Aktionistisch und medienwirksam, diese zwei Schlagworte stehen seit der Gründung der Identitären Bewegung in Europa bzw. in Deutschland für das öffentliche Auftreten der rechtsextremen Gruppierung, welche nach wie vor versucht, primär Jugendliche und junge Erwachsene anzusprechen und zu mobilisieren. Seit ihrem öffentlichen Aktivwerden ist insbesondere ihr professionelles Medienerscheinen aus strategischer Sicht hervorzuheben, und so waren sie schon mehrfach in der Lage, die eigenen Aktionen in überregionalen Medien zu platzieren und generierten dadurch Reichweite weit über die bewegungseigenen Medienkanäle hinaus.
So besetzten rechtsextreme identitäre Aktivisten 2016 das Brandenburger Tor und entrollten Banner, um gegen die damalige Asylpolitik der Bundesregierung zu demonstrieren (Deutschlandfunk 2016, S. 1). Darüber hinaus versuchen die „Identitären“ stets auch selbst die eigenen Aktionen medienwirksam auf der eigenen Identitären-Homepage oder in verschiedenen sozialen Netzwerken zu platzieren. Insbesondere Zweiteres wird allerdings durch Konto-Sperrungen für die Bewegung zunehmend schwerer, weswegen die „Identitären“ zum Teil auf alternative Kommunikationskanäle ausweichen müssen.
Nichtsdestotrotz gibt es noch immer, wenn auch nicht mehr so viele, reichweitenstarke IB-Kanäle, welche auf den gängigen Netzwerken eigene Aktionen inszenieren sowie diese fast schon heroisch darstellen. Hierzu kann unter anderem ein in Folge der nächtlichen Ausschreitungen im Sommer 2020 in Stuttgart im vergangenen Jahr öffentlicher Auftritt der Identitären Regionalgruppe Schwaben genannt werde, welcher von der Regionalgruppe auf YouTube hochgeladen wurde.
In der folgenden Arbeit soll aufbauend auf den bereits vorhandenen Blogbeiträgen nach dem Status quo der rechtsextremen Gruppierung in der Bundesrepublik gefragt werden und insbesondere das noch vorhandene Mobilisierungspotenzial beleuchtet werden. Zunächst werden die notwendigen ideologischen bzw. strategischen Grundlagen thematisiert, welche für die Nachvollziehbarkeit zwingend notwendig sind.
Hinsichtlich des Verständnisses muss festgehalten werden, dass lediglich die ideologischen Grundlagen noch einmal aufgegriffen werden, welche zur Einordnung des Wirkens und des noch herrschenden Potenzials der Gruppe notwendig sind. Um welche Art von Bewegung es sich bei der Identitären Bewegung handelt, kann in einem bereits veröffentlichten Blogbeitrag noch einmal nachgelesen werden. Auf eine erneute Darstellung wird an dieser Stelle bewusst verzichtet. Insbesondere der Abschnitt „Was ist die ´Identitäre Bewegung´?“ wird hierfür empfohlen.
Ideologie der Identitären Bewegung
Die Identitäre Bewegung ist seit ihrer Gründung bemüht, sich vom „klassischen“ Rechtsextremismus abzugrenzen, und versucht gezielt mit den unten dargestellten Strategien ins konservative und bürgerliche Lager hineinzuwirken, insbesondere in Richtung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, und bezieht sich dabei wiederholt auf die antiliberalen, antidemokratischen und antiegalitären Ideen der sogenannten „Konservativen Revolution“.
