In diesem Beitrag stellt Johanna Bunes folgenden Aufsatz vor:
Öztürk, Cemal / Pickel, Gert / Schneider, Verena (2021): Religion, Vorurteile und Rechtsextremismus - kommt zusammen, was nicht zusammengehört?; in: Blättel-Mink, Birgit (Hrsg.): Gesellschaft unter Spannung. Verhandlungen des 40. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie 2020, online unter: https://publikationen.soziologie.de/index.php/kongressband_2020/article/view/1334.
In diesem Beitrag thematisieren Öztürk, Pickel und Schneider Zusammenhänge und Wirkung von Religiosität und rechtsextremen Einstellungen. Doch was kann darunter verstanden werden? Während es Antisemitismus schon sehr lange gibt, gilt die Muslimfeindlichkeit als ein relativ junges Phänomen. Dabei werden AnhängerInnen verschiedener religiöser Gruppen als Ursache von Konflikten verantwortlich gemacht. Nach dieser Theorie sind die Werte dieser Religionen nicht mit den westlichen Werten vereinbar. Dadurch kommt es zu ethnopluralistischen Forderungen wie das Stoppen der Einwanderung und die Rückführung in die (angeblichen) Herkunftsländer.
Der Beitrag befasst sich diesbezüglich mit zwei zentralen Fragen. Zuerst wird überprüft, ob ein Zusammenhang zwischen Religion beziehungsweise Religiosität und rechtsextremen Einstellungen vorliegt. Dabei liegt der Fokus nicht auf rechtsextremen Parteien, sondern auf dem Anteil der Bevölkerung, der für rechtsextreme Überzeugungen und Vorstellungen anfällig ist. Um adäquate Aussagen treffen zu können, wurde nach Brähler und Decker eine Konsensdefinition mit sechs Dimensionen konstituiert:
- Affinität zur Diktatur als Staatsform,
- nationaler Chauvinismus,
- Verharmlosung des Nationalsozialismus,
- Antisemitismus,
- Fremdenfeindlichkeit,
- Sozialdarwinismus.
Diese Dimensionen werden seit 2002 in den Leipziger Autoritarismus-Studien mit jeweils drei Items gemessen (vgl. S. 3). Um eine These zu entwickeln, werden vier Studien aufgeführt, welche die Entwicklung der rechtsextremen Einstellungen seit 2002 erforschen. Bei diesen Studien handelt es sich um
- die Leipziger Autoritarismusstudien (LAS) 2002-2020,
- die Allgemeine Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) 2018,
- das International Society Survey Programme (ISSP) 2018 und
- den Survey des Projekts ‚Konfigurationen individueller und kollektiver religiöser Identitäten und ihre zivilgesellschaftlichen Potenziale (KONID)‘ 2019 (vgl. S. 3).
Die LAS-Studie zeigt, dass die Anzahl der Personen mit geschlossen rechtsextremen Einstellungen, also einer Zustimmung zu allen 18 Items, in Gesamt- und Westdeutschland seit 2002 rückläufig ist. Allerdings ist seit 2006 ein Anstieg in Ostdeutschland zu verzeichnen. Es wurde zudem die Beobachtung gemacht, dass die meiste Zustimmung der Items im Bereich von chauvinistischen und fremdenfeindlichen Aussagen zu verzeichnen ist. Die Ergebnisse der Studien erwiesen, dass der Anteil der Personen mit geschlossen rechtsextremen Vorstellungen gering ist, allerdings ist die Zustimmung für einzelne Dimensionen deutlich höher. Demzufolge „können rechte AkteurInnen ein Mobilisierungspotenzial sehen, indem sie an verbreitete Vorurteile …anknüpfen“ (S. 4).
Doch inwieweit beeinflussen sich nun Religiosität und Rechtsextremismus? Lassen sich Zusammenhänge erkennen? Mithilfe von verschiedenen Daten werden drei zentrale Thesen überprüft, die den Zusammenhang von Rechtsextremismus und Religiosität beschreiben. Die erste These besagt, dass Gruppenablehnungen religiöser Gruppen rechtsextreme Einstellungen verstärken (vgl. S. 4). Diese These lässt sich durch die Social Identity Theory und Integrated Threat Theory bekräftigen.
Die erste Theorie „besagt, dass das Verhalten von Personen durch ihre Zugehörigkeit zu einer Gruppe bestimmt wird“ (S. 4). Dieses Verhalten lässt sich erklären, da die Zugehörigkeit zu einer Gruppe den Selbstwert steigert. Aufgrund der eigenen Selbstwertsteigerung erfährt die In-Group Aufwertung, während der Out-Group negative Eigenschaften zugeschrieben werden. Gleichzeitig stützt sich die Integrated Threat Theory auf die aufkommenden Bedrohungsängste, welche aus der Auf- und Abwertung resultieren und damit einhergehen.
Diese können realistischer oder symbolischer Struktur sein. Unter realistischen Bedrohungsängsten versteht man „wahrgenommene existenzielle Bedrohungen des physischen, politischen oder materiellen Zustands der In-Group“ (S. 5). Dagegen erweisen sich wahrgenommene Differenzen zwischen Normen und Werten als symbolische Bedrohung, wie beispielsweise ‚die Islamisierung des Abendlandes‘. Diese Wahrnehmungen können Ursache für die Entwicklung von Vorurteilen sein. Diese Vorurteile nutzen wiederum rechtsradikale oder rechtsextreme Gruppierungen für Instrumentalisierungen bestimmter Religionen als Feindbild mit der zuvor beschriebenen Vorstellung der Ungleichheit.
