Sonntag, 31. Januar 2021

Winckler: Politische Bildung in Zeiten rechtspopulistischer Vereinfachungen

In diesem Beitrag stellt Youssef El Kassem folgenden Aufsatz vor:

Winckler, Marie (2019): Zwischen Kontroversität und Komplexität. Politische Bildung in Zeiten rechtspopulistischer Vereinfachungen, in: Deichmann, Carl; May, Michael (Hrsg.): Orientierung politischer Bildung im „postfaktischen Zeitalter“, Springer Fachmedien Wiesbaden, S. 101-114 [online unter: https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-658-23851-3_8]

Winckler beschreibt im ersten Teil („Rechtsextremismus und -populismus: Keine neuen Herausforderungen für die politische Bildung“) ihres Beitrags das Erstarken der populistischen Logik und Rhetorik als kein neues Phänomen oder keine neue Herausforderung für die politische Bildung. Sie stellt sich die Frage, wie die politische Bildung mit diesem Thema umgehen soll und spricht von einer argumentativen und normativen Demokratiebildung der Schüler*innen und Anerkennung der Menschenrechte als „resümierende Lösung“.

Dennoch werden im Laufe der Publikation einige wichtige Aufgaben der politischen Bildung im Umgang mit Rechtspopulismus erklärt. Die erste Aufgabe umfasst die hinreichende Aufklärung und Prävention in den Schulen zur Stärkung des demokratischen Bewusstseins von Schüler*innen. Grundfragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens müssen von Lehrkräften thematisiert und kontrovers diskutiert werden, sich aber an den Lebensumständen von Schüler*innen orientieren.

Die zweitwichtigste Aufgabe umfasst die Solidarität als Pflicht jeder Lehrkraft zu jenen Schüler*innen, die durch rechtspopulistische oder gar rechtsextreme Handlungen und Deutungen in ihrer Würde verletzt worden sind. Die bewusste Parteinahme (Parteilichkeit) der Lehrkraft ist hier dem Neutralitätsgebot des Beutelsbacher Konsens‘ übergestellt.

Zudem kommt die drittwichtigste Aufgabe hinzu, sich als Lehrperson weder aktionistisch noch bagatellisierend zu präsentieren. Winckler sieht jedoch diese Arbeitsweisen als „Idealvorstellung“ an. Der Politikunterricht in der Schule ist nicht selten „unpolitisch- faktenorientiert“ (Winckler 2019, 103). Er gehe an den Lernbedürfnissen der Jugendlichen vorbei und ignoriert rechtspopulistische Deutungen seitens der Schülerschaft.

Im zweiten Teil („Didaktische Strategien zum Umgang mit Rechtspopulismus: Chancen und Grenzen“) werden einige fachdidaktische Strategien im Umgang mit Rechtspopulismus in der Schule beschrieben. Mit der kurativ-paternalistischen Strategie werden rechtspopulistische Deutungen von Schüler*innen als Therapiefall behandelt und angesehen. Die sachorientiert-pädagogische Strategie setzt auf Wissensvermittlung durch die Lehrkraft, endet aber nicht selten in einen unpolitischen Politikunterricht.

Die emanzipatorische Strategie beschreibt die diskursive Auseinandersetzung mit Rechtspopulismus mit dem Ziel, politische Mündigkeit von Schüler*innen zu erreichen / zu fördern. Hier besteht jedoch die Gefahr, dass Lehrkräfte überfordert werden, weil die aktive Auseinandersetzung mit rechtspopulistischen Vorurteilen, Stammtischparolen etc. einige pädagogisch-professionelle und persönlich-emotionale Belastungssymptome erzeugen können.

Im dritten Teil („Weder Vermeidung noch Vereinfachung […]“) wird die Aufbereitung einer Unterrichtssequenz am Beispiel der Kölner Silvesternacht skizziert. Hier werden zwei Abgrenzungen gezogen, um die rechtspopulistische Vereinfachungslogik zu umgehen. Zunächst wird die Unterrichtsstunde mit dem Titel: „Muslimische Migranten: Eine Gefahr für Frauen in Deutschland“ (Winckler 2019, 105) eröffnet.