So bedient sie sich unter anderem ideologisch an Carl Schmitt und folgt dem Grundsatz „Abschottung nach außen, Homogenität nach innen“ und geht dabei von einem möglichen homogenen Volk aus, welches allerdings nicht mit der vorherrschenden pluralistischen demokratischen Gesellschaft zu vereinbaren ist (Bruns et al. 2016, S. 198ff). Dabei ist insbesondere das neurechte Konzept des Ethnopluralismus hervorzuheben, nach welchem das Aufeinandertreffen verschiedener Kulturen die Ursache für globale, aber auch nationale Konflikte sei. Die einzige Lösung stelle dabei aus neurechter Sicht ein „Nebeneinanderexisitieren“ von Kulturen dar, und eben nicht eine diverse und weltoffene Gesellschaft. Hierbei muss zwingend festgehalten werden, dass der stark ethnisch geprägte Völkerbegriff nicht mit dem Grundgesetz zu vereinbaren ist. Das Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württembergs hält dazu fest:
„Ein ethnisches Verständnis des Volksbegriffs und eine damit verbundene Ausgrenzung bestimmter Bevölkerungsteile stehen im Widerspruch zu elementaren Werten des Grundgesetzes wie der Unantastbarkeit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 Satz 1 Grundgesetz) und dem Gleichheitsgrundsatz (Art. 3 Grundgesetz).“ (Ministerium des Inneren, für Digitalisierung und Kommunen Baden-Württemberg 2021, S. 210)
Somit muss das Konzept des Ethnopluralismus als eine Art „modernisierte Form des Rassismus“ verstanden werden, welches unmittelbar zu einer nicht mit der freiheitlichen demokratischen Ordnung vereinbaren Förderung von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit führt (Bruns et al. 2016, S. 208). Mit Blick auf die Neue Rechte und die identitäre Bewegung gilt es dabei insbesondere, wie auch bei rechtspopulistischen Bestrebungen in der Bundesrepublik, antimuslimischen Rassismus hervorzuheben, welcher unter dem oben aufgeführten Deckmantel des Ethnopluralismus propagiert wird, wobei auch auf die Verschwörungstheorie des sogenannten Bevölkerungsaustauschs, welcher ein vermeintlich homogenes Volk bedrohe, zurückgegriffen wird, wie Blogeinträge und Aktionen zeigen.
Diese Feindseligkeit gegenüber allem, was nicht dem von der Neuen Rechten konstruierten „Wir“ (s. Ethnopluralismus) entspricht, wird auch in einer durchaus ambivalenten Haltung gegenüber Europa deutlich: So wird zum einen ein Europa der Vaterländer, welches die (kulturellen) Verschiedenheiten bewahrt, entgegen der supranationalen Bestrebungen der Europäischen Union eingefordert, zum anderen gelte es aber, einen vermeintlichen Bevölkerungsaustausch zu verhindern und eine sogenannten „Festung Europa“ zu errichten, welche sich nach außen hin abschottet.
An dieser Stelle soll exemplarisch auf die „Mission: Defend Europe“ der Identitären Bewegung verwiesen werden, welche in dem oben verlinkten Blogbeitrag ausführlich thematisiert wird (siehe hier) Die Idee eines „Europas der Vaterländer“ wird inzwischen von weiten Teilen des rechtspopulistischen Spektrums, zum Teil auch von konservativen Politikern, mitgetragen, was wiederum aufzeigt, dass ethnopluralistische Ideen nicht allein ein Phänomen rechtsextremistischer Bestrebungen sind und umso mehr im Blick behalten werden müssen.
Intellektuelles Fundament – Die Neue Rechte & die sogenannte Kulturrevolution
Vorneweg muss festgehalten werden, dass die Identitäre Bewegung nicht direkt der sogenannten Neuen Rechten zugeordnet werden kann, was allerdings nicht über die im ideologischen Sinne fundamentale Bedeutung der Neuen Rechten für die rechtsextreme Gruppierung hinwegtäuschen darf. So kann die Identitäre Bewegung der Bundeszentrale für politische Bildung zufolge als „Neue Rechte auf der Straße“ verstanden werden, da sie sich ebenfalls auf die sogenannte „Konservative Revolution“ beziehe und strategische Positionen der intellektuellen „Neuen Rechte“ übernehme, aber einen aktionsorientierten Ansatz verfolge (Pfahl-Traughber 2019, S. 1).
