allem Anhänger der Oppositionsparteien PO und PSL, Regierungskritiker und Journalisten treibt das auf die Straße. Es bildete sich das Komitee zur Verteidigung der Demokratie (Komitet Obrony Demockracij, KOD) heraus, eine Bürgerbewegung, die versucht, die Kritiker der Regierung zu bündeln (vgl. Fałkowski 2016, S. 2). Polens Gesellschaft ist gespalten in eine linksliberale Mitte und ein nationalistisch-populistisches Lager (vgl. Markowski 2017, S. 5).

Die Dritte Polnische Republik und das Erbe der kommunistischen Ära 

Die PiS und Parteiführer Jarosław Kaczyński haben es geschafft, den Nerv unzufriedener Bürgerinnen und Bürger zu treffen. Mit Erfolg – denn seit den Wahlen vor rund einem Jahr kann die PiS-Regierung ihre Zustimmungswerte auf gleichem Niveau halten (vgl. Krzemiński 2017, S. 4).

Kontinuität war der polnischen Politik bisher eher fremd. Seit der Gründung der Dritten Polnischen Republik 1989 ist die Politik vor allem unbeständig: Regierungskoalitionen zerbrachen häufig, die Parteienlandschaft änderte sich ständig und auch personell herrscht eine große Fluktuation (vgl. Płóciennik 2009, S. 335). So trat im September 2016 der 25. Finanzminister in der 28-jährigen Geschichte der Dritten Polnischen Republik sein Amt an.

Parteineubildungen und -auflösungen führten vor allem in den 1990er-Jahren zu zahlreichen Veränderungen im Parlament, wodurch sich die Fraktionszugehörigkeit der Abgeordneten häufig änderte. Heute sind es meistens Fraktionsausschlüsse bei Korruptionsvorwürfen, die die Zusammensetzung des Sejms verändern.

Verwickeln die Abgeordneten ihre politische Tätigkeit mit Nebengeschäften, so führt das in der Gesellschaft zu Kritik und zur Entfremdung von den politischen Institutionen (vgl. Ziemer 2009, S. 159-160). Das spiegelt sich auch in Umfragewerten wider, wo ein Großteil der staatlichen Institutionen keine hohen Zustimmungswerte bekommt (vgl. Ziemer 2009, S. 186).

Das Misstrauen gegenüber Politikern, denen oft unterstellt wird, nur die eigenen Interessen zu verfolgen, erklärt zum Teil auch, warum die Wahlbeteiligung in Polen sehr gering ist. So liegt die Wahlbeteiligung bei Parlamentswahlen bei etwa 40% bis 60%. Bei personalisierten Wahlen, wie den Präsidentschaftswahlen, fallen die Werte geringfügig höher aus. Bei Kommunalwahlen liegen sie deutlich unter dem Schnitt der Parlamentswahlen (vgl. Ziemer 2009, S. 169-170).

Aus den bisherigen Erkenntnissen lässt sich schließen, dass die Bürgerinnen und Bürger dem Staat und den Politikern skeptisch gegenüberstehen. Seit 1989 ist es in Polen noch nicht ausreichend gelungen, gefestigte (Volks-)Parteien zu etablieren und das Vertrauen der Gesellschaft in die politischen Institutionen zu stärken.

Trotz aller wirtschaftlichen Fortschritte, die Polen erreicht hat, bleibt Polen einer der ärmsten Mitgliedsstaaten der Europäischen Union. Zwar hat sich das Einkommen in Teilen der Bevölkerung verbessert, es ist aber immer noch ungleich verteilt (vgl. Piotrowska 2009, S. 282/285).

Für Populisten liegt die Ursache dieses Problems in der Transformationsphase Anfang der 1990er-Jahre. Es gibt keinen klar definierbaren Punkt oder Tag, an dem das kommunistische Regime abtrat und Polen ein demokratischer Rechtsstaat wurde (vgl. Markowski 2017, S. 9). Nach Verhandlungen am Runden Tisch fanden im Juni 1989 halbfreie Parlamentswahlen statt, bei denen 65% der Sitze im Sejm dem kommunistischen Regime zugesichert wurden, während die restlichen 35% der Sitze frei gewählt wurden.

