In diesem Beitrag stellt Sara Turic folgenden Aufsatz vor:
Candeias, Mario (2020): Den Aufstieg der radikalen Rechten begreifen. Dimensionen einer verallgemeinerten Kultur der Unsicherheit; in: Fromm Forum 24/2020, S. 141-162; Online-Version: https://opus4.kobv.de/opus4-Fromm/files/35782/Candeias_M_2020.pdf
In dem Aufsatz „Den Aufstieg der radikalen Rechten begreifen“ von Mario Candeias wird erörtert, inwiefern das Wachstum der radikalen Rechten mit den Dimensionen einer verallgemeinerten Kultur der Unsicherheit zusammenhängt. Die Leitfrage des Aufsatzes lenkt den Fokus darauf, dass die alltäglichen Sorgen und Herausforderungen, denen sich die Bevölkerung gegenübersieht, den Aufstieg der radikalen Rechten begünstigen.
Der Rechtspopulismus erstarkt in ganz Europa. Infolge einer Kultur der Unsicherheit etablierte sich der Rechtspopulismus Schritt für Schritt innerhalb der Gesellschaft. Darunter fällt die Verunsicherung in der Arbeit, der Familie, der Lebensweise, der Nachbarschaft oder auch der Geschlechtlichkeit. Gemeinsam ist den Parteien der rechtspopulistische Diskurs gegen das Establishment. Die radikale Rechte entspricht dabei einem Phänomen, das in bestimmten Regionen, Klassenfraktionen und bei bestimmten Geschlechtern häufiger auftritt als im Regelfall. Dieses zu verstehende Phänomen ist so heterogen und dynamisch, dass es einfachen Erklärungen entgeht.
Darüber hinaus ist die radikale Rechte in vielen europäischen Ländern wie zum Beispiel Italien, Österreich, Ungarn und Polen bereits an der Macht. In Finnland und Dänemark sowie in der Schweiz waren sie an der Regierung beteiligt. Mit den Wahlen zum Europäischen Parlament hat es nun größere Veränderungen gegeben. Die Sozialdemokratie hat fast die Hälfte ihrer Sitze verloren, während die radikale Rechte dramatisch gewachsen ist, wenn auch weniger als befürchtet. Politische Veränderungen in Nationalstaaten spiegeln sich somit voll und ganz auf europäischer Ebene wider.
Kurzfristig kann die autoritäre und radikale Rechte in Europa kaum zurückgedrängt werden. Bei den Wahlen zum Europäischen Parlament verstärkten der Erfolg der radikalen Rechten und die Angst vor dem Verlust von Freiheiten und Bürgerrechten die Bemühungen zur Gegenmobilisierung. Die Polarisierung hat die seit Jahren rückläufige Wahlbeteiligung erhöht.
Jedoch ist der weitere Aufstieg der Rechten in vielen Ländern wie Deutschland, Griechenland, Spanien und Portugal, Dänemark, Finnland und den Niederlanden ins Stocken geraten oder wurde verhindert. Schlussendlich stehen wir vor einer Entscheidungssituation. Angesichts der Verschärfung der globalen Ungleichheit, der ökologischen Krise, der Migrationsbewegungen, des globalen Autoritarismus und der Faschisierung ist der „Mittelweg" postideologischer Offenheit und linksliberaler Kritik nicht mehr möglich.
Während Parteien wie die AfD oder auch die Front National und Bewegungen wie Pegida hauptsächlich von etablierten Mittelgruppen und überwiegend männlichen Wählern unterstützt werden, sprechen sie jetzt auch eine relevante Gruppe von Arbeitnehmern und Arbeitslosen an. Aufgrund dessen, dass große Teile der Bevölkerung von der Sozialdemokratie vergessen wurden, sind diese nun enttäuscht von der Unwirksamkeit der etablierten Linken und wenden sich folglich einer kraftvollen neuen Position zu. Rechtspopulistische Parteien bilden somit ein Auffangbecken für die Unzufriedenheit, die innerhalb der Bevölkerung herrscht.
Diese Parteien versprechen die Verteidigung fleißiger Menschen, der Nation, der Kultur gegen „Andere", gegen den „Islam“, Flüchtlinge, Globalisierung und Homosexuelle, infolge dessen sie einen hohen Zuspruch erlangen. Dabei ist die Verbreitung von rechten und rassistischen Einstellungen nicht neu. Klassismus, Rassismus und Sexismus bilden die gesellschaftlich wirksamsten Formen der Konstruktion von Ungleichwertigkeit. Demnach geht es nicht vorwiegend um richtige Einstellungen, sondern darum, wie bestimmte widersprüchliche protoideologische Impulse, Gefühle, Gedankenformen, Wünsche und Hoffnungen auf kohärente Weise bearbeitet werden können.