Der Begriff der Neuen Rechten wird im gesellschaftlichen Diskurs äußerst ambivalent verwendet. Auf ein Gegenüberstellen verschiedener Definitionen wird an dieser Stelle verzichtet, da es dem Verständnis des Beitrags nicht dienen würde, und es folgt lediglich eine kurze Darstellung einer ausgewählten Arbeitsdefinition nach Bruns et al.: Demnach verstehen wir unter dem Begriff der „Neuen Rechten“…
„eine nicht klar zu umreißende [und lose vernetzte] Anzahl an Personen, Medien und Gruppen, die sich im Gegendiskurs zu 1968 verstehen und ihr ideologisches Vorbild in der ´Konservativen Revolution“ finden. Sie wenden sich gegen Marxismus und politischen Liberalismus und vertreten eine klare Ideologie der Ungleichheit. […] Die ´Neue Rechte´ ist ein Mischspektrum, das Rechtsextremismus und stark wertkonservatives Gedankengut vereint.“ (Bruns et al. 2016, S. 31)
Die strategische Ausrichtung der Neuen Rechten zielt dementsprechend auch nicht auf die Tages- und Parteipolitik ab, vielmehr verfolgt man eine sogenannte metapolitische Strategie, welche einen geistigen Wandel als Grundlage für den politischen Wandel hin zu einer geistigen Überwindung des bestehenden demokratischen Verfassungsstaates versteht. Hierbei beruft sich die Neue Rechte kurioserweise auf den italienischen Kommunisten Antonio Gramsci, welcher in den 1920er das Scheitern der Kommunisten in Italien analysierte (Pfahl-Traughber 2019, S. 1). Demnach reduziere sich der Staat eben nicht nur auf einen politischen Apparat, denn er wird letztendlich von der Gesellschaft bzw. den Werten, welche die Mehrheit anerkennen, getragen und legitimiert (de Benoist 2017, S. 72).
Der französische neurechte Vordenker de Benoist hält in Bezug auf Gramsci fest, dass das kulturelle Fundament nach Gramsci - dies umfasst unter anderem „die Kultur, die Ideen, die Sitten, die Traditionen und sogar den gesunden Menschenverstand“ - angegangen werden müsse, denn in all diesen vermeintlich unpolitischen Bereichen sei ein enormes Machtpotenzial vorhanden. Dies beschreibt Gramsci bzw. de Benoist als kulturelle Macht, auf welche sich ein jeder Staat letztendlich auch stützen müsse.
Somit ist dem neurechten Denken zufolge ein langfristiges Ergreifen der politischen Macht nicht „ohne eine vorübergehende Übernahme der kulturellen Macht“ (ebd., S. 72f.) möglich und es gilt in einen sogenannten „Kulturkrieg“ einzutreten, um im Diskurs einen Hegemoniegewinn der eigenen Positionen zu erlangen. Die kulturelle Hegemonie entscheidet demnach über mehrheitsfähige gesellschaftliche Ideen und Werte bzw. deren Transformation. Strategisches Ziel der Neuen Rechten ist es also, auf kultureller Ebene „die bestehende [freiheitlich demokratische] Gesellschaft in ihren Grundfesten“ ins Wanken zu bringen, um im Anschluss „die Situation auf der politischen Ebene ausnutzen [zu] können.“ (ebd., S. 75)
Demnach geht es auch den Identitären darum, Teil einer Gegenkultur zu werden und in möglichst viele Bereiche des kulturellen Zusammenlebens vorzudringen. Entscheidend dabei sei ein tatsächlicher Wandel der Ideale und Werte, sodass man langfristig nicht mehr auf einzelne Aktionen und mediale Berichterstattungen angewiesen sei. Die Etablierung einer Gegenkultur kann bzw. soll dabei auch äußerst facettenreich stattfinden, wie der französische Identitäre Philippe Vardon schon 2011 festgehalten hat.
Ihm zufolge dürfen sich die Neuen Rechte und ihre aktionistischen Anhänger, zu welchen unter anderem die Identitäre Bewegung gezählt werden kann, nicht auf eine universitäre Auseinanderbesetzung beschränken, sondern müsse auch direkt an den alltäglichen Verhaltensweisen der Menschen ansetzen (Bruns et al. 2016, S. 224f). Die Identitäre Bewegung Deutschlands verschreibt sich in einem Blogeintrag auf der bewegungseigenen Homepage ebenfalls der metapolitischen Strategie und definiert sich selbst in Anlehnung an die linke Bewegung seit den 1968er als außerparlamentarische Opposition, was wiederum der Annäherung der „Neuen Rechten auf der Straße“ der Bundeszentrale für politische Bildung entspricht.
