Donnerstag, 6. August 2020

Chronologie: Anschlag in Halle (2019)

Dies ist ein Hintergrundtext von Markus Schüle zu folgendem Eintrag in der Chronologie:

2019: Antisemitischer Anschlag in Halle

Am 9. Oktober 2019 wird Deutschland aufgeschreckt: Ein 27-jähriger Rechtsextremist versucht gegen 12 Uhr, mit selbstgebauten Waffen und Sprengkörpern in die Synagoge in der Humboldtstraße in Sachsen-Anhalts Halle einzudringen. Sein Ziel: So viele Juden umzubringen wie möglich. Dabei hat er bewusst den Jom Kippur Feiertag ausgewählt, an dem viele Menschen in die Synagoge gehen.

Über eine Smartphonekamera, die an seinem Helm befestigt ist, streamt der Attentäter seinen Anschlag zusätzlich live im Internet. Nach den Aussagen eines Augenzeugen, der zu den etwa 60 Gottesdienstteilnehmenden gehörte, versucht sich der Angreifer mit seinem Gewehr, Granaten und Molotowcocktails Zugang zum Gotteshaus zu verschaffen.

Die 40-jährige Passantin Jana L., die den „Störenfried“ direkt nach dem ersten fehlgeschlagenen Versuch anspricht, fällt diesem tödlich ins Visier: von mehreren Schüssen getroffen stirbt sie direkt am Tatort. Da es dem schwerbewaffneten Mann nicht möglich ist, durch die Tür des jüdischen Gotteshauses zu gelangen, ergreift er mit seinem Auto die Flucht und hält nach 45 Sekunden in der Ludwig-Wucherer-Straße vor einem Döner-Imbiss. Dort schießt er scheinbar willkürlich auf mehrere Passanten. Der 20-jährige Kevin S. wird zunächst verletzt im Dönerladen zurückgelassen. Doch nach missglückten Versuchen, andere Passanten zu verfolgen, erscheint der Attentäter dort erneut und erschießt ihn.

Anschließend kommt es zu einem Schusswechsel mit der Polizei, die in der Zwischenzeit in der Ludwig-Wucherer-Straße eingetroffen war. Dem verwundeten Rechtsterroristen gelingt es jedoch, mit seinem Auto zu entkommen. Auf seiner Flucht stiehlt der Täter bei einer Autowerkstatt in Wiedersdorf ein Taxi und lässt sein mit Sprengstoff beladenes Auto zurück. Auf der B 91 Richtung München gerät er in einen Unfall mit einem LKW. Dort erfolgt die Festnahme.


Durch diesen Vorfall stellt sich die dringende Frage, wie es möglich ist, dass der Antisemitismus in Deutschland 75 Jahre nach der Befreiung vom Nationalsozialismus und dem Holocaust noch immer präsent ist. Die komplexe Ursache dieses gesellschaftlichen Problems lässt sich nicht vollständig, aber beispielhaft anhand des Anschlags beschreiben.

Die polizeilichen und juristischen Ermittlungen werfen verschiedene Fragen zum Motiv des Anschlags auf. Der Angeklagte teilte die Gesinnung, welche beschreibt, dass die Welt durch die "jüdische Finanzelite" regiert werde, die schuld an der Masseneinwanderung sei und zudem die Geburtenrate von weißen Kindern durch den Feminismus senken möchte. Ebenfalls beeinflusst von anderen Rechtsterroristen, wie beispielsweise den von Christchurch, hatten diese Verschwörungsmythen den Täter soweit beeinflusst, dass er seinen rassistischen Hass durch brutale Gewalt zum Ausdruck brachte.

Bei der Frage, wie eine derartige Radikalisierung entstehen kann, kommen auch anonyme Online-Foren zur Sprache, sogenannte Imageboards: Dort sei es durch die enthemmende Wirkung der Anonymität möglich, dass Nutzer mehr aus dem Affekt heraus handeln beziehungsweise schreiben und verschiedene Verschwörungs- und Hassideologien teilen, ohne dafür erkannt oder direkt kritisiert zu werden.

Antisemitismus und Verschwörungsmythen, wie beispielsweise die Leugnung des Holocaust, sind nicht nur ein Internet- oder Gesellschaftsproblem, sondern auch ein politisches, denn beide Phänomene stehen in einem engen Zusammenhang mit Anhängern der Partei Alternative für Deutschland (AfD). Mit dem Einzug der AfD in den Bundestag sind nun Anhänger dieser Ideologien politische Akteure geworden, die mit diesem Gedankengut die Politik des deutschen Staates mitsteuern möchten. Nicht umsonst warnt der Zentralrat der Juden in Deutschland vor der rechtspopulistischen Partei.

Rechtspopulisten in der Gesellschaft und der Politik sind durch eine antielitäre und antipluralistische Haltung gekennzeichnet, die den Anspruch erheben, dem „wahren Volk“ anzugehören und die moralischen Alleinvertreter von diesem zu sein (vgl. Müller, 2016). Neben dem mangelhaften Polizeischutz der Synagoge in Halle stand nach dem Vorfall auch die AfD in der Kritik. Unter anderem weil der sächsische Landtagsabgeordnete Roland Ulbrich von der AfD das rechtsextreme Attentat als „Sachbeschädigung“ verharmloste.

Das Videomaterial liefert bei der polizeilichen und juristischen Ermittlung eine ausführliche Datenbasis. Die strafrechtliche Ermittlung zum rechtsterroristischen Attentat dauern in Magdeburg noch an (Stand 03.08.20). Dem Verdächtigen wird zweifacher Mord, versuchter Mord in 68 Fällen, fahrlässige und gefährliche Körperverletzung, versuchte räuberische Erpressung mit Todesfolge und schwere räuberische Erpressung sowie Volksverhetzung (durch die Liveübertragung des Attentats) vorgeworfen.

Zuletzt berichteten am 28. Juli 2020 die Tagesthemen über den Einbau der neuen Synagogentür. Aus der alten Tür, an der die Einschusslöcher sichtbar sind, soll nun ein Denk- und Mahnmal für alle entstehen, sodass einerseits an das Wunder der Standfestigkeit der Tür erinnert wird, andererseits der Kampf gegen Antisemitismus aufrechterhalten, aber auch an die erinnert wird, die beim antisemitischen Terroranschlag ihr Leben verloren haben.

Quellen

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