Freitag, 18. Juli 2025

EU-Mitglied, aber Anti-EU? – Der ungarische Rechtspopulismus und sein Verhältnis zu Brüssel

Die Transformation der Partei Fidesz unter der Führung von Viktor Orbán von einer ursprünglich liberalen Partei hin zu einer rechtspopulistischen Bewegung ist ein Beispiel für die gezielte Neuausrichtung politischer Programme zugunsten einer nationalistischen und EU-skeptischen Rhetorik. Durch die konsequente Umdeutung des politischen Diskurses auf Themen der nationalen Souveränität und Identität wurde ein Rahmen geschaffen, der nicht nur die Mobilisierung der Wählerschaft erleichterte, sondern auch Loyalität innerhalb der Stammwählenden stärkte. Diese Strategie verband sich mit einer Abkehr von sogenannten „westlichen“ Einflüssen und einer Betonung einer kulturellen Eigenständigkeit Ungarns (vgl. Juhász/Krekó/Szabados 2005; Grajczjár 2019).

Nach dem Wahlsieg 2010 konnte Viktor Orbán mit einer Zweidrittelmehrheit seine politische Dominanz ausbauen und nutzte diese Macht, um zentrale Institutionen wie das Verfassungsgericht, den Medienrat und die Wahlkommission durch regierungstreue Akteure zu besetzen. Diese gezielten Eingriffe dienten nicht allein der kurzfristigen Machtsicherung, sondern trugen maßgeblich zur Etablierung rechtspopulistischer Herrschaftsmechanismen bei. Die Umstrukturierung des institutionellen Gefüges führte zu einer langfristigen Stabilisierung der Kontrolle über den Staat und machte das institutionelle Machtinstrument zu einem zentralen Bestandteil der politischen Strategie (vgl. Juhász/Krekó/Szabados 2005).

Eine weitere Schlüsselstrategie der ungarischen Regierung war die gezielte Kontrolle der Medien. Die zunehmende Konzentration regierungsnaher Eigentümerschaften in der Medienlandschaft ging einher mit der Marginalisierung kritischer Medienhäuser. Dies verschob das öffentliche Meinungsspektrum nachhaltig zugunsten der politischen Agenda der Regierungspartei, ermöglichte die effektive Wahlmobilisierung und trug zur Verbreitung rechtspopulistischer Narrative bei (vgl. Németh/Girndt 2023).

Die Entwicklung des Fidesz-Systems unterstreicht die Effektivität langfristiger Machtkonsolidierung in rechtspopulistischen Bewegungen. Auch über Wahlzyklen hinaus gelang es, die Dynamik des Populismus zu institutionalisieren, was auf eine strukturelle und nicht nur temporäre Dimension rechtspopulistischer Politik hinweist (vgl. Grajczjár 2019). Dabei war ein Generalnarrativ, das nativistische und bedrohungsbasierte Elemente beinhaltete, zentral für die Legitimation der Regierungspartei. Ungarn wurde als Schutzmacht seiner Nation inszeniert, was durch die Fokussierung auf Bedrohungen wie Migration oder vermeintliche „fremde“ Einflussnahmen untermauert wurde. Damit wurde ein kollektives Wir-Gefühl verstärkt und eine klare Abgrenzung gegenüber „Anderen“ geschaffen (vgl. Pytlas 2019).

Die politische und gesellschaftliche Instrumentalisierung von Bedrohungsszenarien wie der sogenannten „Flüchtlingskrise“ 2015 war ein zentraler Bestandteil der rechtspopulistischen Strategie. Fidesz konnte nicht nur den öffentlichen Diskurs dominieren, sondern auch dazu beitragen, dass konventionelle Parteien nativistische Positionen übernahmen. Dies führte zu einer generellen Verschiebung des politischen Spektrums nach rechts (vgl. Pytlas 2019). Die Verbindung von Identitäts- und Sicherheitspolitik mit narrativen Angriffen auf demokratischen Werte ermöglichte es der Partei, sich als einzige legitime Verteidigerin nationaler Interessen zu inszenieren. Parallel dazu wurde durch die klare Ablehnung von „westlichen“ und liberalen Integrationsmodellen das europäische Projekt zunehmend infrage gestellt (vgl. Pytlas 2019).