Der neurechte Autor Thor von Waldstein hält hierzu anlehnend an de Benoist fest, dass „die Lufthoheit über die Köpfe und Herzen der Menschen […] stets wichtiger als die parlamentarische Mehrheit“ sei und der „parlamentarische Erfolg [dann] früher oder später automatisch“ (von Waldstein 2015, S. 14f) eintrete. Zentral sei es dabei aus Sicht der Identitären, „neue Bilder und Narrative (Erzählungen) zu schaffen“, um die eigenen „Konzepte zu erklären und zu etablieren“, denn sonst würden „Wahlerfolge von Parteien oft nur ´Eintagsfliegen´“ bleiben (Identitäre Bewegung 2017, S. 1).
Strategie – Aktivismus & mediale Inszenierung
Die Identitären sind erstmals 2012 in der Bundesrepublik außerhalb des digitalen Raums in Form einer Störaktion der „Interkulturellen Wochen“ in Frankfurt am Main öffentlich in Erscheinung getreten: Drei Identitäre tanzten damals unter dem Motto „Multikulti wegbassen“ maskiert und mit klar sichtbarem Lambda-Symbol zu lauter Hardbass-Musik und störten, für alle Anwesenden nicht zu übersehen, die Veranstaltung (Havertz 2021, S. 101).
Schon damals zeigte sich die Bedeutung und professionelle Nutzung der (sozialen) Medien, denn die Aktion wirkte im digitalen Raum damals schon weitaus länger als die Tanzeinlage an sich, welche nur wenige Minuten dauerte. Die Aktion wurde nämlich gefilmt und anschließend auf verschiedenen Netzwerken, wie zum Beispiel YouTube, öffentlichkeitswirksam weiterverbreitet.
In der Zwischenzeit hat sich die Identitäre Bewegung in der Bundesrepublik klar hierarchisch in Form von einem führenden nationalen Kader sowie Regional- und Ortsgruppen, welche ebenfalls eindeutig hierarchisch geführt werden, organisiert. Somit ist die Identitäre Bewegung schon seit Jahren weit mehr als ein reines Internetphänomen, welches einzelne Aktionen im digitalen Raum verbreitet.
Diese Entwicklung war allerdings mit Blick auf Frankreich wenig überraschend, wo der sogenannte „Bloc Identitaire“ schon seit 2003 organisiert in Erscheinung tritt und vielen weiteren identitären Bewegungen im europäischen Raum als Vorbild diente. Der französische Bloc „Identitaire“, welcher später um die Jugendbewegung „Génération Identitaire“ ergänzt wurde, verfolgte in Frankreich schon in den 2000er einen aktionistischen und vor allen Dingen provokativen Ansatz, um gesellschaftlich und politisch Veränderungen herbeizuführen.
Beispielhaft dafür kann die Besetzung des Daches einer Moschee im französischen Poitiers und die Befestigung eines Banners mit der Aufschrift „732 GENERATION IDENTITAIRE“ angesehen werden, welche historisch für das Jahr 732 n. Chr. steht, in welchem französische Truppen arabische Truppen aus Teilen des heutigen Spaniens zurückgedrängt haben. Bis heute greifen die Identitären Gruppen europaweit, unter anderem auch in Deutschland, auf dieses Ereignis zurück und proklamieren dieses als Vorbild für die Rückeroberung („Reconquista“) der kulturellen Hegemonie (Havertz 2021, S. 101f.).
Hinsichtlich bundesweiter, d.h. überregionaler Aktivitäten kann laut dem baden-württembergischen Verfassungsschutz festgehalten werden, dass es seit Beginn der Corona-Pandemie zu keinen bundesweiten Großveranstaltungen mehr gekommen sei und sich das Agieren der rechtsextremen Aktivisten in den letzten beiden Jahren auf regionale Veranstaltungen und Aktionen beschränkt habe. Dies bedeute allerdings nicht, dass die Bewegung auf dem Rückzug sei und keine Gefahr für die demokratische Grundordnung mehr darstelle, wie ein Blick auf die (Kommunikations-) Strategie verdeutlichen soll (Ministerium des Inneren, für Digitalisierung und Kommunen Baden-Württemberg 2021, S. 208ff).