Solch eine Themenformulierung seitens der Lehrkraft ist äußerst problematisch, da der Sexismus kulturalisiert wird. Stereotype und rassistische Vorurteile lassen sich in solch einer Wortwahl finden. Auch die Themenformulierung: „Die Debatte um die Kölner Silvesternacht: Wie Sexismus zum Problem der „Fremden“ gemacht wird“ (Winckler 2019, 106) eignet sich nicht für die Unterrichtsstunde. Durch diese Wortwahl werden die stattgefundenen sexuellen Übergriffe relativiert und die Thematik der patriarchalischen Geschlechterverhältnisse in den Herkunftsländern de-thematisiert.

Generell muss durch die Lehrkraft dargestellt werden, dass diese Art von Übergriffen juristisch und problematisierend unabhängig von Menschen mit und ohne Migrationshintergrund zu ahnden sind. Des Weiteren muss geklärt werden, dass nicht alle Migranten die patriarchalischen Strukturen und Praktiken sowie Einstellungen vertreten oder an solchen teilhaben. Auch die Geschlechterverhältnisse und -rollen hierzulande müssen geklärt werden, bevor die fremden Männer als Täter im Unterrichtsdiskurs oder der Unterrichtsdebatte stehen.

Hier wird es äußerst interessant, wenn die rechtspopulistischen Logiken - auch jene um die AfD - im Unterricht zum Vorschein treten. Sie stehen ganz klar und deutlich gegen Gender-Mainstream. Auch hinsichtlich der Rolle der Geschlechter beziehen sie klar Stellung. Hier stehen patriarchalische Beharrungskräfte stark im Fokus ihrer Politikagenda. Ein konservatives Familienbild vertreten sie auch und positionieren sich klar für eine "nationale Bevölkerungspolitik". Demnach soll durch die Erhöhung der Geburtenrate dem demografischen Wandel entgegengewirkt werden.

Schüler*innen können sich jetzt ein fundierteres Bild machen und die Multiperspektivität bezüglich der politischen Standpunkte erklären, bevor die Unterrichtsdiskussion startet. Um die Frage zu klären, wie nun die Kölner Silvesternacht in einer differenzierten Thematisierung stattfinden, beschreibt sie Winckler in vier Phasen.

  • 1. Phase : Außenbetrachtung - Hier wird das Geschehen bspw. durch einen Film nachvollzogen. Anhand der unterschiedlichen Aussagen, wie die Ereignisse gedeutet wurden und welche Auswirkungen diese Deutungen auf die gesellschaftliche Stimmung gegenüber Flüchtlingen hatten, untersuchen Schüler*innen diese.
  • 2. Phase: Innenbetrachtung - Hier werden die Ereignisse von Beteiligten und betroffenen Personen wahrgenommen und untersucht (das können Aussagen von Polizisten sein oder von Opfern von muslimischen Migranten).
  • 3. Phase: Politische Urteilsbildung - Hier wird der Grundsatz „Nein heißt Nein“ thematisiert (Neuerung des Sexualstrafrechts), die Schüler*innen können Kritikpunkte benennen (Taten aus Gruppen heraus oder Verknüpfung mit Aufenthaltsrecht) und zu diesen Stellung beziehen.
  • 4. Phase: Generalisierung - Schüler*innen nehmen Stellung, wonach muslimische Migranten eine frauenfeindliche Kultur mit nach Deutschland brächten.

Geschieht anhand

  • Untersuchungen von Studienergebnisse zu sexualisierter Gewalt in Deutschland und inwieweit muslimische Migranten daran beteiligt waren
  • Untersuchung der Frauenrechte in den Herkunftsländern der Migranten
  • Untersuchung, welche Erfahrungen mit Sexismus und sexualisierter Gewalt in Deutschland es gibt
  • Untersuchung der geschlechterpolitischen Forderungen seitens der AfD oder anderer Parteien anhand des Wahlprogramms

Alle Aspekte werden miteinander verknüpft und eine Bilanz formuliert.

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