Der Runde Tisch, an dem unter anderem Vertreter der kommunistischen Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, der oppositionellen Gewerkschaft Solidarność und der katholischen Kirche teilnahmen, hatte sich zum Ziel gesetzt, den Übergang zu einem demokratischen Polen friedlich zu gestalten.

Abgesehen von den Parlamentswahlen 1989 fanden im Oktober 1991 die ersten freien Wahlen statt. Der erste Präsident der Dritten Polnischen Republik, Lech Wałęsa, wurde dagegen bereits Ende 1990 gewählt (vgl. Paczkowski 2009, S. 130/144). Demnach gehörte der Einfluss der alten Machthaber in der Zeit von Juni 1989 bis Oktober 1991 noch immer nicht der Vergangenheit an.

In diesem politischen Übergang, der von zahlreichen wirtschaftspolitischen Veränderungen begleitet wurde, war die (rechtliche) Lage nicht immer eindeutig und transparent, was zu teils dubiosen Geschäften verführt hat, die manchen zu schnellem Reichtum verholfen haben, wie das in anderen Staaten des ehemaligen Ostblocks auch der Fall war. Ein Indiz für Populisten, die dahinter unrühmliche Vereinbarungen zwischen den alten Machthabern und einer neu entstandenen Oligarchie sehen (vgl. Markowski 2017, S. 9).

Erklärungsansätze für den Erfolg der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS)

Jarosław Kaczyński, der Parteierführer der PiS, ist einer, der dieses Framing nutzt, um seine Sicht auf Polen zu erklären. Doch was sind die Ursachen dafür, dass bei den Parlamentswahlen im Oktober 2015 von etwas mehr als 15 Millionen Wählern etwa sieben Millionen eine rechtspopulistische Partei und davon wiederum zirka 5,7 Millionen die nationalkonservative PiS wählten und damit Kaczyńskis Einstellungen unterstützen?

Seit ihrer Gründung im Mai 2001 durch Jarosław Kaczyński und seinen Zwillingsbruder Lech Kaczyński, dem späteren Präsidenten Polens, war die PiS bereits 2005 bis 2007 an der Regierung beteiligt und Jarosław Kaczyński eine Zeitlang Regierungschef. Auch in dieser Zeit sind in der Partei und bei Jarosław Kaczyński populistische Einstellungen zu erkennen. In Reden sprach Kaczyński oft vom einfachen Volk, das den Eliten gegenübersteht, welche er abwechselnd als lumpenliberałowie (Lumpenliberale), łże-elity (Pseudo-Elite), wykształciuchy (Intelligenzler) oder oligarchowie (einflussreiche Unternehmer) diskreditiert (vgl. Vetter 2008, S. 51-52).

Diesen Personengruppen misstraut er, da sie Europa gegenüber wohlgesonnen scheinen. Für Kaczyński dagegen ist die Nation die einzige Gesellschaftsform, die für Polen in Betracht kommt. Das führt unweigerlich zu Skepsis gegenüber Organisationen wie der EU oder der NATO. Aus Kaczyńskis Sicht ging durch den Beitritt Polens zur EU und NATO die Souveränität der polnischen Nation verloren.

Misstrauen herrscht auch gegenüber den Nachbarn Russland und Deutschland (vgl. Vetter 2008, S. 37-38). In großen Teilen der Bevölkerung findet er damit Anklang. Dies hat historische Ursachen. Denn für viele Polen ist die nationale Selbstbestimmung nach den Erfahrungen mit dem nationalsozialistischen Deutschland im Zweiten Weltkrieg und der anschließenden Abhängigkeit von der Sowjetunion von großer Bedeutung (vgl. Friszke 2009, S. 78). Nach jahrzehntelanger Unfreiheit war es eine Errungenschaft, endlich wieder ein unabhängiger Staat zu sein, was nach Meinung von Populisten wenige Jahre später, 1999 mit dem Beitritt zur NATO und der EU-Mitgliedschaft seit 2004, wieder aufgegeben wurde.