Denn auch hinsichtlich der Kommunikationsstrategie beruft sich die Identitäre Bewegung in Person der österreichischen Führungsfigur Martin Sellner wie schon bei der Ergreifung der kulturellen Hegemonie auf einen linken Theoretiker. Sellner hält in Anlehnung an den linken Theoretiker Guy Debord in seinem Werk „Identitär!“ fest, dass das eigentliche Erleben mehr und mehr durch eine sogenannte mediale Spiegelung ersetzt werde und wir nach Debord in einer „Gesellschaft des Spektakels“ leben, welche es reichweitenstark zu inszenieren gelte, um Veränderungen einzuleiten.
Demzufolge sei die mediale Inszenierung und die Verbreitung ebenso bedeutend wie die eigentliche Aktion an sich, bzw. die eigentliche Aktion ist ohne die spätere Inszenierung quasi wirkungslos im selbst ausgerufenen „Kulturkampf“ um die Ideen und Werte einer Gesellschaft (Speit 2018, S. 20). Sellner schließt damit auch nahtlos an die Ideen des wohl einflussreichsten neurechten Verlegers Götz Kubitschek an, welcher schon 2006 in seinem Werk „Provokation!“ festgehalten hatte:
„Denn daran muss sich der Provokateur messen lassen: Was nicht in den Medien war, war nicht. […] Provokationen leben von der Wahrnehmung, denn ihr Ziel ist, eine Reaktion (und sei es nur die Verblüffung) hervorzurufen. Wahrgenommen wird das Unerwartete, wahrgenommen wird der gezielte Regelverstoß, wahrgenommen, zwingend wahrgenommen wird die bewusste oder unbewusste Verletzung der Tabus, die auch unsere derzeitige, nur scheinbar nach allen Seiten offene Herrschaftsstruktur absichern, bewehren.“ (Kubitschek 2006, S. 1)
Somit findet die wirksame Konstruktion und Verbreitung von Gesellschaftsbildern größtenteils im reichweitenstärkeren digitalen Raum statt, wodurch insbesondere eine junge Zielgruppe angesprochen werden soll. Dabei wird versucht, ein Gemeinschaftsgefühl und eine gewisse soziale Orientierung zu transportieren, was offensichtlich nicht in der eigentlichen, oft nur wenige Minuten langen Aktion vermittelt werden kann. Die Identitäre Bewegung konnte in der Vergangenheit nur selten in überregionale und reichweitenstarke Medien vordringen, wie sie es in der bereits zu Beginn erwähnten Aktion am Brandenburger Tor erreichen konnte. Dementsprechend ist sie zur Verbreitung der eigenen Inhalte insbesondere auf ihre eigenen Kanäle in den sozialen Medien angewiesen, um in die Gesellschaft hineinwirken zu können.
Kontosperrungen in sozialen Netzwerken & Reaktionen
Seit Mitte Juli 2020 kann allerdings festgehalten werden, dass sich das Verbreiten von Botschaften und Aktionen für die Identitären in der Bundesrepublik weitaus schwieriger darstellt, als es in den Jahren zuvor der Fall war: Denn nachdem Facebook und Instagram schon erste Kontosperrungen zwei Jahre zuvor vollzogen hatten, folgten unter anderem der Kurznachrichtendienst Twitter und die Videoplattform YouTube und sperrten zahlreiche und vor allen Dingen reichweitenstarke Accounts der rechtsextremen Bewegung.
Insbesondere die Kanäle des führenden österreichischen Identitären Martin Sellner, welcher auch eine der Leitfiguren in der Bundesrepublik darstellt, sind hierbei neben vielen anderen Konten zu erwähnen. So hatte allein Sellner auf seinem YouTube Kanal rund 100.000 Abonnent*innen und knapp 40.000 Nutzer*innen folgten ihm bei Twitter. Sowohl Twitter als auch YouTube begründeten diesen Schritt damit, dass die Konten gegen Nutzungsrichtlinien verstoßen haben, wie zum Beispiel der Hassrede oder der Beteiligung und Förderung von sogenannten „illegalen Aktivitäten“ und der Unterstützung von terroristischen Organisationen (Deutschlandfunk 2020, S. 1).
