Dienstag, 18. Dezember 2018

Rezension zu Victor Klemperer: LTI

Klemperer, Victor (u.a. 2018), LTI. Notizbuch eines Philologen, Reclam.

Rezension

Autor: Michael Wottschel

Victor Klemperer, 1881 in Landsberg an der Warthe (Polen) geboren, war deutscher Philologe und Romanist. Bis 1935 war er als Professor an der Technischen Hochschule Dresden tätig, ehe er aufgrund seiner jüdischen Herkunft im Rahmen des Reichsbürgergesetzes aus dem Amt entlassen wurde. Dieses Gesetz schränkte die Rechte der jüdischen Bevölkerung stark ein und nahm Klemperer somit die Möglichkeit, wissenschaftlich tätig zu sein. Durch seine Frau, welche im Rahmen des Gesetzes als „arisch“ galt, gelangte Klemperer dennoch an Dokumente und Bücher, die er analysieren konnte. Sein Interesse lag hierbei hauptsächlich auf den Besonderheiten der nationalsozialistischen Sprache.

Im Jahr 1947 veröffentlichte er dann seine Abhandlung „LTI – Notizbuch eines Philologen“, die seine Ergebnisse in 36 Kapiteln zusammenfasst. Der Titel LTI ist die Abkürzung von „Lingua Tertii Imperii“ und bedeutet übersetzt „Sprache des Dritten Reiches“. Hierbei handelt sich nicht um ein reines Sachbuch mit wissenschaftlichen Sprachanalysen. Vielmehr sind auch typische Elemente eines Tagebuchs zu finden. So wird neben der Analyse der Begriffe auch geschildert, in welchem Zusammenhang diese im Leben des Autors vorkamen.

Das Buch bietet somit einen direkten Einblick in die Lebensrealität eines jüdischen Bürgers während der Machtperiode Hitlers und zeigt die damit einhergehenden Konsequenzen auf. Klemperer erzählt beispielsweise von seiner Untersuchung und Schikanierung durch die Gestapo. Auch beschrieb er Interaktionen mit anderen Menschen, die nicht Teil des Staatsapparates waren, wodurch deutlich wird, wie das Verhältnis des Volkes zur NSDAP war. So stelle sich heraus, dass nur ein bestimmter Teil ihrer Wähler überzeugte Nationalsozialisten waren.

In einem Gespräch mit einem Studenten, der Klemperer sehr nahestand, seien folgende Aussagen des Studenten gefallen: „Sie wollen doch nichts anderes als die Sozialisten“ und „Du nimmst das viel zu ernst […] Der Judenrummel dient nur Propagandazwecken. Du wirst sehen, wenn Hitler erst am Ruder ist, dann hat er anderes zu tun, als die Juden zu schimpfen“.

Die Machtergreifung scheint auch einer falschen Einschätzung der NSDAP durch das Volk geschuldet zu sein. Das erste Wort, welches Klemperer als konkret nazistisch empfunden hatte und als erstes in die LTI aufnahm, stammt ebenfalls von besagtem Studenten. Und zwar habe dieser eine „Strafexpedition“ für vermeintliche Kommunisten veranstaltet. Mit diesem Ereignis brach der Kontakt zu dem Studenten ab, und das Wort „Strafexpedition“ war das erste Wort, das Klemperer als konkret nazistisch wahrgenommen hatte.

Ob ein Wort als nazistisch eingestuft werden kann, hängt laut Klemperer nicht von dem Wort an sich ab, sondern von der durch die Nationalsozialisten implizierten Konnotation: „Denn ein Wort oder eine bestimmte Wortfärbung oder -wertung gewinnen erst da innerhalb einer Sprache Leben, sind sie erst da wirklich existent, wo sie in den Sprachgebrauch einer Gruppe oder Allgemeinheit eingehen und sich eine Zeitlang darin behaupten“.

Die Entscheidung, eine Abkürzung als Titel seines Werkes zu verwenden, ist bereits eine sprachliche Besonderheit, denn Abkürzungen waren ein wichtiges Merkmal der NS-Sprache. So sei zum Beispiel der Begriff „Knif“, welcher für die Aussage „kommt nicht in Frage“ steht, gängig gewesen. Die Verwendung von Abkürzungen entstammt, wie viele der von den Nationalsozialisten verwendeten Begriffe, dem Bereich der Technik. Diese Entlehnung technischer Begriffe hatte zum Ziel, Kompetenz und Rationalität auszustrahlen, Vorgänge zu mechanisieren und den Feind zu entmenschlichen.