Kaczyński und die PiS kreieren immer wieder Feindbilder. So sind internationale Organisationen und das Ausland die äußeren Feinde, die die Souveränität Polens schwächen wollen, und innere Feinde, wie beispielsweise die Liberalen und Pro-Europäer, die Polen von innen heraus schwächen und mit ihrer Kollaboration mit den äußeren Feinden Polen verraten. So wurde der Absturz einer polnischen Regierungsmaschine am 10. April 2010 bei Smolensk, einer russischen Stadt nahe der weißrussischen Grenze, zum Martyrium erhoben (vgl. Fehr 2014, S. 324).

Bei der Katastrophe ist Kaczyńskis Zwillingsbruder Lech Kaczyński, der damalige Präsident Polens, dessen Ehefrau Maria Kaczyńska sowie zahlreiche Abgeordnete, Regierungsmitglieder und andere Vertreter ums Leben gekommen. Nach Untersuchungen ist das Flugzeug beim Landeanflug durch schlechte Sichtbedingungen abgestürzt.

Doch um Smolensk bildeten sich viele Verschwörungstheorien. So beschuldigte der PiS-Politiker Antoni Macierewicz den damaligen Regierungschef Donald Tusk (PO) der Mitschuld an diesem Unglück (vgl. Fehr 2014, S. 327). Der Flugzeugabsturz polarisiert bis heute die polnische Gesellschaft. Seit November 2016 wird ein Großteil der Opfer trotz starker Kritik exhumiert; Jarosław Kaczyński und andere Anhänger der Smolensk-Bewegung glauben immer noch an einen Anschlag von russischer Seite unter Beihilfe polnischer Politiker.

Nach Ansicht Kaczyńskis ist Polen von "der Elite" beherrscht, die die Institutionen für ihre eigenen Zwecke ausnutzt. Er spricht in diesem Zusammenhang abwertend vom układ, was mit System oder Seilschaften übersetzt werden kann. Auf diese Weise zeigen sich bei der PiS anti-elitäre Einstellungen. Das habe auch damit zu tun, dass man nach 1989 zu spät mit der Lustration, also der Überprüfung von Politikern und Staatsbediensteten bezüglich ihrer Rolle zur Zeit der kommunistischen Volksrepublik, begonnen habe (vgl. Vetter 2008, S. 24-26).

Auch bei den wirtschaftspolitischen Entscheidungen zu Beginn der 1990er-Jahre wurden Fehler gemacht, so Kaczyński. Die Einführung der Marktwirtschaft führte zwangsläufig zu zahlreichen Privatisierungen, auch mithilfe ausländischer Unternehmen, was Kaczyński gleichbedeutend mit dem Ausverkauf Polens darstellte.

Auch wenn die Kritik Kaczyńskis an der Aufarbeitung der kommunistischen Ära und den wirtschaftspolitischen Veränderungen während der Transformationsphase übertrieben sei, lasse sich nicht leugnen, dass die Lustration nur unzureichend stattgefunden habe und die Einführung der Marktwirtschaft oft mit dem Verlust von Arbeitsplätzen oder harten Veränderungen für die Bevölkerung verbunden gewesen sei, so die Einschätzung des Journalisten und Publizisten Reinhold Vetter (vgl. Vetter 2008, S. 25-26/ 35). Dennoch hat Polen von den Umgestaltungen profitiert: die Lebenserwartung, der Lebensstandard und das Bildungsniveau sind gestiegen, während beispielsweise die Kindersterblichkeit gesunken ist (vgl. Vetter 2008, S. 31-36).

Diese Schwarzmalerei während des Wahlkampfes führte so weit, dass die PiS behauptete, Polen liege in Trümmern und werde durch Deutschland und Russland beherrscht (vgl. Markowski 2017, S. 5). So sei es ein großer Fehler gewesen, nach 1989 keine Geschichtspolitik betrieben zu haben. Zumindest behauptet Kaczyński, dass keine Geschichtspolitik stattgefunden habe. Diese sei aber dringend nötig, um den Nationalstolz wieder zu fördern (vgl. Vetter 2008, S. 27-28). Oberstes Prinzip sei es, stolz drauf zu sein, ein Pole zu sein, so Kaczyński. Begrifflichkeiten wie „Polentum“ und „Nationale Ehre“ werden immer wieder in diesem Zusammenhang als Framing genutzt (vgl. Fehr 2014, S. 320-321). Dafür bedarf es eines starken Staats und einer Law-and-Order-Politik, um die Missstände in Polen rückgängig zu machen.