Diese Sperrungen stellen, wie die oben dargestellte Medienstrategie der Identitären vermuten lässt, einen enormen Einschnitt in das Handeln und Wirken der rechtsextremen Bewegung dar, denn das Hineinwirken in die Gesellschaft muss seitdem zum Teil auf anderen Wegen und Kanälen stattfinden. Das baden-württembergische Innenministerium hält auf Anfrage der Grünen Landtagsabgeordneten fest, dass die weiteren Sperrungen im Juli 2020 ein enormer Rückschlag für die rechtsextremen Identitären darstelle und dass die Regional- und Ortgruppen Baden-Württembergs auf alternative Netzwerke auswichen, ohne aber die vorherige Reichweite wieder erreichen zu können (Landtag Baden-Württemberg 2020, S. 3f).
Diese Strategie des Ausweichens auf andere Netzwerke war bundesweit festzustellen, wobei insbesondere die russischen Netzwerke Telegram und VK zu erwähnen sind. Zeitgleich mit dem Ausweichen auf alternative Netzwerke starteten die Identitären deutschlandweit ihre sogenannte Sommertour unter dem Motto „Unser Büro ist die Straße“, um die erlittenen Reichweitenverluste zu kompensieren und bundesweit in den Innenstädten Präsenz zu zeigen. Ziel dabei war es laut dem baden-württembergischen Landesamt für Verfassungsschutz, als Ausgleich für den digitalen Reichweitenverlust „Passanten in zwangloser Atmosphäre in Gespräche [zu] verwickeln und dadurch die eigenen Positionen und Aktivitäten [zu] propagieren.“ (Ministerium des Inneren, für Digitalisierung und Kommunen Baden-Württemberg 2021, S. 213f).
Ein weiterer Versuch, den Sperrungen und dem damit verbundenen großen Verlust an Reichweite entgegenzuwirken, ist die Entwicklung sowie Veröffentlichung des Computerspiels „Heimat Defender: Rebellion“, welches unter anderem auch vom neurechten Verein „Ein Prozent“, welcher vom Bundesamt für Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall aufgeführt wird, mitproduziert wurde und inzwischen in der Bunderepublik indiziert wurde (Fleischmann 2021, S. 1).
Dieses auf den ersten Blick nostalgische Videospiel soll wohl wieder insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene ansprechen und die klassischen neurechten Inhalte implizit verbreiten und dabei auch Interessierte an die Identitäre Bewegung als potenzielle Mitglieder heranführen. Der neurechte Verein „Ein Prozent“, welcher laut Homepage des extra für das Spiel neugegründeten Entwicklers kvltgames unterstützend und im Vertrieb agiert, verzeichnet die Entwicklung und Verbreitung des Videospiels als vollen Erfolg und gibt auf dem eigenen Telegram-Kanal am 12. August 2021 an, dass es über 40.000 Downloads gegeben haben soll, was in Relation zu den knapp 600 Identitären-Mitglieder in der Bundesrepublik eine beachtliche und nicht zu unterschätzende Zahl darstellt. Allerdings muss hierbei auch festgehalten werden, dass die tatsächliche Anzahl an Downloads kaum nachvollziehbar ist.
Einschätzung des Verfassungsschutzes
Das wenn auch oft implizite, aber dennoch inhaltlich und aktionistisch offen rechtsextremistische Auftreten der Identitären Bewegung rückte die Aktivisten auch in das Visier des Bundesamtes für Verfassungsschutz und auch der Landesämter für Verfassungsschutz hinsichtlich der Regional- und Ortsgruppen. Schon 2018 führte das Bundesamt die Identitäre Bewegung als rechtsextremistischen Verdachtsfall auf.