Die zweite These der Fragestellung erwägt, ob die christliche Religiosität als Sozialform rechtsextreme Einstellungen hemmt. Dabei soll der Austausch mit Mitgliedern anderer religiöser Gruppen zum Abbau der Vorurteile beitragen. Sozial engagierte Mitglieder mit pluralistischen Ansichten greifen auf religiöse Werte in sozialer Ausrichtung zurück und wirken mit dieser Offenheit rechtsextremen Einstellungen entgegen. Diese Annahme beruht auf der Kontakthypothese, welche laut Öztürk, Pickel und Schneider empirisch nachgewiesen werden konnte. Das religiöse Engagement zur Kontaktsuche mit anderen religiösen Gruppen wird zum Schlüsselmerkmal dieser These.
Die dritte These behauptet dagegen, dass rechtsextreme Einstellungen begünstigt werden, wenn die Mitglieder der In-Group einer dogmatischen und exklusivistischen Religiosität angehören. Diese These bestätigt sich durch die Ergebnisse der zuvor erwähnten ALLBUS- und KONID-Studie. Antisemitismus und Muslimfeindlichkeit weisen eine enge Verbindung mit rechtsextremen Einstellungen auf, somit sind dogmatisch-fundamentalistische ChristInnen anfällig für rechtsextreme Einstellungen und Inhalte. Beide Studien zeigen einen Zusammenhang zwischen Ablehnung anderer religiösen Gruppen und rechtsextremen Vorstellungen.
Aus diesen Ergebnissen der ersten Fragestellung entwickelt sich die zweite zentrale Frage des Beitrages. Hier erörtern Öztürk, Pickel und Schneider die Wirkung von Religiosität auf rechtsextreme Vorstellungen. Dabei wird zunächst untersucht, ob rechtsextreme Vorstellungen in bestimmten religiösen Gruppen vermehrt existieren. Dabei zeigt sich - laut der Leipziger Autoritarismus-Studie - keinerlei ausschlaggebende Differenz zwischen ProtestantInnen, KatholikInnen und weiteren Ausrichtungen. Es herrscht also keine direkte Verbindung zwischen Religiosität beziehungsweise religiöser Zugehörigkeit und rechtsextremen Einstellungen. Doch es lassen sich indirekte Beziehungen entdecken.
Wie die zweite und dritte These zeigte, besteht ein ambivalentes Verhältnis von Religiosität und Rechtsextremismus. Religiosität kann rechtsextreme Einstellungen verstärken, aber gleichzeitig auch hemmen. Dieses Paradoxon erklären Öztürk, Pickel und Schneider im Betrag anhand der KONID-Studie. Die Studie betrachtet das Verständnis von Religion. Dabei erweist sich eine Selbstbeschreibung als religiös oder der Kontakt mit anderen Religionen positiver Art als ohne Effekt. Dagegen zeigt die Studie, dass eine dogmatisch-fundamentalistische Auslegung der eigenen Religion die Aneignung von rechtsextremen Einstellungen begünstigen und fördern kann.
Ebenso überprüfte die Studie den Zusammenhang rechtsextremer Einstellungen und der eigenen Religiosität kombiniert mit sozialem Engagement. Die Ergebnisse zeigen, dass Personen mit dieser Auffassung der eigenen Religion weniger anfälliger sind für rechtsextremistische Inhalte. Es bilden sich also zwei Pfade. Beide besitzen die Gemeinsamkeit der Selbstbeschreibung als religiös, allerdings mit einem unterschiedlichen Verständnis von Religion, was sich wiederum auf die Anfälligkeit für rechtsextreme Ausrichtungen auswirkt.
Im Beitrag wird dieser Zustand noch mit einem weiteren, vertiefenden Mediationsmodell ergänzt. Zu den zwei Pfaden wird Bildung, Geschlecht und Alter überprüft. Diese zeigten allerdings keinen Effekt. Letztendlich ist ein direkter Zusammenhang zwischen der Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppe, der eigenen Religiosität und rechtsextremen Vorstellungen nicht erwiesen worden. Allerdings können dogmatisch-fundmentalistische Vorstellungen einer Religion eine Brücke bilden zu Vorurteilen sowie Auf- und Abwertungen. Diese können von rechtsextremen AkteurInnen genutzt werden, um Feindbilder zu kreieren und die Ideologie von Ungleichheit zu befördern.
Dahingehend ist es wichtig, die eigene Religiosität mit sozialem Engagement und pluralistischen, offenen Überzeugungen zu setzen. Dieses inkludierende Religionsverständnis wirkt hemmend und ermöglicht ein Zusammenleben, ganz im Gegensatz zu der Vorstellung der Unvereinbarkeit der unterschiedlichen Religionen und Werte, welche rechtsextreme AkteurInnen postulieren.
Da nur ein geringer Anteil der dogmatisch-fundamentalistischen ChristInnen auf rechtsextreme Inhalte zurückgreifen, mag es den Anschein erwecken, dass dieser Sachverhalt nicht großartig beachtet und weiterhin erforscht werden muss. Allerdings sind Annäherungen und Offenheit für rechtsextremistische Einstellungen, Vorstellungen und Inhalte ein ausschlaggebendes Argument und bieten sich somit für weitere Untersuchungen auf diesem Gebiet an (vgl. S. 11).
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