Lasse man die bisherige Amtszeit von Beata Szydłos Kabniett Revue passieren, so könne man der PiS vorhalten, Polen zu einer illiberalen Demokratie umzubauen, so die Einschätzung von Radoslaw Markowski, einem polnischen Politikwissenschaftler (vgl. Markowski 2017, S. 7). Illiberale Demokratien scheinen oft handlungsfähiger. Die Politiker sind zwar demokratisch legitimiert, schränken aber Grundrechte wie die Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit ein, die Gewaltenteilung wird de facto aufgehoben und die eigentlich unabhängigen Einrichtungen, wie das Verfassungsgericht, werden in ihrer Autonomie beschränkt, wodurch die Regierung ihre Macht festigen kann.

Gesetze können so schneller verabschiedet werden, ein demokratischer Diskurs oder ein korrektes Gesetzgebungsverfahren finden nicht mehr statt. Dadurch erscheinen Regierungen in illiberalen Demokratien oftmals handlungsfähiger und erfolgreicher, da Wahlversprechen schneller auf den Weg gebracht werden können (vgl. Markowski 2017, S. 7). Schon fünf Monate nach den Parlamentswahlen im Oktober 2015 wurde das Kindergeld „500Plus“ eingeführt, was vielen polnischen Familien spürbar mehr finanziellen Freiraum verschafft; doch Fragen der Finanzierbarkeit solcher Wahlversprechen und ihre gesellschaftlichen Folgen werden öffentlich nicht diskutiert.

Bereits die Idee der Vierten Polnischen Republik, dem Bruch mit der bisherigen Politik seit 1989, die Kaczyński vorschwebte, als die PiS zwischen 2005 und 2007 an der Regierung war, zeigt Ähnlichkeiten mit den aktuellen Entwicklungen. Die Autonomie der lokalen Verwaltungen wurde stark eingeschränkt und die traditionelle Aufteilung der Staatsgewalt in Exekutive, Legislative und Judikative dabei aufgehoben. Die Exekutive wies den anderen Gewalten die Richtung. Das Verfassungsgericht sollte demnach den Regierungsanweisungen Folge leisten (vgl. Vetter 2008, S. 46-47).
„All diese Auffassungen kann man mit dem Begriff des sozialfürsorglichen, patriarchalischen Obrigkeitsstaates zusammenfassen. Ein Staat also, der führt, belehrt und bestraft, nicht aber staatsbürgerliche Courage und Selbstverantwortung fördert. Konzepte wie Zivilgesellschaft, Pluralismus und Autonomie und selbst Begriffe wie Debatte, Kompromiss und Konsens sind dem Denken der Kaczyńskis fremd.“ (vgl. Vetter 2008, S. 47)
Wie eingangs bereits erwähnt, ist es in Polen – aber auch in anderen Staaten in Mittel- und Osteuropa – noch nicht gelungen, die politischen Institutionen gesellschaftlich fest zu verankern. Immer wieder kommt es zu Vereinnahmungen von unabhängigen Institutionen durch die Exekutive. Die Theorie der kulturellen Phasenverschiebung (Cultural Lag Theory) des US-amerikanischen Soziologen William Ogburn versucht, solche Phänomene durch zeitliche Asymmetrien zu erklären. So entstanden die politischen Institutionen nach 1989 innerhalb kürzester Zeit. Doch es braucht bedeutend mehr Zeit, bis diese auch von der Gesellschaft als Teil des politischen Systems anerkannt sowie ihre Bedeutung und Funktion für das politische System verstanden werden. Einem Großteil der Bürgerinnen und Bürger mittel- und osteuropäischer Staaten fehle bisher noch die Erfahrung als Staatsbürger, so die Einschätzung des polnischen Politikwissenschaftlers Radoslaw Markowski, die zum Schutz einer Demokratie notwendig ist (vgl. Markowski 2017, S. 8).