Nur ein Jahr später und nach gut dreijähriger Prüfung kommt der Inlandsgeheimdienst dann schließlich auch zu dem Ergebnis, dass die Gruppe eindeutig rechtsextremistisch sei und auch mit allen nachrichtendienstlichen Mitteln beobachtet werden könne. Thomas Haldenwang, Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz, betont dabei, dass die Identitären Aktivisten als „geistige Brandstifter“ agieren und dabei „die Gleichheit der Menschen oder gar die Menschenwürde an sich infrage“ stellen, wie schon oben der Blick auf die ideologische Grundlagen offenbarte (ZEIT ONLINE 2019, S. 1).
Schon seit dem Bekanntgeben des Verfassungsschutzes, dass die Identitäre Bewegung 2016 unter Beobachtung stehe, ist die Identitäre Bewegung juristisch sowie in Form einer Kampagne bemüht, dagegen vorzugehen. Wie schon in vielen vorangegangenen Kampagnen inszeniert sich die Identitäre Bewegung in einer Opferrolle und versucht sich als eigentlichen Retter zu vermarkten:
Im Juni 2020 bestätigte dann allerdings das Berliner Verwaltungsgericht, dass das Bundesamt für Verfassungsschutz die Identitäre Bewegung als „gesichert rechtsextrem“ aufführen dürfe, und wies einen Eilantrag identitärer Aktivisten zurück, da unter anderem der Erhalt der ethnokulturellen Identität gegen die Menschenwürde verstoße. Des Weiteren verfolgten die aktionsorientierten Gruppierungen Bestrebungen gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung, wie schon den oben dargestellten Veröffentlichungen und der ausgerufenen Strategie entnommen werden konnte. Aus juristischer Sicht ist dabei vor allem entscheidend, dass das Bundesinnenministerium, dem das Bundesministerium für Verfassungsschutz untersteht, die Öffentlichkeit über Bestrebungen gegen die freiheitliche Grundordnung unterrichten dürfe (Havertz 2021, S. 102; ZEIT ONLINE 2020, S.1).
Fazit – Potenzial der Bewegung
Abgesehen von der sogenannten Querdenker-Bewegung hatten die Identitären in Zeiten der Pandemie wie beinahe alle anderen politischen Bewegungen Schwierigkeiten, überregional öffentlichkeitswirksam in Erscheinung zu treten und potenzielle Mitstreiter zu rekrutieren. Es wäre allerdings mehr als fahrlässig, von einer Abnahme der Gefahr für die freiheitliche demokratische Gesellschaft auszugehen, auch wenn die Identitären große Schwierigkeiten haben, den Grad an Reichweite aus den Jahren 2015 bis 2017 wieder zu erreichen.
Inwieweit die rechtsextremen Aktivisten erneut Reichweite zurückerlangen können, muss weiter verfolgt werden, da die Bewegung im vergangenen Jahr gezeigt hat, gewillt zu sein, alternative und durchaus kreative Kommunikationskanäle aufzusuchen, wie zum Beispiel das inzwischen in Deutschland indizierte eigene Videospiel aufgezeigt hatte.
Hinsichtlich der gesperrten Konten auf den gängigen sozialen Netzwerken hat insbesondere die Querdenken-Bewegung, welche sich während der Corona-Pandemie geformt hat, aufgezeigt, dass auch ohne die führenden Netzwerke Facebook und Twitter eine große Masse erreicht und Inhalte vermittelt werden können. So kommunizierten unter anderem zahlreiche Verschwörungstheoretiker, welche der Bewegung nahestehen, primär über Telegram und erreichen dort seither zum Teil Zehntausende von Nutzer (Duwe et al. 2021, S. 1).
Literatur
- Bruns, J.; Glösel, K. & Strobl, N. (2016): Die Identitären – Handbuch zur Jugendbewegung der Neuen Rechten in Europa, UNRAST: Münster, 2. aktualisierte und erweiterte Auflage.
- De Benoist, A. (2017): Kulturrevolution von rechts, Jungeuropa Verlag: Dresden.
- Havertz, R. (2021): Radical Right Populism in Germany – AfD, Pegida, and the Identitairian Movement, Routledge: London.