Die bewusste Darstellung politischer Entscheidungen als „Kompetenzpolitik“, abseits ideologischer Motive, stärkte das Vertrauen der eigenen Wählenden in die Regierung und verschaffte der Partei einen strategischen Vorteil gegenüber anderen politischen Akteuren. Die technokratische Darstellung nativistischer Narrative sicherte Fidesz nicht nur langfristig Rückhalt, sondern schuf auch ein Diskursmonopol, das den Wettbewerb verzerrte (vgl. Pytlas 2019). Gleichzeitig führte die schrittweise Einschränkung der Unabhängigkeit der Justiz, etwa durch die Ernennung regierungsnaher Richter und die systematische Umstrukturierung des Justizwesens, zu einer deutlichen Schwächung der Gewaltenteilung. Diese Eingriffe untergraben nicht nur rechtsstaatliche Strukturen, sondern beeinflussen auch die Integrationsfähigkeit der EU negativ, indem sie den gemeinsamen Wertekonsens infrage stellen (vgl. Becker 2017; Németh/Girndt 2023).

Die Medienfreiheit in Ungarn wurde durch die Konzentration regierungsnaher Eigentumsstrukturen erheblich eingeschränkt. Übernahmen, Schließungen und Fusionen im Mediensektor trugen zu einer kontrollierten Meinungsbildung bei, die jede oppositionelle Kritik erschwerte. Diese Maßnahmen spiegeln sich in internationalen Rankings wider, die die drastischen Rückschritte Ungarns bei der Medienfreiheit dokumentieren (vgl. Németh/Girndt 2023).

Die Institutionalisierung von Kontrollmechanismen innerhalb staatlicher Institutionen und ihre Besetzung mit loyalem Personal ermöglichten der Regierung eine dauerhafte Einflussnahme auf Verwaltung und Gesetzgebung. Diese systematische Strategie schränkte oppositionelle und zivilgesellschaftliche Akteure erheblich ein. Die Folgen beschränken sich jedoch nicht auf Ungarn selbst, sondern wirken sich auch auf die gesamte EU aus, indem sie die Wertepluralität und demokratische Prinzipien der Gemeinschaft gefährden (vgl. Becker 2017; Németh/Girndt 2023).

Parallel dazu wurde die nationale Identitätsbildung durch eine konservative Gesellschaftspolitik gestärkt, die progressive Themen bewusst ausgrenzte. Ein konkretes Beispiel hierfür ist die Schließung von Gender-Studies-Programmen an der Universität ELTE im Jahr 2018. Diese Maßnahme zeigt, wie politische Eingriffe in den akademischen Diskurs genutzt wurden, um konservative Gesellschaftsvorstellungen zu fördern (vgl. Perintfalvi 2019).

Gleichzeitig setzte die Regierung wirtschaftsnationalistische Maßnahmen um, die ungarische Unternehmen förderten und ausländische Akteure in strategischen Sektoren zurückdrängten. Diese Politik wurde durch eine anti-europäische Rhetorik legitimiert, die nationale Interessen über die Solidarität innerhalb der EU stellte (vgl. Becker 2017). Die soziale Ungleichheit nahm seit 2010 deutlich zu, da wirtschaftspolitische Maßnahmen auf Wachstum und Beschäftigung setzten, jedoch soziale Sicherungssysteme vernachlässigten. Dies wurde von der Regierung genutzt, um die Wählerschaft weiter an sich zu binden (vgl. Juhász/Krekó/Szabados 2005).