Nach der Wahl hat sich der Ton der PiS gegenüber Andersdenkenden verschärft, die Politik wurde nationalistischer und anti-europäischer (vgl. Markowski 2017, S. 6). Dass der Pluralismus für die PiS wenig Relevanz hat, zeigt sich auch an der Besetzung von öffentlichen Ämtern. Der Zugang erfolgt nicht mehr nach dem meritokratischen Prinzip, wo Kompetenzen und Leistung an erster Stelle stehen, sondern durch Loyalität gegenüber der Partei (vgl. Markowski 2017, S. 7 / Vetter 2008, S. 50). So hat die PiS-Regierung durch die Medienreform nun direkten Einfluss auf die Besetzung von Stellen im öffentlich-rechtlichen Rundfunk.

Das hat gravierende Folgen. Etwa 41 Prozent der rund 39 Millionen Einwohner Polens empfangen terrestrisches Fernsehen, bei dem die öffentlich-rechtlichen Programme das Angebot dominieren. Und mit dem größeren Einfluss der Regierung auf die öffentlich-rechtlichen Medien durch die Medienreform wächst auch der Verdacht, Nachrichtenangebote dieser Kanäle könnten nun verstärkt der Kontrolle der Regierung unterstellt sein. Private Sender sind dagegen meist kostenpflichtig. So informieren sich viele Bürgerinnen und Bürger Polens ausschließlich über öffentlich-rechtliche Fernsehprogramme. Kabelanschlüsse sind teuer oder in ländlichen Regionen schlecht verfügbar, weshalb vor allem Bauern, Rentner und Angestellte das kostenlose öffentlich-rechtliche Fernsehen empfangen. Es entscheidet also auch der Bildungsstand, die finanziellen Rahmenbedingungen und die Wohnlage über die Möglichkeit, privates Fernsehen empfangen und sich umfassend informieren zu können (vgl. Krzemiński 2017, S. 4).

Unterstützung erhält die PiS auch durch den Radiosender Radio Maryja und den TV-Sender Trwam, beides nationalkonservative katholische Medien, deren Programme oft fremdenfeindliche und anti-europäische Inhalte aufweisen (vgl. Krzemiński 2017, S. 5). Radio Maryja wird tendenziell von älteren Menschen mit einem niedrigeren Bildungsniveau im ländlichen Raum empfangen (vgl. Stach 2009, S. 469-470). Generell spielt die katholische Kirche eine bedeutende Rolle in Polen. Polen ist religiös sehr homogen, fast 90 Prozent der Polen bekennen sich zur römisch-katholischen Kirche. Die starke gesellschaftliche Rolle der katholischen Kirche macht sich immer wieder bei Stellungnahmen zur aktuellen Politik und bei Wahlkampfunterstützungen bemerkbar, wie bei der Unterstützung für die Verschärfung des Abtreibungsrechts (vgl. Mechtenberg 2009, S. 394-396). Die katholische Kirche, hinter der viele Polen stehen, besitzt eine große Autorität und gilt der PiS als Unterstützung bei der Umsetzung nationaler Interessen (vgl. Krzemiński 2017, S. 2-3).

Ein Erklärungsansatz für den Erfolg der PiS dürfte auch die Schwäche der Opposition sein. Viele Wählerinnen und Wähler sind enttäuscht von der ehemaligen Koalition, bestehend aus der liberal-konservativen Platforma Obywatelska (PO) und der konservativen Bauernpartei (PSL) und gaben vermutlich deshalb der PiS ihre Stimme. Auch das Zurückgewinnen der ehemaligen Wählerinnen und Wählern gelingt der Opposition nur schwer (vgl. Krzemiński 2017, S. 5). Schaut man sich die Zusammensetzung im Sejm an, so fällt auf, dass keine Partei vertreten ist, die das politisch linke Spektrum vertritt und somit einen Gegenpol zur PiS bilden kann (vgl. Markowski, S. 5).

Abschlussbetrachtung

Mit unterschiedlichsten Mitteln konnte die PiS bei den Wählerinnen und Wählern punkten. Vielen, vor allem in den ländlichen Regionen oder mit einem niedrigen Bildungsniveau, geht es auch Jahrzehnte nach der Transformation nur unwesentlich besser. Sie haben von den neu gewonnenen Freiheiten wenig profitiert.