Protoideologisches Material wird einerseits durch die ideologischen Instanzen, etwa Medien oder Parteien, aber auch Schule, Betrieb, Verein oder Familie, in fortwährenden Diskursen geformt und etabliert. Diese Art der Mobilisierung verspricht, "Kontrolle" und "Sicherheit" vor externen und internen Bedrohungen wiederzugewinnen.
Darüber hinaus gibt es eine offene Opposition gegen Parlamentarismus und Parteien, die demokratische Verfahren schmähen und das Parlament nur als Bühne nutzen. Dementsprechend wird versucht, die Gerechtigkeit politisch zu kontrollieren, die Pressefreiheit einzuschränken oder zumindest als „falsche Presse“ zu diskreditieren und die Wahrheit mit Hilfe fehlleitender Nachrichten und Theorien zu relativieren.
Des Weiteren spielt die Bekämpfung der „Anderen“ eine zentrale Rolle in der Politik des Rechtspopulismus. Minderheiten, Frauenrechte, Gewerkschaftsrechte und die Freiheit der Wissenschaft sind die ersten, die von der radikalen Rechten angegriffen werden. Elemente des Chauvinismus, Rassismus, Sexismus und Klassizismus sowie Berufsklassifikationen, Konsum und Lebensstil werden häufig verwendet, um echte Spaltungen innerhalb der Gesellschaft zu schaffen. Dabei sind Rassismus und Nationalismus im Alltagsbewusstsein stets vorhanden.
Die Kombination aus persönlichen Erfahrungen mit Abwertung, Unsicherheit und dem Bemühen um Stabilisierung durch imaginäre, rassistische Formen der Abwertung führen dazu, dass der Rechtspopulismus erstarkt. Dabei beruht die Evidenz einer verallgemeinerten Kultur der Unsicherheit darauf, dass durch neue Erfahrung, neue Belastungen, steigende Steuern, steigende Arbeitslosigkeit und die Ankunft Hunderttausender Geflüchteter dazu beigetragen haben. Vor diesem Hintergrund ist die Repositionierung der Bedeutung des Rassismus und Chauvinismus im Alltagsverständnis stichhaltig.
Zudem wird betont, dass ein Großteil der Bevölkerung keine geschlossene Weltanschauung, sondern ein bizarres Alltagsbewusstsein, in dem völlig entgegengesetzte Impulse koexistieren, besitzt. Dennoch wissen viele, dass auch die AfD ihre alltäglichen Probleme der Verunsicherungen nicht wirklich lösen können noch werden.
In landesweiten Haustürbefragungen sind Aktivisten täglich wiederholt auf Vorurteile, Rassismus und sprachliche Gewalt gestoßen. Auf die Frage, was geändert werden muss, um die Dinge zu verbessern, lautet die Antwort zum Beispiel, dass „Asis“ das Land verlassen müssen oder dergleichen. Der alltägliche Geist der Menschen ist demnach von rassistischen Stereotypen geprägt. Im weiteren Verlauf fingen die Befragten an, über ihre wirklichen Probleme, dass sie mehrere Kinder haben, Hartz IV beziehen und weder ihre Miete noch Essen bezahlen könne, zu erzählen.
Aus der Befragung resultierte, dass als eines der größten Probleme des Landes die steigende Migration angesehen wird. Jedoch was im eigenen Alltag als Hauptsorge gesehen wird, nämlich die unsicheren Arbeitsbedingungen oder der Wegfall von sozialer Infrastruktur, als sehr bemerkenswert erscheint. Ebenso war auf die Frage, was sie als Politiker ändern würden, in erster Linie die gesellschaftspolitische Struktur im Vordergrund. Und mehr noch, wenn Menschen den politischen Kontext in ihren eigenen Worten definieren, spielen die Islamisierung, die EU-Skepsis, die Medienkritik oder auch die Betonung der nationalen Identität keine zentrale Rolle.
Schlussendlich wird deutlich, dass mithilfe von Weiterbildung und vor allem durch die Schaffung von Erfahrungsfeldern in der Praxis der Solidarität, in denen die Bewohner zusammenarbeiten, unabhängig von ihrem Migrationshintergrund und Neuankömmlingen, gestärkt werden sollte. Dennoch koexistiert das Gefühl von Verlassenheit innerhalb der Bevölkerung. Bürger wissen, dass auch die AfD keine Lösung dagegen zu bieten hat, denn sie wünschen sich von der Politik über einen anderen Stil zu hören. Erwartet wird mehr Einklang mit dem alltäglichen Sorgen und Herausforderungen, welche die „wahren Probleme“ der Bevölkerung betreffen.
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