Durch die Verknüpfung gesellschafts- und wirtschaftspolitischer Ansätze gelang es Fidesz, sowohl sozialkonservative als auch wirtschaftliche Interessen zu adressieren. Diese integrative politische Strategie trug entscheidend zur langfristigen Machtkonsolidierung bei (vgl. Becker 2017). Die Betonung eines christlichen Europas als Gegenbild zur als dekadent dargestellten EU war ein weiterer zentraler Bestandteil der rechtspopulistischen Strategie. Diese Instrumentalisierung christlicher Werte schuf gesellschaftlichen Rückhalt und verstärkte symbolisch die Spaltung zwischen Ungarn und der EU (vgl. Hillebrand 2024).

Die gesellschaftliche Polarisierung wurde durch die enge Zusammenarbeit zwischen Kirche und Regierung weiter verschärft. Diese Allianz nutzte religiöse und kulturelle Narrative, um oppositionelle Kräfte als „antipatriotisch“ zu diffamieren und die politische Fragmentierung voranzutreiben (vgl. Perintfalvi 2019; Hillebrand 2024). Trotz eines europaweiten Rückgangs rechtspopulistischer Einstellungen zeigt sich in Ungarn ein entgegengesetzter Trend hin zu stärkeren nativistischen und autoritaristischen Überzeugungen. Diese Entwicklung verdeutlicht, dass Durchschnittswerte auf EU-Ebene die spezifischen Risiken für die europäische Integration in einzelnen Ländern unterschätzen können (vgl. Gaubinger 2020).

Das ungarische Beispiel zeigt eindrücklich, wie politisches Agenda-Setting und gesellschaftliche Meinungsbildung in einem wechselseitigen Zusammenspiel eine spezifische Dynamik schaffen, die den ungarischen Rechtspopulismus innerhalb des europäischen Kontextes besonders macht.

Auswirkungen auf die EU-Integration

Die Einschränkung der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn hat innerhalb der Europäischen Union erhebliche Spannungen ausgelöst. Besonders hervorzuheben ist die eingeschränkte Unabhängigkeit der Justiz, die durch gezielte Eingriffe der Regierung Orbán untergraben wurde. Ein zentrales Beispiel ist die rechtliche Sonderstellung für Mitglieder des Parlaments und der Regierung, die trotz paralleler Tätigkeiten in öffentlichen „Trusts“ weitreichende Zugriffsmöglichkeiten auf EU-Fördermittel haben, ohne dass adäquate Regelungen zur Vermeidung von Interessenkonflikten existieren (vgl. Baade 2022; Bossong/Trebeljahr 2024). Diese systematische Umgehung zentraler rechtsstaatlicher Prinzipien gefährdet nicht nur die demokratische Struktur in Ungarn, sondern unterminiert die Legitimität der EU als Wertegemeinschaft. In Reaktion darauf führte die Europäische Kommission 2022 einen neuen Konditionalitätsmechanismus ein, der die Auszahlung von EU-Geldern an die Einhaltung rechtsstaatlicher Kriterien bindet. Ungarn wurde daraufhin mit einem exemplarischen Entzug von 65 Prozent der Fördermittel für bestimmte Kohäsionsprogramme konfrontiert – ein Präzedenzfall innerhalb der EU, der die Dringlichkeit solcher Maßnahmen untermauert (vgl. Baade 2022; Priebus 2023). Allerdings zeigen sich die Grenzen dieses Mechanismus in der Praxis: Reformen erfolgen oft nur kosmetisch, um Gelder teilweise freizugeben, ohne langfristige strukturelle Veränderungen herbeizuführen (vgl. Bossong/Trebeljahr 2024).

Die institutionellen Maßnahmen der EU verdeutlichen das Spannungsfeld zwischen dem Ziel, Integrität und Werte zu sichern, und dem Risiko, durch Sanktionen die innerstaatliche Zustimmung zur EU weiter zu schwächen. Das gezielte Einfrieren von Fördermitteln dient dabei nicht nur als Disziplinierungsinstrument, sondern sendet ein Signal an andere Mitgliedstaaten mit ähnlichen Tendenzen. Allerdings besteht die Gefahr, dass diese Strategie die Akzeptanz zentraler Integrationsmechanismen langfristig beeinträchtigt (vgl. Priebus 2023). Die Einführung finanzieller Konditionalität zeigt, dass die EU zunehmend auf restriktive Mechanismen zurückgreift, jedoch bleibt fraglich, ob diese Strategie allein ausreicht, um die Systematik autoritärer Regierungsführung nachhaltig zu unterbinden.