- Speit, A. (2018): Reaktionärer Klan – Die Entwicklung der Identitären Bewegung in Deutschland. In: Speit, A. (Hrsg.): Das Netzwerk der Identitären – Ideologie und Aktionen der Neuen Rechten, Christoph Links Verlag, S. 17-41.
- Von Waldstein, T. (2015): Metapolitik – Theorie – Lage – Aktion, Antaios: Schnellroda.
Internetquellen
- Deutschlandfunk (2016): „Identitäre Bewegung – Rechte besetzen Brandenburger Tor“ (Deutschlandfunk vom 27.08.2016) > https://www.deutschlandfunk.de/identitaere-bewegung-rechte-besetzen-brandenburger-tor.2852.de.html?dram:article_id=364236 > (18.09.2021).
- Deutschlandfunk (2020): Gesperrte Social-Media-Konten – „Ein erheblicher Einschnitt“ für die Identitäre Bewegung (Deutschlandfunk vom 13.07.2020) < https://www.deutschlandfunk.de/detail-mediasres.2907.de.html?dram:article_id=480459+%3B+https%3A%2F%2Fwww.zeit.de%2Fdigital%2Finternet%2F2020-07%2Frechtsextremismus-identitaere-bewegung-youtube-sperrung-konten > (25.09.2021).
- Duwe, S.; Humbs, C. & Jalilevand, P. (2021): Rechte Telegram-Gruppen – Der Netzwerker (tagesschau vom 15.04.2021) < https://www.tagesschau.de/investigativ/kontraste/querdenken-internet-101.html > (27.09.2021).
- Fleischmann, L. (2021): „Eine Gamefizierung von Terror“ (taz vom 01.05.2021) < https://taz.de/Game-Expertin-ueber-die-Spiele-der-Nazis/!5763526/ > (26.09.2021).
- Identitäre Bewegung (2017): Metapolitik: Die Reconquista geht weiter (Identitäre Bewegung vom 30.09.2017) < https://www.identitaere-bewegung.de/blog/metapolitik-die-reconquista-geht-weiter/ > (23.09.2021).
- Identitäre Bewegung (2021): Verfassungsschützer – Wir schützend die Verfassung (Identitäre Bewegung) < https://www.identitaere-bewegung.de/projekte/verfassungsschuetzer/ >
- Kubitschek, G. (2006): Provokation! (sezession vom 01.01.2006) < https://sezession.de/6174/provokation > (25.09.2021).
- Landtag Baden-Württemberg (2020): Drucksache 16/8745 (Landtag Baden-Württemberg vom 03.09.2020) < https://www.landtag-bw.de/files/live/sites/LTBW/files/dokumente/WP16/Drucksachen/8000/16_8745_D.pdf > (25.09.2021).
- Ministerium des Inneren, für Digitalisierung und Kommunen Baden-Württemberg (2021): Verfassungsschutzbericht 2020 (Ministerium des Inneren, für Digitalisierung und Kommunen Baden-Württemberg vom 01.05.2021) < https://www.verfassungsschutz-bw.de/site/pbs-bw-lfv-root/get/documents_E-224439228/IV.Dachmandant/Datenquelle/PDF/2021_Aktuell/Verfassungsschutzbericht_BW_2020.pdf > (20.09.2021).
- Pfahl-Traughber, A. (2019): Was die „Neue Rechte“ ist – und was nicht (Bundeszentrale für politische Bildung vom 21.01.2019) < https://www.bpb.de/politik/extremismus/rechtsextremismus/284268/was-die-neue-rechte-ist-und-was-nicht > (23.09.2021).
- ZEIT ONLINE (2019): Identitäre Bewegung ist eindeutig rechtsextremistisch (ZEIT ONLINE vom 11.07.2019) < https://www.zeit.de/politik/deutschland/2019-07/verfassungsschutz-identitaere-bewegung-rechtsextremismus-einstufung > (27.09.2021).
- ZEIT ONLINE (2020): Identitäre Bewegung darf „gesichert rechtsextrem“ genannt werden (ZEIT ONLINE vom 23.07.2020) < https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2020-06/identitaere-bewegung-rechtsextremismus-verfassungsschutz-berliner-verwaltungsgericht > (27.09.2021).
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