Im Gegenteil: die Globalisierung, verbunden mit einem kulturellen und ökonomischen Wandel, führt zu Abstiegs- oder Zukunftsängsten und Unzufriedenheit. Gerade hier punkten die Populisten wie Kaczyńskis PiS oder die noch junge rechtspopulistische Partei Kukiz’15 – immerhin drittstärkste Kraft im Parlament nach PiS und PO – mit einfachen Antworten: Schuld sind immer die anderen, die Liberalen, die EU oder die Fremden und nur ein starker, traditioneller, katholischer Nationalstaat kann Polen wieder groß machen (vgl. Markowski, S. 9). Oder mit den Worten des polnischen Soziologen Ireneusz Krzemiński:
„Erstens wird die Freiheit nicht nur von der tatsächlichen Ungleichheit, sondern auch vom Gefühl der Ungleichheit eines Teils der Bürger bedroht. Zweitens aber, insbesondere dann, wenn die Bürger die Politik als unmoralisch beurteilen und ihre egoistischen Interessen verfolgen, ermöglichen sie, dass eine Regierung entsteht, die im Namen der „Gleichheit“ die Demokratie zerstört.“ (vgl. Krzemiński 2017, S. 6-7)
Die PiS schafft es mit einer Mischung aus Sozialpopulismus und der Idee eines Nationalstaats, der Moral und national-katholische Traditionen vor liberalen und kosmopolitischen Werten wie Toleranz, Pluralismus, Gleichstellung von Frauen und Männern, Homosexualität oder dem Recht auf Abtreibung bewahrt, den Verlierern der Transformation, den Kritikern der Globalisierung und Rechtsgesinnten neue Hoffnung zu geben. Vielleicht leben diese Menschen nicht in den Großstädten, die Polens neuer Hochgeschwindigkeitszug verbindet, sondern dort, wo der Fortschritt mit 200 Sachen vorbeirast.


Weitere Blogbeiträge zu Polen:
Länderstudie Polen, Welt-Interview mit Jarosław Kaczyński sowie eine Arte-Dokumentation.

Literatur

Fałkowski, M. (2016). Die Antiregierungsproteste in Polen. Darmstadt: Deutsches Polen-Institut/ Bremen: Forschungsstelle Osteuropa.

Fehr, H. (2014). Eliten und zivile Gesellschaft. Wiesbaden: Springer VS.

Friszke, A. (2009). Die kommunistischen Regierungen in Polen 1944/54 bis 1980. In D. Bingen & K. Ruchniewicz (Hrsg.), Länderbericht Polen (S. 78-97). Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Krzemiński, I. (2017). Der Nationalkatholizismus und die Demokratie. Darmstadt: Deutsches Polen-Institut/ Bremen: Forschungsstelle Osteuropa.

Markowski, R. (2017). Transformation Experiences in Central and Eastern Europe. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.

Mechtenberg, T. (2009). Die katholische Kirche in der pluralistischen Demokratie. In D. Bingen & K. Ruchniewicz (Hrsg.), Länderbericht Polen (S. 387-399). Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Paczkowski, A. (2009). Politischer Prolog: Die Entstehung der III. Republik. In D. Bingen & K. Ruchniewicz (Hrsg.), Länderbericht Polen (S. 129-146). Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Piotrowska, M. (2009). Die soziale Lage. In D. Bingen & K. Ruchniewicz (Hrsg.), Länderbericht Polen (S. 282-293). Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Płóciennik, S. (2009). Die Qualität der Institutionen in Polen. In D. Bingen & K. Ruchniewicz (Hrsg.), Länderbericht Polen (S. 333-343). Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Stach, A. (2009). Medienlandschaft und Medienpolitik. In D. Bingen & K. Ruchniewicz (Hrsg.), Länderbericht Polen (S. 458-474). Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Vetter, R. (2008). Wohin steuert Polen? Berlin: Christoph Links Verlag.

Ziemer, K. (2009). Die politische Ordnung. In D. Bingen & K. Ruchniewicz (Hrsg.), Länderbericht Polen (S. 147-191). Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

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