Die Gründung der „Sovereignty Protection Authority“ (SPO) im Jahr 2024 stellt einen neuen Tiefpunkt in der Auseinandersetzung zwischen der ungarischen Regierung und der EU dar. Diese Institution, die weitreichende Überwachungs- und Eingriffsrechte im Hinblick auf zivilgesellschaftliche Organisationen und politische Akteur*innen hat, wird von Beobachtenden als weiteres Instrument zur Einschränkung pluralistischer Diskurse und zur Schwächung demokratischer Grundrechte angesehen (vgl. Amnesty International/Hungarian Helsinki Committee 2024). Besonders problematisch ist die Beseitigung finanzieller Unabhängigkeit von zivilgesellschaftlichen Organisationen, da das neue Gesetz den Empfang von ausländischen Geldern im Wahlkampf kriminalisiert. Dies verletzt nicht nur zentrale EU-Grundsätze, sondern schränkt auch die demokratische Teilhabe massiv ein (vgl. Amnesty International/Hungarian Helsinki Committee 2024). Parallel dazu wurden verfassungsrechtliche Änderungen vorgenommen, die die Kompetenzen der SPO verankern und eine nachträgliche Anpassung an europäische Standards nahezu unmöglich machen. Die Regierung Orbán inszeniert solche Maßnahmen unter dem Deckmantel des Schutzes nationaler Souveränität, wodurch die EU als Bedrohung dargestellt und unabhängige Akteur*innen systematisch delegitimiert werden. Diese Strategie verstärkt die Polarisierung und erschwert eine demokratische Rückkehr zu rechtsstaatlichen Prinzipien.

Im Kontext der wirtschaftlichen Abhängigkeit von der EU zeigt sich eine weitere zentrale Widersprüchlichkeit der ungarischen Regierungspolitik. Trotz nationalistischer Rhetorik ist die ungarische Wirtschaft stark in die ökonomischen Strukturen der EU integriert. Besonders auffällig ist die hohe Abhängigkeit von deutschen Handelsbeziehungen, die 26,3 Prozent der Exporte und 22,6 Prozent der Importe ausmachen (vgl. Szabó 2024). Auch die Modernisierung der ungarischen Infrastruktur und der Energiesektor sind in erheblichem Maße von EU-Förderprogrammen abhängig. Der Einbehalt von rund 30 Milliarden Euro an Fördermitteln bringt die Vulnerabilität der ungarischen Wirtschaft in politischen Konflikten deutlich zum Vorschein (vgl. Bossong/Trebeljahr 2024). Gleichzeitig betont die ungarische Regierung in ihrer Außendarstellung primär nationale Souveränität und verschleiert die realen wirtschaftlichen Vorteile der EU-Mitgliedschaft. Diese Diskrepanz zwischen wirtschaftlicher Integration und politischer Abgrenzung wird besonders in der Energiepolitik sichtbar: Infrastrukturprojekte wie die Modernisierung der Stromnetze hängen maßgeblich von europäischen Förderprogrammen ab, was die paradoxe Abhängigkeit Ungarns unterstreicht (vgl. Szabó 2024). Diese Strategie dient der Regierung dazu, die Vorteile der EU-Mitgliedschaft zu nutzen, während sie gleichzeitig die öffentliche Meinungsbildung durch anti-europäische Narrative kontrolliert.

