Rezension
Autor: Helge Wilhelm
“Hillbilly Elegy” ist ein sehr facettenreiches Buch über die “white working class” in den Vereinigten Staaten und gibt einen sehr genauen und sehr persönlichen Einblick in die Gedanken- und Lebenswelt einer Kultur und gesellschaftlichen Schicht, von der Vance sagt, sie befinde sich in einer tiefen Krise.
Vance verfolgt drei unterschiedliche Handlungsstränge in seinem Buch. Erstens einen biografischen Teil über seine Familie und Angehörigen, in dem er schonungslos über Gewalt, familiäre Zerrüttung, Drogenmissbrauch, ökonomische Unsicherheit und Abstieg sowie eine schwerwiegende Segregation der „Hillbillies“ vom Rest der amerikanischen Gesellschaft spricht.
Zweitens einen autobiografischen Teil über sein eigenes Leben. Wie er es erlebte, in dieser Welt aufzuwachsen, über seine Beziehung zu seiner drogensüchtigen Mutter und seine Beziehung zu seinen Großeltern, von denen er sagt, sie hätten ihm wohl das Leben gerettet, und ohne deren Einfluss er wohl so geendet wäre wie so viele aus seinem Umfeld. Im Gefängnis, mit unehelichen Kindern schon im Teenageralter, ohne Schulabschluss und ohne Perspektive dieses Leben eines Tages hinter sich lassen zu können.
Drittens untermauert er viele seiner Geschichten und Anekdoten aus seinem Leben mit Zahlen und Statistiken, um aufzuzeigen, dass es sich hier um ein Problem nicht nur einiger weniger „Versager“ handelt, sondern um ein Problem, das weite Teile der amerikanischen Unterschicht betrifft und sich über Generationen hinweg zu tradieren scheint, und das ohne Aussicht auf Besserung. In diesem eher sachlich gehaltenen Teil zeigt Vance auf, dass wenn sich Amerikas Gesellschaft nicht einigen sehr unangenehmen Wahrheiten zu stellen bereit ist, Donald Trump nur ein geringfügiges Symptom einer beispiellosen Erosion weiter Teile der Gesellschaft sein wird.
Vance beginnt seine Erzählung mit seiner Familie, die in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts von Kentucky nach Ohio zieht, um dort in der boomenden Industrie, hauptsächlich verarbeitendes Gewerbe, zu arbeiten und den amerikanischen Traum zu leben. Er fährt fort mit seinen Großeltern, die gleiches versuchen und auch relativ erfolgreich dabei sind, bis die eigenen Eltern anfangen, Probleme zu haben. Drogen und Scheidung sind der Beginn einer sich abzeichnenden Krise der weißen Arbeiterklasse:
„Of course the prospects for working-class whites have worsened, J.D., but you’re putting the chicken before the egg. They’re devorcing more, marrying less, and experiencing less happiness because their economic oppurtunities have declined. If they only had better access to jobs, other parts of their lives would improve as well.”Diese Kernthese zieht sich durch das ganze Buch und ist wohl Ursache so gut wie aller Probleme dieser gesellschaftlichen Schicht, die im Endeffekt zur Hinwendung an rechtspopulistische Demagogie geführt hat. Von großem Interesse ist an dieser Stelle auch, dass die Hillbillies zwar unglaublich patriotisch sind, aber keine besonders hohe Meinung von ihrem eigenen Land haben.
Die Wirtschaft sei schlecht, die Ausländer ruinierten das Land und Eliten seien alle korrupt und nur sich selbst verpflichtet. Eine beträchtliche Anzahl an Amerikanern ist davon überzeugt, dass die eigene Regierung ihre Finger bei 9/11 im Spiel gehabt hatte. Eine der ersten Fake News unserer Zeit. Wenn also weite Teile der Gesellschaft das glauben, so ist es nicht verwunderlich, dass sie auch alles glauben, was Trump sagt, denn das ist von weit weniger Tragweite als die Anschläge vom 11. September 2001.
J.D. Vance gibt aber dem Leser auch eine ganz klare Botschaft mit auf den Weg: Wir sollten nicht zu viel Mitleid oder Verständnis für diese Menschen aufbringen!
Und da kommt er auch zu den unangenehmen Wahrheiten. Diese reichen von falscher Erziehung, die Aufgabe der Eltern ist, über die erwiesene Tatsache, dass gläubige Menschen - und Hillbillies sind nicht gläubig, sie geben es nur vor zu sein - ein besseres Leben führen, WEIL sie gläubige Christen sind, bis hin zu der simplen Wahrheit, dass es früher völlig normal war, umzuziehen, wenn der Boom in einem bestimmen Landstrich zu Ende war. So haben die USA nämlich ihren unglaublichen Wohlstand erarbeitet. Sie sind einfach dem Geld hinterher gezogen. Hillbillies haben damit nach dem Zweiten Weltkrieg aufgehört und sind nun gefangen in einer teuflischen Spirale aus Armut und schlechten Perspektiven, die zu Drogenmissbrauch u.a. führen. Soziale Mobilität ist in den USA sehr wörtlich zu verstehen.
Diese und noch viele andere Gründe, wie zum Beispiel die so genannten „echo chambers“ in den Medien der USA, sind ausschlaggebend gewesen für die große Unterstützung, die Donald Trump als Politiker bei der weißen Arbeiterschicht bis heute genießt.
Als persönliches Fazit kann ich sagen, dass Hillbilly Elegy ein überaus aufschlussreiches, weil sehr persönliches Buch ist. Es vermittelt einen tiefen Einblick in die Strukturen, sowohl gesellschaftliche als auch politische, der Vereinigten Staaten von Amerika. Es zeigt auf, wie es sein kann, dass linke Stammwähler scharf nach rechts drehen, um sich Gehör zu verschaffen, und beleuchtet damit die nachhaltige Erosion der politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in den USA.
Kritisch zu sehen ist, dass das Buch an manchen Stellen Sprünge in der Handlung vollzieht, die vor allem im englischen Original nicht immer nachzuvollziehen sind. Das lässt das Buch zeitweise langatmig und wirr erscheinen.
Dennoch ist es ein Buch, das uns alle angeht. Die Vereinigten Staaten sind die größte Volkswirtschaft der Welt, es leben über 320 Millionen Menschen dort und sie sind eine bis an die Zähne bewaffnete Atommacht, der sich kein Land auf der Welt ernsthaft widersetzen könnte. Donald J. Trump ist der mächtigste Mensch der Welt, und es ist das Recht und das Privileg der amerikanischen Bevölkerung, dieses Amt zu vergeben. Was dort drüben auf der andren Seite des Atlantik passiert, ist für uns so wichtig wie die Luft zum Atmen.
Doch dieses Amt wird seit letztem Jahr von einem ungebildeten und elitären Demagogen ausgeübt, der kein anderes Interesse hat als sich selbst. Hier den Finger in die Wunde zu legen, hat J.D. Vance gemacht und das ist auch richtig so.
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