So wurde aus der totalen Machtübernahme aller politischen Bereiche die aus der Elektrotechnik stammende „Gleichschaltung“, und statt von einem Massenmord wurde von „Säubern“ sowie der „Endlösung der Judenfrage“ gesprochen. Im Gegenzug wurden die wissenschaftlichen Disziplinen jedoch auch zensiert. Die Maßeinheit für die Frequenz „Hertz“ musste aufgrund ihres jüdischen Namensgebers ersetzt werden. Theorien von jüdischen Wissenschaftlern wie Albert Einstein durften nicht länger gelehrt werden. Durch die Verwendung vieler Fachbegriffe seien zudem viele Anglizismen und andere „undeutsche“ Wörter in der LTI vertreten.

Ebenfalls aus dem Amerikanischen übernommen sei „Der Fluch des Superlativs“. Dabei handelt es sich um den häufigen Gebrauch hoher Zahlen und Wörter wie „total“, um Dinge, wie zum Beispiel die militärische Stärke, größer und mächtiger wirken zu lassen. Der Unterschied zum Amerikanischen liege im mangelnden Wahrheitsgehalt der genannten Zahlen. Während Siege mit derartigen Übertreibungen künstlich glorifiziert wurden, wurden Niederlagen relativiert. So wurde nie von einer Niederlage sondern stehts von „Rückschlägen“ gesprochen. Begriffe wie „Niederlage“ oder „Rückzug“ wurden konsequent gemieden.

Die LTI sei außerdem geprägt von einer sprachlichen Armut. Bestimmte Begriffe wurden überproportional verwendet. Diese ständige Wiederholung sorgte für eine starke Verinnerlichung der Konzepte, die die Nationalsozialisten vermitteln wollten. Wörter wie „heroisch“ und „kämpferisch“ wurden stark mit nationalsozialistischen ideologischen Elementen verknüpft und oft in positiven Kontexten verwendet.

Auch bekamen Wörter eine ganz neue Konnotation. Das Wort „fanatisch“, welches vor der NS-Zeit negativ konnotiert war, gelangte während Hitlers Machtperiode zu einer positiven Konnotation. Dass das Wort nach der Niederlage wieder seine ursprüngliche Konnotation annahm, sei ein Indiz dafür, dass Sprachmuster unmittelbar mit Ideologie verknüpft sind. Der Begriff „System“ wurde in der LTI ausschließlich für die Weimarer Republik verwendet und besaß daher während dem Nationalsozialismus eine durchweg negative Konnotation.

In der geschriebenen Form der LTI wurde sehr oft das Stilmittel der ironischen Anführungszeichen verwendet, um oppositionelles Gedankengut zu verspotten. Mit dem Prozess des Gleichschaltens wurde die LTI in alle Bereiche des öffentlichen Lebens gebracht und wurde zur Volkssprache. So wurden die individuellen Sprachmuster verschiedener Gesellschaftsbereiche durch die einheitliche LTI ausgetauscht. Dies hatte eine Verbreitung der nationalsozialistischen Ideologie durch die Sprache zum Ziel, was laut Klemperer auch erheblich zur Indoktrination beitrug.

Die Bedeutung der Sprache bei der Vermittlung von Inhalten wird des Öfteren vom Autor betont. Diese kann nämlich auf mehrere Arten vermitteln. So unterscheidet Klemperer die inhaltliche Vermittlung des Gesagten von dem durch den Wortlaut implizierten Inhalt. Die beiden Inhalte können sich sogar widersprechen.
„Was jemand willentlich verbergen will […]: die Sprache bringt es an den Tag.“.
Im Zusammenhang mit der indoktrinativen Natur der LTI erwähnt Klemperer einen eigentlich gutmütigen Bekannten, der durch seine Karriere bei der Reichswehr all jene Charaktereigenschaften entwickelte, die die LTI ausprägen sollte. So wurde seine Individualität durch ein kollektivistisches Volksdenken ersetzt. Durch die LTI wurde die Bedeutungslosigkeit des Individuums suggeriert, da das Volk an oberster Stelle zu stehen hatte. Die Gleichschaltung der Sprache führte somit auch zur Gleichschaltung der Denkweise ihrer Nutzer.

Neben der indoktrinativen Natur der Sprache geht Klemperer auch auf die Wirkung von Symboliken ein. Der Davidstern, den "Juden" ab dem 19. September 1941 offen auf der Kleidung tragen mussten, war in vielerlei Hinsicht mit subtilen Symboliken versetzt. So sei die gewählte Farbe des Sterns eine Farbe, die „heute noch Pest und Quarantäne bedeutet und bereits im Mittelalter die Kennfarbe der Juden war, die Farbe des Neides und der ins Blut getretenen Galle, die Farbe des „zu vermeidenden Bösen“. Selbst der Aufschrieb „Jude“ ähnelt in seiner Schrift dem Hebräischen, was die Fremdartigkeit des Jüdischen verstärken sollte.

