Zusammenfassung der Referatsgruppe
Der Front National (FN) wurde 1972 als Zusammenschluss mehrerer nationalkonservativer politischer Gruppen unter anderem von Jean-Marie Le Pen gegründet. Mit dem Wechsel an der Parteispitze von Jean-Marie Le Pen zu seiner Tochter Marine Le Pen wandelte sich die Politik des FN. Marine Le Pen wandte sich gegen die rassistischen und antisemitistischen Einstellungen ihres Vaters und versuchte, die Partei in die rechte Mitte zu rücken, um sie anschlussfähig zu machen.
Es gibt aber auch viele Kontinuitäten. Hauptmerkmale des FN heute sind - neben der für Populisten grundlegenden Anti-Establishment-Ausrichtung - eine Anti-Islam-, Anti-Einwanderung- und Anti-Integration-Position. Die Partei bezeichnet sich als patriotisch, national und souveränistisch und sieht sich weder rechts noch links positioniert.
Die Kernaussage der FN-Ideologie beschreibt den Identitätsanspruch mit der Forderung: „Franzosen zuerst!“ Weitere Programmpunkte sind der Austritt aus der EU und der NATO sowie die Nationalisierung der Banken, Rüstungsindustrie und anderer Wirtschaftszweige.
Die rechtspopulistische Partei erlebte in den letzten Jahren einen Aufschwung, der sich in je 2 Sitzen in der Nationalversammlung und im Senat sowie in 24 Sitzen im Europaparlament widerspiegelt. Wie lässt sich dieser Aufschwung erklären?
Christophe Guilluy (siehe Pflichtlektüre im Seminarplan) begründet die Wählerdynamik des FN mit einer eigenen Soziologie und Geographie. Das Modell ist kein spezifisch französisches Modell, sondern erklärt die Dynamik der populistischen Parteien in Europa, skizziert die Konturen einer neuen politischen Geographie und zeigt die Auswirkungen auf die traditionellen Parteien auf.
Der FN zieht heute besonders Erwerbstätige, junge Menschen und Angehörige der Unterschicht an. Die Soziologie der FN-Wähler ist eine „linke Soziologie“, die sich vor allem gegen die „Oberschicht“, Globalisierung und die multikulturelle Gesellschaft richtet. Es kommt hierbei nicht zu einem neuen „Klassenkampf“ im traditionellen Sinn, aber es entsteht eine frontale Positionierung gegen die herrschenden Klassen im weiteren Sinn.
Wichtig ist, dass der FN nicht auf die Unterschicht setzt (ursprünglich hatte er sogar eine neoliberale Ausrichtung), sondern die Unterschichten setzten auf den FN. Einerseits, um sich gegen die Globalisierung zu wehren, und andererseits, um ihre Besorgnisse über die Intensivierung der Migrationsströme zu bekunden. Die politischen Diskurse haben, so Guilluy, im Grunde sehr wenig Wirkung auf die Wählerschaft, denn die Wähler entscheiden sich für eine bestimmte Partei und beeinflussen deren Diskurs und nicht umgekehrt.
Im Lauf der letzten Jahre hat sich eine neue Unterschicht gebildet, in der einander entgegengesetzte Bevölkerungsgruppen sich jetzt in ein und derselben Wahrnehmung der sozialen Realität zusammenfinden. In dieser neuen Unterschicht befindet sich zum Beispiel der kleine Angestellte aus der Reihenhaussiedlung, ein Arbeiter vom Land, Arbeitslose aus den ehemaligen Bergwerkregionen und kleine Landwirte. Gemeinsam können sie Kritik an den wirtschaftlichen und politischen Weichenstellungen der Führungselite bekunden.
Als Folge der Globalisierung kam es zu einer Neudefinition der sozialen Klasse zwischen Gewinnern und Verlierern der wirtschaftlichen Entwicklung. Es entstand eine neue soziale Zusammensetzung der Unterschicht, auch bestimmt durch den „räumlich-sozialen“ Status, der sich deutlich von den höheren sozioprofessionellen Kategorien der großen Metropolen, aber auch von den Unterschichten der neuen Migranten in den Problemvierteln unterscheidet.
Die räumliche Verteilung der Arbeiter hat eine deutliche Veränderung erfahren. Die neue soziale Geographie zeigt vielmehr einen sozialen und kulturellen Bruch zwischen den globalisierten Metropolen und einem „peripheren Frankreich“ der Kleinstädte, der mittelgroßen Städte und der ländlichen Gebiete. Geprägt ist dieser Bruch vor allem von wirtschaftlicher und sozialer Fragilität. Räume, in denen einfache Arbeitsplätze für Geringqualifizierte dominieren und es nur wenig höhere Angestellte gibt, waren von der Phase der wirschaftlichen Rezession am stärksten betroffen. Eine Verringerung öffentlicher Beschäftigung bringt eine ungewisste Zukunft für diese Menschen mit sich, dadurch verfestigen sich die prekären Strukturen immer stärker.
Außerdem spezialiseren sich die großen Städte immer mehr auf die am besten in die globalisierte Ökonomie integrierten Wirtschaftsbereiche und sind somit angewiesen auf hochqualifiziertes Personal. Diese Dynamik ist verknüft mit einem von großer Ungleichheit geprägten Modell, in dem Unter- und untere Mittelschicht keinen Platz mehr hat. Dies führt zur Gentrifizierung. Das bedeutet, dass die Entwicklung des Beschäftigungsmarktes für hochqualifizierte Kräfte zwangsläufig höhere Angestellte anzieht und diese sich in sämtlichen Wohnvierteln der Großstädte, einschließlich früheren Unterschichtsquartieren niederlassen. Folglich steigen die Immobilienpreise an und es kommt zu einer Verknappung des Wohnungsangebots.
Das Metropolenmodell beruht auf einem stark segmentierten Arbeitsmarkt, aus dem für Unter- und Mittelschicht intermediäre Beschäftigungen verschwunden sind. Der Immobilienmarkt schafft die entsprechenden Bedingungen für die Präsenz der Schichten, die die Wirtschaft heute braucht. Dieses Modell generiert die ihm eigenen, von Ungleichheit geprägte Sozialstruktur selbst.
Fazit ist: Es stehen sich heute zwei Frankreichs gegenüber. Ein Frankreich der globalisierungskompatiblen Metropolen und ein Frankreich, in dem sich die Verlierer der neuen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Weichenstellungen sammeln. Diese sozialen Dimensionen bestimmen die Konturen des peripheren Frankreichs.
Auch die kulturelle Dimension ist nicht zu vergessen, wenn man analysieren möchte, warum der FN immer mehr Stimmen bekommt. Das Aufkommen der multikulturellen Gesellschaft führte zu einem Gefühl der kulturellen Bedrohung in den einkommensschwächeren Milieus. Folglich kommt es zu einer Verschärfung eines rämlichen und identitätsbezogenen Bruchs.
Seperatismus am unteren Ende kommt hinzu, der sehr viel weniger diskutiert wird. Die unteren Bevölkerungsschichten der neuen Migranten konzentrieren sich in den Problemvierteln der Metropolen. Zur wirtschaftlichen und sozialen Unsicherheit der einkommensschwachen Bevölkerung kommt, bedingt durch die demografische Entwicklung bestimmter Territorien, ein Gefühl der kulturellen Begrohung hinzu. Die Frage der Migrationsströme und die Intensität ist entscheidend für das FN-Votum. Anhand dieser Punkte wird deutlich, warum der FN in der unteren Bevölkerungsschicht auf so große Sympathie stößt.
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