Die Übernahme der EU-Ratspräsidentschaft durch Ungarn im Jahr 2024 bietet der Regierung Orbán die Möglichkeit, die europäische Agenda gezielt national auszurichten. Schwerpunkte wie die Kontrolle von Migration und die Kooperation mit Drittstaaten demonstrieren die selektive Nutzung europäischer Strategien, um das ungarische Souveränitätsnarrativ zu stärken (vgl. Zehnpfund 2024). Gleichzeitig wird die Zusammenarbeit mit den Westbalkan-Staaten als strategische Erweiterung des ungarischen Einflussbereichs genutzt, wobei Integrationsschritte nur dann gefördert werden, wenn sie den eigenen politischen Interessen entsprechen (vgl. Zehnpfund 2024). Diese selektive Herangehensweise wird durch die geplante Reform der Kohäsionspolitik und der Agrarpolitik nach 2027 gestützt, die wirtschaftliche Integration fördert, während politische Integrationsziele gezielt zurückgedrängt werden. Ungarn nutzt die Ratspräsidentschaft somit als Bühne, um nationale Prioritäten voranzutreiben und europäische Werte zu dekonstruieren. Dies schafft eine Spannungsdynamik, die die Solidarität innerhalb der EU belastet und den Europäischen Rat als zentralen Ort gemeinsamer Entscheidungsfindung schwächt.

Die EU setzt verstärkt auf finanzielle Druckmittel, um auf die autoritären Entwicklungen in Ungarn zu reagieren. Durch die Blockade von Fördermitteln wird die politische Bewegungsfreiheit autoritärer Regierungen zwar eingeschränkt, jedoch zeigt sich die Wirksamkeit solcher Maßnahmen als begrenzt. Die Regierung Orbán reagiert auf diese Sanktionen häufig mit symbolischen Reformen, die keine nachhaltigen Veränderungen bewirken (vgl. Priebus 2023). Besonders auffällig ist, dass infrastrukturelle und wirtschaftliche Abhängigkeiten der EU von Mitgliedstaaten wie Ungarn die Durchsetzung der Sanktionen erschweren. Dies führt zu einer paradoxen Situation, in der die EU gezwungen ist, Kompromisse einzugehen, um ihre Handlungsfähigkeit zu sichern, während autoritäre Tendenzen kurzfristig begünstigt werden. Die Forschung zeigt, dass alleinige finanzielle Maßnahmen nicht ausreichen, um einen Wertewandel herbeizuführen. Vielmehr bedarf es einer Kombination aus finanziellen, politischen und zivilgesellschaftlichen Strategien, um nachhaltige Veränderungen zu fördern (vgl. Priebus 2023).

Die Polarisierungsstrategie der ungarischen Regierung wirkt sich nicht nur auf die innenpolitische, sondern auch auf die europäische Ebene aus. Repressive Maßnahmen in Ungarn haben zivilgesellschaftliche Strukturen und mediale Vielfalt stark eingeschränkt, was in der EU zu einer schrittweisen Erosion gegenseitiger Solidarität geführt hat (vgl. Gerhards 2020). Trotz dieser Spannungen zeigen Umfragen, dass ein Großteil der europäischen Bevölkerung weiterhin Wert auf Solidarität und gemeinsame Sicherungssysteme legt, was im Kontrast zur nationalistischen Rhetorik der ungarischen Regierung steht (vgl. Gerhards 2020). Krisen wie die Corona-Pandemie verdeutlichen, dass gesellschaftliche Präferenzen oft nicht mit politischen Agenden übereinstimmen. Beispielsweise wurde Solidarität durch länderübergreifende medizinische Hilfeleistungen erfahrbar, was zeigt, dass der Wert europäischer Zusammenarbeit nach wie vor besteht. Die Abwertung europäischer Werte durch den ungarischen Rechtspopulismus verschärft jedoch die Debatten um nationale Souveränität und setzt der politischen Integration enge Grenzen.

Insgesamt verdeutlicht die Entwicklung Ungarns, wie der ungarische Rechtspopulismus die politischen und wirtschaftlichen Strukturen der EU herausfordert. Dies erfordert eine differenzierte Betrachtung der Mitgliedsstaaten und die Stärkung gesellschaftlicher Akteur*innen, um Integrationsprozesse langfristig zu sichern.