Ausdrücke wie „zackig“ oder „auf Zack sein“ standen in Verbindung mit der Swastika oder den Runen. Die Verwendung von Runen sollte eine Verbindung zum „Urdeutschen“ herstellen. Die Symboliken sollten eine ähnliche Assoziationsstärke auslösen, wie es das christliche Kreuz oder der Davidstern taten und diese ideologisch ersetzen. So war es auch allen SA-Offizieren nicht gestattet, Mitglieder in der Kirche zu sein. Der Nationalsozialismus beanspruchte somit für sich selbst einen religiösen Status. Der religiöse Charakter und die daraus folgende Glorifizierung von Märtyrern hatte den Sinn, die Aufopferungsbereitschaft und den „Kampfgeist“ der Soldaten zu stärken. Hitler nahm dabei gewissermaßen die Rolle eines religiösen Oberhaupts ein. Auch benutzte die LTI religiöses Vokabular:
„Der Nazismus wurde von Millionen als Evangelium hingenommen, weil er sich der Sprache des Evangeliums bediente.“
Man sprach neben „dem Volk“ auch oft von „der Gefolgschaft“. Dass Hitlers Reden, trotz ihrer aufgehetzten und unmelodischen Natur, gut beim Volk ankamen, sieht Klemperer dem Umstand geschuldet, dass sie „dem vom ersten Weltkrieg geschwächten und seelisch zerrütteten deutschen Volkskörper“ in ihrer Wut und Verzweiflung gleichen und damit Repräsentationspunkte bieten würden. Als Beweggründe für den Krieg wird seitens Hitlers die Selbstverteidigung angegeben. Krieg würde man nicht gegen Länder führen, sondern allgemein gegen die Juden. Dies wird in der LTI als „Der Jüdische Krieg“ bezeichnet.

Auch der Sport spielte eine wichtige Rolle in der LTI. Da Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg der Wehrdienst innerhalb der Bevölkerung nicht gestattet war, tarnte man die Militarisierung unter dem Deckmantel der „körperlichen Ertüchtigung“. So wurden während des Krieges auch Begriffe, die aus dem Sport kamen, für kriegerische Aktionen verwendet, so beispielsweise der Ausdruck „auf Sieg kämpfen“.

Selbst auf die Namensgebung von Neugeborenen hatte die LTI ihren Einfluss. So wurden Namen aus dem Alten Testament wie beispielsweise Sara und Lea beim Standesamt für als „arisch“ geltende Kinder verboten. Diese sollten vorzugsweise germanische beziehungsweise nordische Namen wie Dieter, Detlef, Magrit oder Ingrid tragen. Jüdischen Bürgern hingegen wurden die zusätzlichen Namen Sara beziehungsweise Israel aufgezwungen.

Ortsnamen wurden ebenfalls „angedeutscht“, denn aus historischen Gründen gab es viele ursprünglich slawische Orte auf dem Gebiet des deutschen Reiches. Das Wort „Europa“ wurde nur im geographischen Sinne verwendet, da von der Wehrmacht erobertes Land als Deutsches Reich bezeichnet wurde. Der Begriff „Festung Europa“ wurde verwendet, um das „Europa“ der Nationalsozialisten von der Sowjetunion und dem Vereinigten Königreich abzugrenzen.

Die Lektüre des Buches verlangt einiges an Wissen über die französische Literatur von dem Leser, da Klemperer des Öfteren auf diese anspielt. Neben dem sprachwissenschaftlichen Aspekt, welcher das Buch zu einem der wichtigsten Werke der Sprachanalyse des NS-Regimes macht, bietet der dokumentarische Aspekt einen zusätzlichen Anreiz zur Lektüre. Die zunehmende Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung wird aus erster Hand wiedergegeben und bietet einen umfassenden Einblick in die Lebensrealität während der NS-Zeit.

Die Bedeutung des Werkes wird an der konstanten Relevanz und Aktualität seit seinem Erscheinen 1947 deutlich. So lassen sich anhand des Buches Parallelen zwischen der Rhetorik des Nationalsozialismus und der moderner Populisten analysieren und aufzeigen. Daher ist Victor Klemperers Abhandlung „LTI – Notizbuch eines Philologen“ auch heute noch unersetzlich.

Informationen zu Victor Klemperer: https://de.wikipedia.org/wiki/Victor_Klemperer (abgerufen am 17.12.2018)

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