Die
Ausgabe 13/2017 der Zeitschrift "
Aus Politik und Zeitgeschichte" widmet sich unter dem Oberbegriff "Wahrheit" einigen Themen rund um "fake news" oder "postfaktisches Zeitalter", die für das Verständnis des Populismus wichtig sind. Das gilt insbesondere für die ersten beiden Aufsätze:
So schreiben die beiden Autoren des erstgenannten Aufsatzes unter der Überschrift "Virale Narrative als politische Strategie" (S. 8):
So zeichnet sich etwa der Populismus, der derzeit in vielen westlichen
Demokratien immer mehr Wählerinnen und Wähler mobilisieren kann, durch
den Gebrauch ausgrenzender und polarisierender Narrative aus. Seine
Argumentationsmuster folgen dem Schema "Wir gegen die Anderen", das in
der gegenwärtigen Medienlandschaft regelrecht darauf zugeschnitten ist,
Aufmerksamkeit zu erregen und Themen zu setzen.
Populisten behaupten, sie – und nur sie allein – vertreten den wahren Willen des Volkes. Konzeptionell teilen sie zum einen die Bevölkerung in das "echte Volk"
und die "Anderen" auf und zum anderen die politischen Akteure in
Repräsentantinnen und Repräsentanten des "echten Volkes" und der
"Anderen". Mit den "Anderen" können Einwanderer gemeint sein, die
angeblich nationale Sicherheit, Identität und Werte bedrohen, oder auch
politische Eliten in Brüssel oder Washington, die "das Volk"
hintergehen. Der Begriff kann aber auch auf die etablierten Massenmedien
zielen, die regelmäßig beschuldigt werden, die Wahrheit zu verbergen,
um das Volk zum Schweigen zu bringen. Wer gegen die Populisten ist, so
das Metanarrativ, ist gegen das Volk und entbehrt daher einer
demokratischen Legitimität.
Diese narrative Struktur des "Wir gegen die Anderen" erzeugt
effektiv Empörung, Wut und Angst. Berichte, die solchen Gefühlen
Vorschub leisten, haben eine starke Tendenz, sich auszubreiten, und
erzeugen daher große Aufmerksamkeit. Stimmungslagen aus negativen Empfindungen wie Wut und Angst in
Kombination mit positiven Gefühlen der Ehrfurcht und Faszination
motivieren zum Handeln, anders als etwa Trauer oder Geborgenheit, die
als Gefühle gelten, die Aktivität hemmen. In einer Onlineumgebung
bedeutet Handeln auch Teilen, Retweeten, Liken und andere Aktivitäten,
die die Verbreitung von Medieninhalten beschleunigen. Wer möchte, dass
sich ein Content viral verbreitet, muss also auf Verärgerung und/oder
Beängstigung setzen. Ob dabei Tatsachen und die dazu verfügbaren
relevanten Fakten adäquat wiedergegeben werden, ist für die politischen
Auswirkungen nachrangig.
(...) Durch den selektiven
Gebrauch von Fakten und vereinfachende Schuldzuweisungen, die sich beide
hervorragend für die massenhafte Verbreitung eignen und als
Aufmerksamkeitsmagnet wirken, kann der Populismus gerade zur gewinnenden
politischen Strategie in der postfaktischen Demokratie werden. In
diesem Fall steht die Demokratie vor einer tiefen Krise.
Peter Weingart beginnt seine Ausführungen folgendermaßen (S. 11):
Die derzeit verbreitete Rede vom "postfaktischen Zeitalter" bezieht sich
unter anderem auf die Beobachtung, dass vor allem Vertreterinnen und
Vertreter populistischer Parteien sich bei ihren Äußerungen nicht mehr
an Fakten halten, sondern sich über etabliertes Wissen hinwegsetzen und
bisweilen auch schlicht lügen. Das reicht von der Leugnung ihrer eigenen
Aussagen aus der Vergangenheit, die sich leicht belegen lassen, bis zur
Leugnung wissenschaftlicher Erkenntnisse wie des anthropogenen
Klimawandels, die nicht ganz so einfach zu überprüfen sind. Darüber
hinaus verunglimpfen sie die Medien, sprechen von einer Verschwörung der
"Lügenpresse" und unterminieren damit die Glaubwürdigkeit einer für die
Demokratie zentralen Institution. Zugleich gerieren sie sich als
Verteidiger demokratischer Rechte wie der freien Meinungsäußerung und
fordern mehr "direkte" Demokratie. Mit diesem Verhalten mobilisieren sie
zahlreiche Wählerinnen und Wähler.
Was ist in unsere Gesellschaft gefahren, dass sie Journalisten
und Wissenschaftlerinnen nicht mehr vertraut und anfällig für
Rattenfänger geworden ist? Diese Frage stellt sich umso eindringlicher
vor dem Hintergrund, dass Sozialwissenschaftler vor nicht allzu langer
Zeit den Übergang von der Industrie- zur Wissensgesellschaft verkündet
haben.
In der Wissensgesellschaft zählt Wissen als wichtigste Produktivkraft:
Wissenschaftliches Wissen, also "wahres" beziehungsweise verlässliches
Wissen, ist von zentraler Bedeutung für den gesellschaftlichen
Fortschritt.
Tatsächlich zeigt die Beunruhigung über den sich verbreitenden
Populismus und Antiintellektualismus zweierlei: Zum einen hat die
moderne Wissenschaft und die mit ihr einhergehende Rationalität in den
modernen Gesellschaften seit der Aufklärung eine immer größere Autorität
als Institution erlangt – sonst würde die Leugnung von "Fakten" nicht
auf derart heftige Reaktionen stoßen. Zum anderen ist man sich der
Fragilität der Demokratie bewusst. Zwar gilt die Demokratie als die
beste aller Regierungsformen, weil sie den Gefahren des Machtmissbrauchs
am effektivsten entgegenwirkt und den Interessenausgleich aller
Mitglieder einer Gesellschaft am erfolgreichsten zu gewährleisten
vermag. Das urdemokratische Prinzip der Mehrheitsentscheidung hat
allerdings, wenn es in größeren Gemeinschaften realisiert wird, eine
Schwäche: Es ist anfällig für Emotionalisierung, Skandalisierung, kurz:
für Propaganda und darauf gründende Ad-hoc-Entscheidungen.
Unter anderem um dieser Gefahr zu begegnen, ist das Konzept der
repräsentativen Demokratie entwickelt worden, das heute für fast alle
modernen Demokratien konstitutiv ist. Die Wahl von Repräsentantinnen und
Repräsentanten, die in Parlamenten über die anfallenden politischen
Fragen entscheiden, wirkt als moderierender Mechanismus. Entscheidungen
werden auf ihre Akzeptabilität unter den im Parlament vertretenen
Gruppierungen geprüft, aber zugleich auch auf ihre Voraussetzungen und
ihre vorhersehbaren Folgen, soweit es das verfügbare Wissen erlaubt.
Politik legitimiert sich also nicht nur durch Wahlen, sondern auch durch
ihre Rationalität. Widerspricht sie eklatant empirischer Evidenz, wird
das entweder beim nächsten Urnengang oder durch einen obersten
Gerichtshof sanktioniert.
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