Literaturverzeichnis

Dienstag, 15. Juli 2025

Der Niedergang der Volksparteien: Neue Dynamiken entstehen

Die Parteienstruktur in Deutschland hat sich seit der Gründung der Bundesrepublik stark verändert. Mit dem langsamen, aber stetigen Niedergang der Volksparteien CDU und SPD ist ein Vakuum entstanden, das heute von einer Vielzahl neuer Parteien gefüllt wird. Aktuell sind vor allem jene Parteien erfolgreich in der Wählergewinnung, die sich bewusst und deutlich von den bisher regierenden Parteien abgrenzen. Dies zeigt sich in völlig neuen Koalitionskonstellationen, einer veränderten Debattenkultur und nicht zuletzt in neuen Wahldynamiken bei Bundestags- und Landtagswahlen.

Als es noch Volksparteien gab 

Nach den schrecklichen Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs und einer anschließenden Phase der Unsicherheit, Armut und des Hungers begann mit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland ein neues politisches Zeitalter. Man knüpfte gedanklich an Ideen aus der Weimarer Republik an, verfeinerte diese jedoch – auch unter dem Einfluss der westlichen Besatzungsmächte – zu einem föderalen Staatsaufbau. Ebenso galt die Bildung breit aufgestellter Parteien, insbesondere der CDU und SPD, als eine mögliche Lehre aus der Fragmentierung des Parteiensystems in Weimar.

Die Umstände ab 1949 begünstigten die Herausbildung dieser beiden Volksparteien. Zum einen herrschte durch die deutsche Teilung in Westdeutschland eine vergleichsweise homogene Gesellschaft, da die ostdeutschen Bürgerinnen und Bürger schon vor dem Dritten Reich tendenziell eher die KPD wählten und gesellschaftlich andere Prägungen aufwiesen (vgl. Koß 2025, S. 29). Zum anderen wirkten die Erfahrungen des Nationalsozialismus und der Systemwettbewerb zwischen Ost und West politisch mäßigend (vgl. Koß 2025, S. 30).

Bis in die frühen 2000er-Jahre vereinten CDU und SPD gemeinsam deutlich über die Hälfte der Wählerstimmen auf sich. Doch ein Rückgang war bereits bis zur Wahl 2002 erkennbar: Während sie Anfang der 1970er-Jahre noch 90,7 % der Stimmen auf sich vereinten, waren es 2002 nur noch 69,4 % (vgl. Jun 2025, S. 12). Seitdem hat sich dieser Abwärtstrend beschleunigt – bei der Bundestagswahl 2025 war lange unklar, ob CDU und SPD gemeinsam überhaupt noch eine Sitzmehrheit erreichen würden. Von einer absoluten Mehrheit ist inzwischen keine Rede mehr.

Was uns hierher brachte: die Fragmentierung 

Ein wesentlicher Grund für den langsamen, aber stetigen Bedeutungsverlust der Volksparteien ist die zunehmende Fragmentierung des Parteiensystems. Immer mehr Parteien treten auf, die sich unterschiedlich, teils diffus positionieren. Gleichzeitig brechen die traditionellen Wählerinnenschaften weg. Während die CDU in der Bonner Republik vor allem in traditionsbewussten Milieus, bei Selbstständigen und Arbeitgebern ihre Stammwählerschaft hatte, sprach die SPD vor allem Arbeiterinnen und Gewerkschaftsmitglieder an (vgl. Koß 2025, S. 30).

Seit den 1980er-Jahren sind mit den Grünen, später der Linken, der AfD und dem BSW weitere relevante Parteien in den politischen Wettbewerb eingetreten. Die Folge: Die ehemals großen Volksparteien verlieren den Rückhalt in ihren Stamm-Milieus – wie zuletzt deutlich bei der SPD.

Nicht nur das: Die Zahl potenziell im Bundestag vertretener Parteien schwankte kurz vor der Wahl 2025 zwischen vier (CDU, AfD, SPD, Grüne) und sieben (inkl. Linke, BSW und FDP als Wackelkandidaten). Dies hat erhebliche Auswirkungen auf die Koalitionsmöglichkeiten und erschwert die Regierungsbildung. Auch die parlamentarische Arbeit selbst wird dadurch unberechenbarer.

Brandbeschleuniger: Polarisierung 

Zunehmend offensichtlich ist auch: Die politische Kultur verändert sich durch eine wachsende Polarisierung. Politische Unterschiede werden emotional aufgeladen und stark betont – meist mit dem Ziel, sich vom etablierten politischen „Establishment“ abzugrenzen (vgl. Jun 2025, S. 14). Die AfD scheint diese Strategie besonders wirkungsvoll zu nutzen, doch auch die Linke gewinnt in dieser Hinsicht an Boden.

Eine zentrale Rolle spielen dabei Soziale Medien: Als kostengünstige Möglichkeit zur direkten Ansprache von Wählerinnen und Wählern fördern sie durch kurze, emotionalisierte Inhalte die Verbreitung populistischer Botschaften. Um im Algorithmus sichtbar zu bleiben, werden Debatten oft stark vereinfacht – mit gravierenden Folgen für die politische Auseinandersetzung (vgl. Jun 2025, S. 14).

Wir erleben diesen Wandel auch an uns selbst: Lange, differenzierte Erklärungen langweilen schnell. Bereits nach zwanzig Sekunden erwarten viele Nutzer*innen einen Unterhaltungs- oder Skandaleffekt – bleibt dieser aus, gerät der Inhalt rasch in Vergessenheit. Für die politische Kultur ist das verheerend.

Was an die Stelle tritt: neue Parteien...

Es dominieren zunehmend populistische Inhalte, vereinfachte Sprache und ein scharfes Freund-Feind-Schema. Parteien wie die AfD, aber auch das BSW, setzen bewusst auf Abgrenzung von den politischen Eliten. Herausforderer-Parteien wachsen daher derzeit besonders schnell (vgl. Jun 2025, S. 15f.).

Zehn Jahre nach ihrer Gründung ist die AfD zweitstärkste Kraft im Bund und in Thüringen sogar mit Abstand stärkste Partei. Das BSW verfehlte zwar auf Bundesebene die Fünf-Prozent-Hürde, erzielte jedoch beachtliche Erfolge: In zwei Bundesländern übernahm es Regierungsverantwortung und spielt besonders in Ostdeutschland eine wachsende Rolle. Gleichzeitig werden SPD, Grüne und FDP dort zunehmend marginalisiert – Letztere sind mancherorts gar nicht mehr in Landesparlamenten vertreten

...und institutionelle Experimente

Neben neuen Parteien entstehen auch neue Beteiligungsformen, um der zunehmenden Polarisierung und dem Gefühl politischer Entfremdung entgegenzuwirken. Bürger*innenräte finden dabei wachsende Beachtung. Ihr Ziel ist es, mehr Partizipation zu ermöglichen und Repräsentationsdefizite zu verringern (vgl. Müller 2025, S. 7).

Allerdings gibt es Herausforderungen: Bürger*innenräte leiden unter einem Legitimitätsdefizit, da sie nicht gewählt, sondern aus einem repräsentativen Querschnitt berufen werden (vgl. Müller 2025, S. 7). Die angestrebte Repräsentativität wird damit teuer erkauft. Zudem fällt es den Ratsmitgliedern oft schwer, verbindliche Forderungen zu formulieren – sei es aus Unsicherheit oder wegen ihres lediglich beratenden Charakters. Die Politik kann sich dadurch relativ leicht über ihre Empfehlungen hinwegsetzen (vgl. Müller 2025, S. 7f.)

Literaturverzeichnis 

  • Jun, Uwe (2025): Das Parteiensystem zwischen Fragmentierung und Polarisierung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Parteiendemokratie, Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung 75 (27-28), S. 10 – 17.
  • Koß, Michael (2025): Abschied von den Allerweltsparteien? In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Parteiendemokratie, Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung 75 (27-28), S. 26 – 31.
  • Müller, Jan-Werner (2025): Ende der Parteiendemokratie? In: Aus Politik und Zeitgeschichte. Parteiendemokratie, Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung 75 (27-28), S. 4 – 9.